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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 545 / 18.12.2009

Kollektives Versagen

Egon Krenz, der 9. November 1989 und das Erbe der DDR

Egon Krenz (72) ist wieder da. Gerade ist eine neue Auflage seiner Erinnerungen an den "Herbst 89" erschienen. (1) Doch nicht nur das: Honeckers Nachfolger schreckt auch vor öffentlichen Auftritten nicht zurück. Das allein reicht, um den Klassenfeind zum Schäumen zu bringen: Dieser Mann trauert immer noch der DDR nach und wird dafür auch noch gefeiert! Pfui! Was auf den ersten Blick eher komisch wirkt, hat auch eine ernste Seite: Es geht um historische Wahrheiten und politische Lehren, die aus dem Ende des Realsozialismus zu ziehen sind. Erkenntnisvermittlung durch Egon Krenz? Theoretisch wäre das nicht auszuschließen, praktisch liegen die Dinge doch etwas anders.

Dem Reporter von Springers Welt war die Empörung deutlich anzumerken: "Marschmusik zur Erbsensuppe, donnernder Applaus für Egon Krenz, vertrauliches Schulterklopfen, Verleihung von Ehrenzeichen an die ,lieben Freunde und Genossen` - die gealterten Ex-DDR-Grenzsoldaten blieben sich bei ihrem Herbsttreffen im brandenburgischen Petershagen bei Berlin am Sonnabend treu. Und wie ihr einstiger SED-Generalsekretär Egon Krenz in einer knapp zweistündigen Rede mit den ,Herrschenden in der Bundesrepublik` 20 Jahre nach dem Mauerfall abrechnete, sprach vielen offensichtlich aus der Seele." (welt online, 24.10.09) Eine sachliche Darstellung, verglichen mit dem, was Bild zwei Tage später unter der Überschrift "Die Krenz-Schande" zusammenrührte. Der Berliner Kurier am Sonntag stellte dem Ereignis die komplette Titelseite zur Verfügung: "Egon Krenz: DDR-Grenzer sind die wahren Wende-Helden!"

Honeckers Starrsinn, Schabowskis "Schussligkeit"

Das ist - wenn auch in geraffter Form - eine der Kernaussagen der Rede, die Egon Krenz am 24. Oktober auf dem 24. Grenzertreffen in Petershagen bei Berlin gehalten hat. Ihr offizieller Titel lautet: "Die Öffnung der Staatsgrenze der DDR am 9. November 1989 - ein Ereignis von historischer Tragweite und widersprüchlichem Charakter." Der Text ist dokumentiert auf insgesamt sechs Seiten der Berliner Tageszeitung junge Welt (jW) vom 7./8., 9. und 10.11.09. Dass Krenz weiß, wovon er spricht, ist unbestritten. Jahrelang der "zweite Mann" der SED hinter Erich Honecker, wurde er nach dessen nicht ganz freiwilligem Rücktritt am 18.10.1989 Generalsekretär des ZK der SED und einige Tage später auch Staatsratsvorsitzender der DDR. Damit war er bis zum 3.12.89, als er - wie das gesamte Politbüro - wieder zurücktrat, der wichtigste Verantwortungsträger in Staat und Partei.

Heute betreibt Egon Krenz vorrangig Vergangenheitspolitik. Angesichts des Überangebotes an staatstragendem Geschwätz bis hin zu dreister Geschichtsfälschung über den "Mauerfall" ist das legitim und in Teilen sogar verdienstvoll. So weist er u.a. die erst kürzlich von Bundespräsident Köhler wieder aufgewärmte Lüge zurück, die gewaltlose Kapitulation der DDR sei allein der Sowjetführung zu verdanken, die den von der deutschen Bruderpartei gewünschten Einsatz sowjetischer Truppen verweigert habe. Wenig bis gar nichts hat Krenz zu bieten, was die aus dem Scheitern des Realsozialismus zu ziehenden Lehren angeht. Das zeigt seine Petershagener Rede, die im folgenden genauer untersucht werden soll.

