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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 545 / 18.12.2009

Wer wird Verfassungsfeind?

Zur "freien" Deutungshoheit der Verfassungsschutzämter

Das Ritual der jährlichen Verfassungsschutzberichte, die festhalten, welche Bewegung, Organisation oder Partei gerade als "verfassungsfeindlich" einzuschätzen sei, verleiht der Meinung des jeweiligen Innenministeriums einen Anschein rechtlicher Objektivität. Für alles Weitere sorgen die Reaktionen; viele orientieren sich völlig unkritisch am Inhalt der Berichte.

Trüge der Inlandsgeheimdienst in Deutschland einen sachlicheren Namen als "Verfassungsschutz", wir wären wohl um eine Verwirrung ärmer. Zur Arbeit der 17 Verfassungsschutzämter, von denen eines beim Bundes- und ein weiteres bei jedem Landesinnenministerium angesiedelt ist, gehört es, Erkenntnisse über bestimmte politische "Bestrebungen" im Inland zu sammeln. Der Begriff der "Verfassungsfeindlichkeit" jedoch, um den herum die Dienste ihre jährlichen politischen Berichte aufbauen, stellt JuristInnen, die versuchen, ihn für einen Moment ernst zu nehmen, schlicht vor ein Rätsel.

Die meisten Bestimmungen des Grundgesetzes können die Parteien im Bundestag mit Zweidrittelmehrheit ihren aktuellen Vorhaben anpassen, die wenigsten sind für die Ewigkeit; vieles in der Verfassung sieht heute anders aus als noch vor 20 Jahren - und natürlich darf nicht nur im Parlament über weitere Änderungen diskutiert werden. Einhalten muss man das Strafgesetzbuch. Darin, sich eine bessere Verfassung zu wünschen, ist jedeR frei.

Sich eine bessere Verfassung zu wünschen, ist jedeR frei

Grund zur Kritik an der geltenden Verfassung findet sich auch für DemokratInnen reichlich: Wo das "Brief- und Fernmeldegeheimnis" im Titel steht (Art. 10 GG), beschäftigt sich heute die halbe Vorschrift mit heimlicher Überwachung zum "Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung"; wo "Unverletzlichkeit der Wohnung" angekündigt wird (Art. 13 GG), folgen in der aktuellen Fassung des Grundgesetzes ganze vier Absätze, die den heimlichen Lauschangriff ausbuchstabieren; und wo es ursprünglich hieß: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" (Art. 16a GG), füllt die wenig verschämte juristische Aushebelung dieses klaren Satzes seit 1993 die ganze folgende Seite der Taschenbuchausgabe.

Für "verfassungsfeindlich" gibt es daher genauso wenig eine allgemeingültige Definition wie für "extremistisch", was sich bereits am regelmäßigen Streit darüber zeigt, ob denn die Partei DIE LINKE als "extremistisch" beobachtet werden müsse. Der derzeitige Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm (SPD) meint eher nein. Sein ehemaliger Vorgesetzter, Wolfgang Schäuble (CDU), meinte ja.

Die Frage, wer "Recht" hat, ist vielleicht durch einen Blick ins Parteibuch zu beantworten, nicht aber durch den ins Gesetzbuch und schon gar nicht durch den ins Grundgesetz. Dort findet sich zwar der Terminus der "Verfassungswidrigkeit", über den das Bundesverfassungsgericht in einem Parteienverbotsverfahren entscheidet. "Verfassungsfeindlichkeit" ist dagegen ein bürokratischer Arbeitsbegriff der Inlandsgeheimdienste und der sie führenden Innenministerien - wie dieses Etikett verteilt wird, bleibt deren Ansichtssache. Was nach einem "objektiven" rechtlichen Verdikt klingt, ist nichts als irreführend.

Gegen politische "Bestrebungen", die die Innenministerien für gefährlich halten, hat das Bundesverfassungsgericht 1975 eine "geistige Auseinandersetzung" (von oben, möchte man hinzufügen) erlaubt. Die jährlichen Verfassungsschutzberichte, eine deutsche Besonderheit, sind das Instrument dazu. Ihr sonderbarer Ansatz zu einer Top-down-Demokratie führte Renate Künast im Jahr 1998 zu dem Fazit: "Verfassungsschutzbehörden und Demokratie sind unvereinbar." (1) Immerhin stellte das Gericht 1975 aber klar, dass es sich bei den Berichten nur um "Werturteile" handeln könne.

