Neoliberalismus und Rekolonialisierung
Agrarkrise, Hunger und Armut in Indien - Buchvorstellung
Mit dem Paradigmenwechsel zum Neoliberalismus ist auch in Indien die Agrarfrage und die Bauernbewegung in der Forschung kaum noch wahrgenommen worden. Der Schwerpunkt der ökonomischen Forschung liegt heute vielmehr auf den Finanz- und Dienstleistungssektoren. Utsa Patnaik, Professorin für Ökonomie an der Jawaharlal-Nehru-Universität in New Delhi, hat dagegen zahlreiche Artikel und Bücher auf marxistischer Grundlage zur Entwicklung der indischen Landwirtschaft geschrieben. Ihr neuestes, jetzt ins Deutsche übersetzte Buch heißt "Unbequeme Wahrheiten. Hunger und Armut in Indien".
Ein auf den ersten Blick erstaunlicher Titel, denken viele doch bei Indien, wenn schon nicht an den "Tiger von Eschnapur", so doch an das Taj Mahal, den "Palast der Winde", einen realitätsfernen Film wie "Slumdog Millionaire" oder an Software-Firmen in Bangalore. Abgesehen vom exotischen Reiz hat Indien auch auf ökonomischem Gebiet nichts von seiner Faszination verloren. Der Tagesspiegel vom 16.10.09 kennt die "gigantischen Ausmaße des Marktes im Wirtschaftswunderland", Germany Trade & Invest (GTAI) weiß am 14.7.08 zu berichten, dass Indien sich auf die zweite "Grüne Revolution" vorbereite.
Utsa Patnaiks Buch ist als Sammelband konzipiert. In neun Artikeln (neben einer Einführung von Ujjaini Halim, Südasien-Institut der Universität Heidelberg) werden im Zeitraum vom August 2003 bis November 2008 folgende Themenkomplexe behandelt: Erstens die Entwicklung von Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit in der ländlichen Bevölkerung. Knapp 70% aller InderInnen leben auf dem Land; unter der globalen Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Tag leben laut Weltbank 456 Mio. InderInnen (42% der Bevölkerung). Zweitens beschreibt sie die Entwicklung des Kapitalismus in der indischen Landwirtschaft und deren innere und äußere Faktoren; drittens gibt sie Lösungsvorschläge.
Die Autorin geht von der Tatsache aus, dass die Mehrheit der WissenschaftlerInnen und die Regierung die Zunahme von Hunger und Armut in Indien leugnen. Im Jahre 2001 erreichte die Verfügbarkeit von Nahrungsgetreide ein derart niedriges Niveau, wie es zum letzten Mal zu Kolonialzeiten am Vorabend des Zweiten Weltkrieges registriert wurde. Gleichzeitig hat die Nahrungsmittelproduktion von 50 Mio. t (1950-1951) auf 211 Mio. t (2001-2002) zugenommen; so gesehen gibt es keinen Nahrungsmangel.
42% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze
Davon geht auch die indische Regierung aus. Sie sagt, der Verbrauch von Getreide gehe zurück, "weil alle Verbraucher freiwillig bei steigendem Einkommen ihren Verzehr von Getreide zugunsten höherwertigerer Lebensmittel einschränken wollen". Diese Einschränkung ist aber der gewichtete Mittelwert zweier entgegengesetzter Tendenzen: "eine Zunahme für die Minderheit und ein großer Absturz für die Mehrheit". Die Autorin erläutert: "Dieser jähe und beispiellose Rückgang des Verbrauchs von Nahrungsgetreide ließ die Zahl hungernder Menschen besonders in ländlichen Gebieten stark ansteigen, und für viele bedeutete dies den Hungertod".
Das absolute Realeinkommen der Mehrheit der Bevölkerung wurde verringert, insbesondere durch die stark zunehmende ländliche Arbeitslosigkeit, und die Politik ökonomischer Reformen einschließlich der Handelsliberalisierung hat einen Nachfragerückgang ausgelöst. Dieser Nachfragerückgang wird einerseits von der Regierung mit der Aufstockung staatlicher Lebensmittelvorräte beantwortet; gleichzeitig wird institutionell verhindert, dass eine große Anzahl wirklich Armer billige Nahrung aus dem öffentlichen Verteilungssystem erhält. Dieser Mechanismus wird andererseits ergänzt durch die offizielle Förderung einer exportorientierten unternehmerischen Landwirtschaft. Zwischen 1991 und 2001 wurden 8 Mio. Hektar Land von der Produktion von Nahrungsgetreide auf exportfähige Kulturen umgestellt, und der Export von Getreide erreichte Höchstwerte. Mit anderen Worten: Es wird systematisch die zahlungsfähige Nachfrage der großen Masse verringert. Die Autorin beschreibt detailliert, wie Wissenschaft und Regierungsseite die Armut statistisch "beseitigen" . Sarkastisch sagt Frau Patnaik abschließend: "Mit dieser Quote kann Armut statistisch völlig aus Indien verdrängt werden ..."