Zu Recht wendet Krenz sich gegen das, was der Historiker Wolfgang Wippermann, u.a. im Interview in ak 541, "Dämonisierung durch Vergleich" genannt hat: Der Vergleich der "zwei deutschen Diktaturen" oder "Totalitarismen" führt zwangsläufig zur Relativierung des NS-Regimes und zur Dämonisierung der DDR. Im Unterschied zu Wippermann, der die DDR als Diktatur bezeichnet, bleibt Krenz bei deren Kennzeichnung vage. Sein Anliegen ist seltsam defensiv: "Die Biographien jener, die die DDR aufgebaut und gestärkt haben, dürfen nicht durch den Schmutz gezogen werden. Soll Deutschland wirklich geeinigt werden, dann muss auch die Diskriminierung der Grenztruppen aufhören. Sie waren es, die dafür gesorgt haben, dass am 9. November 1989 Sekt fließen konnte und kein Blut floss."

Was für die Lebensleistung der DDR-BürgerInnen gelten soll, fordert Krenz auch für die Biographie des Arbeiter-und-Bauern-Staates. Glaubt man ihm, dann hat im Ost-West-Konflikt die östliche Seite stets die Linie "versöhnen statt spalten" vertreten. Die Spalter saßen allein im Westen, sie verwarfen 1952 die letzte Möglichkeit, eine "einheitliche deutsche Republik ohne Militärbündnisse zu schaffen", als sie die Stalin-Note mit dem Angebot eines geeinten, neutralen Deutschland zurückwiesen. So nahm das Unheil seinen Lauf: "Ohne den von Deutschland ausgelösten Krieg hätte es keine Flüchtlingstrecks (...) gegeben, keine Besatzung durch fremde Truppen und keine Teilung in Zonen, folglich auch keine zwei deutschen Staaten und keine Grenze quer durch Deutschland und Berlin, eben auch keine Mauer." Die Mauer als unabwendbare Folge des Krieges? Wo Verantwortung zu übernehmen wäre für von Menschen getroffene Entscheidungen, sind im Krenz'schen Weltbild Automatismen am Werk.

Das galt Krenz zufolge nicht nur 1961 sondern auch danach: "Ohne das Beharren der alten Bundesrepublik auf ihrem Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen hätte die Reisefreiheit auch früher gewährt werden können", findet Krenz. Ein kryptischer Satz, den der Redner nicht der Erläuterung für nötig hält. Ob mit oder ohne westdeutschen Alleinvertretungsanspruch - offene Grenzen bargen für die DDR in jedem Fall das Risiko massenhafter Abwanderung in das Land, das mit seinem Angebot an Konsumgütern und individuellen Freiheiten große Anziehungskraft auf die DDR-BürgerInnen ausübte.

Bei der Öffnung der Westgrenze ging dann Krenz zufolge zunächst alles seinen sozialistischen Gang: "Die Entscheidung zum Reiseverkehr war lange herangereift." So kann man es auch sagen. Dass die Führung auch hier zu spät kam, räumt Krenz implizit ein: "Am 6. November wurde der Entwurf des neuen Reisegesetzes veröffentlicht. Noch vor Monaten (!) wäre es begrüßt worden. Jetzt hielten sich Ablehnung und Zustimmung die Waage. Die Bürger wollten nicht mehr fragen, ob sie reisen dürfen. Sie wollten das ungehinderte Reiserecht. Die Bundesregierung wusste das. Sie setzte die DDR unter Druck." Ob es dieser Druck war, der nur drei Tage später die Revision der gerade beschlossenen Regelung bewirkte, lässt Krenz offen. Eine neue Verordnung wurde vom Politbüro, der Regierung und dem ZK gebilligt. "Die Reiseverordnung besagte, dass alle Bürger ab dem 10. November 1989 frei reisen können."