Tatsächlich erfährt man in den Verfassungsschutzberichten mehr über die wechselnden politischen Ansichten der amtlichen AutorInnen als über die Beobachteten selbst: Anfang der 1990er Jahre erteilte der damalige konservative Innensenator Berlins, Dieter Heckelmann, dem Berliner Inlandsgeheimdienst den Auftrag, einen Bericht über die "Verfassungsfeindlichkeit" eines neuen politischen Konkurrenten, der damaligen PDS, zu verfassen. (Wenig später wurde Heckelmann im Zuge der Mykonos-Affäre die Zuständigkeit für den Verfassungsschutz entzogen.)

Im November 1994 konnte das Amt, wenig überraschend, Vollzug melden: Die PDS biete "Anhaltspunkte für den Verdacht" verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Die Partei befinde sich zwar "noch in einem gewaltfreien Stadium", heißt es in dem Bericht, und "wann mit gewaltsamen Aktionen zu rechnen ist, lässt sich ohne den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel nicht vorhersagen". Deshalb begnügte sich der Bericht einstweilen mit einer Auseinandersetzung mit zeitungsbekannten Positionen der Partei wie etwa der Forderung nach einer Absenkung des Wahlalters.

"Die Gefahr, nicht gefestigte Jugendliche mit coolen Sprüchen zu treffen, die aus Trotz PDS wählen, um ihre bürgerlichen Eltern zu kränken, ist groß", schrieben die BeamtInnen im Hinblick darauf. Gemeinsam mit der SPD stellt die inzwischen in DIE LINKE umbenannte PDS seit 2002 die Landesregierung in Berlin. Keine fünf Jahre zuvor hatte der letzte CDU-Innensenator verkündet, es bestehe "kein Zweifel" an ihrer "Verfassungsfeindlichkeit".

Andernorts wird die Partei unterdessen weiterhin in Verfassungsschutzberichten geführt. Würde man eine Landkarte davon zeichnen, so wäre darin allerdings weniger über die regional unterschiedliche Radikalität der Partei als vielmehr über die politische Besetzung der jeweiligen Innenministerien zu erfahren: Als "linksextremistisch" oder "linksextremistisch beeinflusst" wird DIE LINKE heute noch in den vier unionsgeführten westdeutschen Ländern Niedersachsen, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern rubriziert, sowie - nachdem Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble 2008 ein Machtwort sprach - weiterhin vom Bundesamt für Verfassungsschutz.

Vor allem Auskünfte über die Ansichten der Auftraggeber

Zu den Gruppen, denen Verfassungsschutzämter in jüngerer Zeit das Etikett der "Verfassungsfeindlichkeit" aufklebten, zählt daneben etwa die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Die verfassungsschutzamtliche Abstempelung dieser Organisation, in der sich Überlebende von NS-Konzentrationslagern gemeinsam mit jungen Antifa-AktivistInnen engagieren, reicht gewissermaßen historisch zurück.

"Hauptargument ist die zahlreiche Mitgliedschaft von Kommunisten", fasst Eckart Spoo zusammen, "die jedoch kein geheimdienstlich zu enthüllendes Geheimnis ist, sondern sich einfach daraus ergibt, dass Kommunisten zahlreicher als jede andere politische Gruppe vom Nazi-Regime verfolgt wurden." (2)

Im jüngsten Bericht des bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz werden, um die "Verfassungsfeindlichkeit" der Vereinigung zu illustrieren, vor allem die freundlichen Beziehungen der VVN-BdA zur Partei DIE LINKE herausgestellt.

Als härtesten Beweis für die "Verfassungsfeindlichkeit" der Vereinigung bereitet der bayerische Bericht daneben eine Aussage des derzeitigen Ko-Vorsitzenden Heinrich Fink auf: "In einem in der Wochenendausgabe der Tageszeitung ,junge Welt' (jW) vom 8./9. Dezember 2007 veröffentlichten Interview ... lieferte der ehemalige SED-Funktionär Prof. Dr. Heinrich Fink wiederum Belege für die staats- und verfassungsfeindliche Grundposition seines Verbands, indem er den Beschluss der Innenministerkonferenz in Berlin, extremistische Stiftungen und Vereine über das Steuerrecht von staatlichen Geldern abzuschneiden, als Schritt in die falsche Richtung bezeichnete."

Der Bericht erwähnt nicht, dass sich die VVN-BdA dafür einsetzt, die Innenminister zu einem erneuten NPD-Verbotsverfahren zu bewegen. Dass die Vereinigung die stattdessen von den Innenministerien präferierte "fiskalische" Strategie kritisiert, führt das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz schlicht als Beleg für ihre "Staatsfeindlichkeit" an.