Nach anderen Quellen gab es in Indien etwa von 2001 bis 2006 rd. 40.000 Selbstmorde von Bäuerinnen und Bauern: "Selbstmorde sind ein Ergebnis von Schulden, und Schulden sind ein Ergebnis von steigenden Produktionskosten und fallenden Preisen, die mit der Handelsliberalisierung in Verbindung stehen." (Bundeszentrale für politische Bildung, 24.01.07)
Die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft Indiens untersucht U. Patnaik gewissermaßen zweigeteilt, zunächst "von den inneren Klassenverhältnissen ausgehend". Theoretische Grundlagen sind insbesondere Lenins Faktoranalyse in der "Entwicklung des Kapitalismus in Russland" (Lenin, Werke, Band 3), Darlegungen von Karl Marx zur Grundrente im "Kapital", speziell zu Kleinproduzenten, und Mao Zedongs Theorie der Widersprüche ("Über den Widerspruch").
Patnaik erwähnt die hochgradige Konzentration von Land und anderen Vermögenswerten, zieht einen Vergleich zur ursprünglichen Akkumulation des Kapitals in Westeuropa im 18. und 19. Jahrhunde und illustriert den Übergang von feudalen zu kapitalistischen Produktionsverhältnissen in Indien: "Die Arbeiter erhalten ihren Lohn nicht mehr in Form von Naturalien wie Getreide oder Mahlzeiten, die früher unterbewertet oder zu Preisen ab Hof geschätzt wurden. Sie müssen jetzt ihre Lebensmittel mit ihrem Geldlohn zum Ladenpreis kaufen; Gemeineigentum als Bezugsquelle kostenloser Güter ist verschwunden, Brennmaterial und Futter müssen gekauft werden." Hinzu kommt die "normale" Entwicklung der Produktivkräfte: " ... die Verringerung von Arbeitsplätzen war noch größer, weil die Mechanisierung, insbesondere bei der Ernte, und die Anwendung chemischer Unkrautvernichtungsmittel, im Gegensatz zum Unkrautjäten von Hand, zu sinkenden Arbeitskräftekoeffizienten geführt hat."
Zum anderen wird nach Patnaik diese Entwicklung von äußeren Faktoren, dem Imperialismus, bestimmt, die in Gestalt der indischen Regierung und der Staatenregierungen gefördert, gebremst oder auch verhindert werden kann. Der neue Imperialismus ist danach gekennzeichnet als neoliberale Politik, ökonomisch charakterisiert als Angriff auf die Produktivkräfte in den Ländern des Südens. Die imperialistische Globalisierung lässt sich daher als angestrebte Rekolonialisierung definieren - die Beherrschung der indischen Bauernschaft dient dem Zweck, die Exportproduktion zu stimulieren. Die zentrale Steuerung dieser Prozesse erfolgt durch globale Finanzinstitutionen - den IWF, die Weltbank und die WTO (Zollpolitik); Träger dieser Entwicklung sind die ausländischen transnationalen Konzerne.
Die Industrieländer setzen auf die neue Mittelschicht
Konkret gefördert und 1:1 umgesetzt werden die Vorgaben des IWF seit 1991 durch die indische Regierung als sogenannte "makroökonomische Deflationsstrategie". Zu dieser "Reformpolitik" gehören:
1) die Verringerung von Entwicklungsausgaben und staatlichen Investitionen seitens der Zentralregierung und Staatenregierungen;
2) hohe Realzinssätze (Politik des knappen Geldes);
3) Senkung des Haushaltsdefizits im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP);
4) Deckelung der Löhne im organisierten Sektor und Abwertung der Rupie.
Direkte unmittelbare Folgen sind u.a. Deindustrialisierung und der Kollaps der ländlichen Beschäftigung. Diese Politik hat dazu geführt, dass sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte eine breite, relativ wohlhabende Mittelschicht entwickeln konnte. Dazu gehören auch die Beschäftigten in dem kleinen Teil des Dienstleistungssektors, der die Entwicklung oder Anwendung der modernen Informationstechnologie zum Inhalt hat. "Die Industrieländer haben diese gut verdienende Minderheit im Auge, die 10 bis 15% der indischen Bevölkerung ausmacht, wenn sie für ihre Industrie- und Landwirtschaftserzeugnisse den Zugang zum Markt fordern, und 100 bis 150 Millionen Menschen stellen zweifellos einen großen potenziellen Markt dar."
Zur Lösung der Agrarkrise in Indien schlägt Utsa Patnaik die Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik und den Übergang zu einer "expansiven Politik der autonomen nationalen Entwicklung" vor, die zwischen 1950 und 1990 auf einen wachsenden Binnenmarkt ausgerichtet war. Mit dem Aufruf zur kämpferischen "Einheit aller bäuerlichen Klassen und Arbeiter gegen den Angriff des Imperialismus und seiner einheimischen Kollaborateure" verweist sie darauf, dass diese Politik nicht im Selbstlauf verwirklicht werden kann und ökonomisch auf eine neue Grundlage gestellt werden muss: "Die wirksamste Methode, diesem Angriff auf der lokalen Ebene entgegenzuwirken, ist es für Kleinproduzenten, ob sie mit dem Markt, Viehzucht oder anderen Tätigkeiten beschäftigt sind, sich direkt zum Zweck der Produktion und Vermarktung zu Vereinigungen zusammenzuschließen."
Boris Mindach
Utsa Patnaik: Unbequeme Wahrheiten. Hunger und Armut in Indien. Draupadi Verlag, Heidelberg 2009, 238 Seiten, 19,80 EUR