Auslassungen ergeben ein geschöntes Bild der DDR

Das war am 9. November kurz nach 17 Uhr. Es folgten Schabowskis berühmte Pressekonferenz mit seiner falschen Behauptung, Reisefreiheit werde "ab sofort, unverzüglich" gewährt, die Verkündung der "Weltnachricht" (Krenz) in den Medien, der massenhafte Ansturm von DDR-BürgerInnen auf die Grenzübergänge. Krenz hat recht mit seiner Einschätzung, dass Schabowskis "Schussligkeit" eine Katastrophe hätte auslösen können. Er hat auch recht mit seinem Lob der Grenzsoldaten, die in einer unübersichtlichen Situation, auf die sie in keiner Weise vorbereitet waren, kühlen Kopf bewahrten. Dieser Sieg der Vernunft und der guten Nerven war aus Sicht von Krenz auch ein Sieg der DDR: "Die Grenzer waren im humanistischen Sinne ausgebildet und erzogen und bewiesen dies in ihren Handlungen."

Wer sich an eigene Erlebnisse mit DDR-Grenzern erinnert, hat von deren "Humanismus" möglicherweise eine etwas andere Meinung. Wie auch immer. Die Umstände der Grenzöffnung sind bezeichnend für das Agieren der DDR-Führung in der sich seit Monaten zuspitzenden Staatskrise - eine Mischung aus Weltfremdheit, Panik und Dilettantismus. Die nach monatelangem Abwarten praktizierte Hektik führte dazu, dass der 9. November - der Jahrestag der Revolution von 1918 und der Pogromnacht von 1938 - im Alltagsbewusstsein heute fast ausschließlich als Tag der Maueröffnung erinnert wird. Das ist nicht allein Schabowski anzulasten, vielmehr trägt die DDR-Führung hierfür kollektiv die Verantwortung.

Was war gut an der DDR, wie Egon Krenz sie sieht? Erstens der "verordnete Antifaschismus", der allemal besser gewesen sei als der "geduldete Neonazismus in der Bundesrepublik alt wie neu". Wohl wahr. Zweitens die Tatsache, dass erst ihr Verschwinden Deutschland wieder das Kriegführen ermöglichte: "Solange die DDR existierte, wäre es undenkbar gewesen, dass die Bundesrepublik Kriege wie die in Jugoslawien oder Afghanistan geführt hätte." Viel mehr fällt Krenz nicht ein. Fehler wolle er "keineswegs verharmlosen". Bei ihrer Benennung bleibt er allerdings vage. Das Politbüro habe in der "komplizierten Situation" des Jahres 1989 "kollektiv versagt". An der Spitze des Politbüros stand seit 1971 Erich Honecker. Sein bedeutendster Beitrag zur Zuspitzung der Lage vor der "Wende" datiert vom 19.1.1989. An diesem Tag sagte er in einer Rede zum 500. Geburtstag von Thomas Müntzer: "Die Mauer wird so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind."

Im Westen folgte, was Krenz eine "Hetzkampagne gegen die DDR" nennt. Nichts Neues also. Anders als gewohnt fiel die Reaktion der DDR-BürgerInnen aus. Krenz: "Wir haben damals nicht bedacht, dass Honeckers Worte von den 50 bis 100 Jahren auch eine innenpolitische Wirkung hatten. Die DDR hatte inzwischen auch ein Generationsproblem. Unter jungen Leuten gab es heftige Kritik an der Äußerung Erich Honeckers. Warum, so sagten viele, kann ein Mann mit 77 Jahren den Jungen vorschreiben, was in 50 oder 100 Jahren sein wird? Während unter dem ,Dach der Kirche` Fragen, die die Leute bewegten, diskutiert wurden, blieben wir in unserer politischen Arbeit allgemein und gingen auf die Fragen, die die Menschen tatsächlich hatten, nicht genügend ein. Es entstand der Eindruck, die DDR-Führung wisse nicht, wie die Lage ist. Das wurde noch begünstigt durch die Zeit der Sprachlosigkeit."

