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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 545 / 18.12.2009

Aufgeblättert

Deportiert aus Norwegen

Der schwedische Philosoph Espen Søbye liefert darin anhand der Biographie von Kathe Lasnik, die 1942 mit 15 Jahren als Jüdin mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde, ein genaues Bild der Zusammenarbeit norwegischer Behörden mit den Nazis. Hohe Beamte aus Polizei und Verwaltung, die mit der deutschen Besatzung kollaborierten, beriefen sich nach 1945 darauf, sie hätten nur das Staatswohl im Auge gehabt; in der Regel kamen sie nicht nur ungestraft davon, sondern konnten sogar weiter Karriere machen. Søbye, der beim Statistischen Zentralamt in Oslo arbeitete, fand zunächst nur eine leere Mappe vor, als er nach dem Schicksal von Kathe Lasnik zu recherchieren begann. Ihr Name befand sich auf dem Mahnmal für die 620 während der deutschen Besatzung ermordeten Juden Oslos. Das war der einzige Hinweis auf ihr Leben. In mühseliger Recherche rekonstruierte Søbye das Leben ihrer Eltern, die 1908 aus den baltischen Staaten nach Norwegen eingereist waren. Detailliert zeigt er, wie die Familie schon Ende der 1920er Jahre mit dem aufkommenden Antisemitismus in der norwegischen Gesellschaft konfrontiert wurde. Aus diesen Kreisen rekrutierten sich die Rechtskräfte, die sich früh für ein Bündnis mit Nazideutschland aussprachen. Unter der von dem norwegischen Offizier Vidkum Quisling gebildeten Kollaborationsregierung hatten sie bald freie Hand. Die norwegischen Jüdinnen und Juden gehörten zu ihren Opfern. "Die 15-jährige Kathe Lasnik hatte weder Zeit noch Gelegenheit, wie Anne Frank ihre Gedanken und Gefühle angesichts der drohenden Vernichtung aufzuschreiben. Von ihrer Verhaftung am 26. November 1942 in Oslo bis zu ihrem Tod in Auschwitz blieben ihr nur fünf Tage", schreibt Jochen Reinert im Nachwort.

Peter Nowak

Espen Søbye: Kathe. Deportiert aus Norwegen. Aus dem Norwegischen von Uwe Englert. Assoziation A, Berlin und Hamburg 2009. 192 Seiten, 18 EUR

Rassistische Spielfilme

In seinem Buch "Die unheimliche Maschine" versucht Tobias Nagl den rassistischen Gehalt des Unterhaltungskinos der Weimarer Republik nachzuweisen, die Tradition des deutschen kolonialen Propagandafilms, das Leben schwarzer Schauspieler in der Weimarer Republik und die filmischen antikolonialen Politikansätze der Komintern darzustellen - viel Stoff für ein Buch. Die Eröffnung des Buches durch einen rassistischen Skandalfilm der Weimarer Republik, Joe Mays "Die Herrin der Welt", und die Proteste gegen diesen sind programmatisch. Durch die Darstellung der zeitgenössischen Auseinandersetzungen und die Einbeziehung der Perspektiven schwarzer Schauspieler auf ihren Einsatz zur Herstellung kolonialer Imaginationen zeichnet Nagl ein vielschichtiges Bild des Überlebens des deutschen Kolonialismus nach dem Verlust der Kolonien am Ende des Ersten Weltkriegs. Zudem macht eine Einleitung, die eine der besten deutschsprachigen Einführungen in Fragen von Repräsentation und Postkolonialität bietet, "Die unheimliche Maschine" zu einem Referenzpunkt für Fragen rassistischer Darstellungen im deutschen Film.

Fabian Tietke

Tobias Nagl: Die unheimliche Maschine - Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino. Edition text+kritik, München 2009. 827 Seiten, 49,90 EUR.