Ein weiteres Beispiel: Die JungdemokratInnen/Junge Linke (JD/JL), deren westdeutscher Teil in den 1960er Jahren der FDP nahestand, tauchte 1999 erstmals überraschend im Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz (Slogan: "Demokratie schützen!") auf. Von umstürzlerischen Aktivitäten wird dort zwar nichts berichtet. Nachdem der Text zunächst ein paar politische Labels sehr bunt durcheinander wirft ("antideutsch", "marxistisch-leninistisch" oder "anarchisch-libertär"?), wartet er aber doch noch mit einer Kurzbegründung dafür auf, weshalb die Demokratie vor dieser Gruppe geschützt werden müsse, die sich perfider Weise "JungdemokratInnen" nennt und als "radikaldemokratisch" bezeichnet. "Schwerpunktmäßig fordern die JD/JL u.a. die Abschaffung der Wehrpflicht und der Bundeswehr und die Legalisierung von Drogen. Daneben engagieren sie sich im Rahmen der ,Anti-EXPO-Arbeit` sowie bei der von Linksextremisten unterstützten Kampagne ,Kein Mensch ist illegal!`"

Im Folgejahr verschwand die JD/JL zwar wieder aus dem Verfassungsschutzbericht des Bundes. Dass der Verband seit Jahrzehnten staatliche Zuschüsse zu Bildungsmaßnahmen erhält, gleichzeitig aber vorübergehend als "verfassungsfeindlich" bezeichnet wurde, zeigt allerdings nicht nur, wie isoliert die Innenministerien gelegentlich mit ihrer Meinung dastehen. Es verdeutlicht auch die Gefahr, die von einer Erwähnung im Verfassungsschutzbericht ausgeht.

Wenigstens sachlich begründet müsse die Einschätzung als "verfassungsfeindlich" sein, mahnte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2005, und brachte sein Unbehagen darüber zum Ausdruck, dass die Exekutive zwar kein Recht hat, bloße Meinungen zu sanktionieren, dass aber die Einstufung im Verfassungsschutzbericht praktisch dennoch wie eine "mittelbar belastende negative Sanktion" wirkt. (3)

Für die Bundesregierung ist die Sache nämlich klar: Bei "wiederholter Nennung" eines Trägers, Vereins oder Verbandes im Verfassungsschutzbericht sei eine finanzielle Unterstützung durch den Bund "nicht möglich". So steht es in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Jahr 2008 (die Feder führte passenderweise das Bundesinnenministerium). (BT-Drs. 16/8226) Schon bevor es soweit ist, setzen die Publikationen der Verfassungsschutzämter andere staatliche Behörden unter Zugzwang. Der Effekt ist umso stärker, wenn sich Massenmedien auf Verfassungsschutzberichte als vermeintliche Autorität berufen. Welche Behörde will sich schon vorwerfen lassen, Staatsmittel an "Verfassungsfeinde" vergeben zu haben?

Fakten schaffende Bewertungen mit Folgen

So zog die rheinische Stadt Eschweiler im April 2001 vorsichtshalber ihre Erlaubnis zurück, eine von der VVN-BdA mit Unterstützung der IG Metall geschaffene Wanderausstellung über Neonazismus im Rathaus zu zeigen. Gegen die Ausstellung selbst bestanden zwar keine Einwände. Der Bürgermeister Rudi Bertram befürchtete jedoch, eine Diskussion über die ideologische Ausrichtung der im Verfassungsschutzbericht aufgeführten VVN-BdA könne "das Ziel der Ausstellung", wie Betram höflich formulierte, überschatten.

Dafür, dass wenig später auch die Türen eines unabhängigen Trägers, des Kulturhauses Osterfeld in Pforzheim, für die AusstellungsmacherInnen geschlossen blieben, sorgte tatkräftig der Kreisvorsitzende der örtlichen CDU: Der damalige baden-württembergische Staatssekretär Stefan Mappus hatte dem Kulturhaus mit der Streichung öffentlicher Zuschüsse gedroht. In der Begründung berief sich Mappus auf den Verfassungsschutzbericht.

So fadenscheinig recherchiert und inhaltlich hanebüchen die Kategorisierungen im Verfassungsschutzbericht auch sind - auf diese Weise werden im öffentlichen Diskurs "Fakten" geschaffen, wo zuvor nur Ministermeinungen waren.

Ron Steinke

Anmerkungen:

1) Renate Künast: Wie der Verfassungsschutz an "Roten Socken" strickt. In: Grundrechte-Report 1998. Reinbek 1998

2) Eckart Spoo: Staatliche Einschüchterung. In: Grundrechte-Report 2003, Reinbek 2003

3) vgl. dazu Dietrich Murswiek: Neue Maßstäbe für den Verfassungsschutzbericht. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2006, H. 2

Der leicht gekürzte Artikel erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe von Bürgerrechte & Polizei/CILIP Nr. 93 (2/2009); www.cilip.de