Die realsozialistische Glaubensgemeinschaft jubelt

Was sich selbstkritisch anhört, ist de facto ein Offenbarungseid. Solange die Diskussionen "unter dem Dach der Kirche" nicht aus dem Ruder liefen, sah die Führung keinen Handlungsbedarf. Das Angebot zum "Dialog mit allen Bürgern" kam erst, als es zu spät war. Krenz erwähnt einen entsprechenden Politbürobeschluss vom 11.10.89, zwei Tage nach der Leipziger Demonstration der 70.000 mit dem neuen Slogan "Wir sind das Volk!". Als deutlich wurde, dass Honecker die "neue Linie" hintertrieb, musste er gehen. Seine Ersetzung durch Krenz mag als strategischer Rückzug gedacht gewesen sein - nach außen erschien sie als Signal für ein "Weiter so!".

Der falsche Mann am falschen Ort gewesen zu sei - zu diesem Eingeständnis ist Egon Krenz auch 20 Jahre danach nicht bereit. Das ist menschlich verständlich. Dass er heute noch meint, ausgerechnet er selbst hätte zu einer "Erneuerung des Sozialismus" in einer reformierten DDR etwas beitragen können, ist dagegen ein starkes Stück. Wendet man seine Selbstkritik ins Positive, dann ergibt sich ein allzu ärmliches "Reformprogramm", das letztlich auf ein Angebot zum "Dialog" der Regierenden mit der Opposition hinausläuft. Deren weitergehende Forderungen erwähnt er nicht - noch bei seinem Antrittsbesuch in Moskau, am 31.10. und 1.11.89, hatte er sich gegen Parteienvielfalt ausgesprochen und die führende Rolle der SED zur Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Sozialismus in der DDR erklärt. Die vielleicht folgenreichste Deformation dieses "Sozialismus", der staatliche Spitzel- und Repressionsapparat, kommt in seiner durch Auslassungen geprägten Selbstkritik nicht vor. Statt seine ZuhörerInnen damit zu belasten, fordert er sie auf, sich nicht alles gefallen zu lassen, und ruft ihnen zu: "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!" Diese Zweckentfremdung einer antiautoritären Parole durch einen Repräsentanten des autoritären Staatssozialismus ist mehr als peinlich: eine Verhöhnung derjenigen, die sich schon zu DDR-Zeiten gegen staatliche Willkür wehrten.

Egon Krenz hat eine Rede gehalten und damit ein paar Hundert DDR-VeteranInnen aus der Seele gesprochen. Die Dokumentation des Textes in der jungen Welt hätte der Aufklärung dienen können - wenn die Redaktion eine kontroverse Debatte darüber organisiert hätte. Indem sie darauf verzichtete, behielt Egon Krenz das letzte Wort - wenn man von einigen kurzen LeserInnenbriefen absieht. Deren VerfasserInnen, das ist keine wirkliche Überraschung, äußern sich überwiegend positiv, teils überschwänglich. Maria Kohen aus Wien schreibt: "Diese Rede wäre es wert, im In- und Ausland im Abendprogramm verlesen, in sämtlichen Tageszeitungen gedruckt und in allen Geschichtsbüchern veröffentlicht zu werden. Wir brauchen mehr Menschen, die den Mut haben, sich der herkömmlichen Geschichtsschreibung entgegen zu stellen!" In Wahrheit formuliert Krenz nur scheinbar die radikale Gegenposition zur "herkömmlichen", von den SiegerInnen diktierten Geschichtsschreibung. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass er es diesen SiegerInnen allzu leicht macht. Mit Halbwahrheiten, Auslassungen und Schönfärberei kann man die herrschende Doktrin nicht erschüttern. Damit lässt sich allenfalls die realsozialistische Glaubensgemeinschaft in Begeisterung versetzen.

Js.

Anmerkung:

1) Egon Krenz: Herbst '89. edition Ost, Berlin 2009, 480 Seiten, 14,90 EUR. Siehe Kurzrezension auf Seite 35