Neoliberale EU

In der Linken ist die EU unbeliebt. Nicht nur als politisches Projekt, sondern auch als Gegenstand theoretischer Analyse. Umso erfreulicher sind zwei neue Publikationen. Anne Karrass hat sich zur Aufgabe gemacht, die Entstehung der EU als neoliberales Gebilde nachzuzeichnen. Dabei geht es ihr vor allem um die Rolle des Staates. Das Besondere ihres Buches "Die EU und der Rückzug des Staates" ist, dass sie anhand einer empirischen Analyse offizieller EU-Dokumente zeigt, wie sich seit 1957 ein neoliberales Selbstverständnis durchsetzt. Karrass weist nach, wie von Seiten der EU die Möglichkeit staatlicher Interventionen mehr und mehr zugunsten der Logik der Märkte reduziert wurde. Die Veränderung nationalstaatlicher Politik der letzten Jahrzehnte, das zeigt das Buch nachdrücklich, kann ohne die Einbeziehung der EU nicht verstanden werden. Karrass ist es jedoch nicht möglich zu zeigen, warum die europäische Integration die zentrale Form war, in der sich der Neoliberalismus in Europa Bahnen brach. Anders Anja Baisch in ihrem Buch "Soziale Kämpfe in der EU". Anhand der Wirtschafts- und Sozialpolitik zeigt sie mit einem an Gramsci angelehnten materialistischen Ansatz, wie die europäische Integration als Durchsetzung neoliberaler Hegemonie entschlüsselt werden kann. Im Gegensatz zu anderen theoretischen Ansätzen sei es so möglich, die EU als umkämpftes Projekt zu analysieren, als Projekt, das zugleich ein Terrain von Klassenauseinandersetzungen darstellt. Im Rahmen der europäischen Integration ist es der herrschenden Klasse gelungen, ihre Interessen nicht einfach gegen die Lohnabhängigen durchzusetzen, sondern im Namen des Allgemeinwohls zu verallgemeinern. Eine neoliberal verfasste EU scheint für alle das Beste. Leider kann Baisch nicht ganz wettmachen, was bei Karrass fehlt: die politischen Akteure und Klassenkräfte. Diese sind zwar in ihrem theoretischen Rahmen angedacht, tauchen aber in ihrer Analyse nur insofern auf, als dass bestimmte politische Projekte die Klassen unterschiedlich treffen. Hinweise darauf, warum die EU und ihre Politik Resultat von Kräfteverhältnissen sind, bleiben rar.

Ingo Stützle

Anne Karrass: Die EU und der Rückzug des Staates. Eine Genealogie der Neoliberalisierung der europäischen Integration. Transcript, Bielefeld 2009. 276 Seiten, 28,80 EUR

Anja Baisch: Soziale Kämpfe in der EU. Neogramscianismus und eine Kritik der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. PapyRossa, Köln 2009. 111 Seiten, 12 EUR

Egon Krenz erinnert sich

Als "Neuauflage des Klassikers von 1999" bewirbt die edition ost Egon Krenz' Erinnerungen an den Herbst 1989. Auf zwei Vorworte und einen zusammenfassenden Text über die Zeit zwischen Anfang Juli und Anfang Oktober folgt als Kernstück ein Tagebuch, das am 8. Oktober beginnt und am 6. Dezember endet. Auch wenn der Gang der Ereignisse bekannt ist - dieser Teil ist der spannendste. Krenz biete "Fakten, wo andere Mythen und Legenden liefern", schreibt der Verlag. Dass der Autor sich durchgängig als selbstlosen und grundehrlichen Genossen verkauft, dem es immer nur um die Sache gegangen sei, kann nicht überraschen - insofern ist, wie bei Lebenserinnerungen von PolitikerInnen generell, kritische Lektüre angebracht. Krenz bietet interessante Einblicke in die Funktionsweise des Inner Circle der SED und die Kommunikation der überwiegend alten Männer, deren Verdienste in der Vergangenheit lagen. Deutlich wird, dass sie alle - auch der damals 52-jährige Krenz - die Zeichen der Zeit viel zu spät erkannten. Das Eingeständnis, dass hierfür weniger persönliche Defizite (Honeckers Altersstarrsinn, Mielkes Beschränktheit etc.) als strukturelle Deformationen des "realen Sozialismus" verantwortlich waren, sucht man bei Egon Krenz allerdings vergebens.

Js.

Egon Krenz: Herbst `89. edition ost, Berlin 2009. 479 Seiten, 14,90 EUR