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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 545 / 18.12.2009

Die Grenzen des Antirassismus

Der antirassistische Diskurs ist mit neoliberalen Gleichheitsbildern kompatibel

Der nachfolgende Text des US-Politikwissenschaftlers Adolph Reed Jr., Professor für Politikwissenschaft an der University of Pennsylvania, setzt sich polemisch mit einer bestimmten Spielart des Antirassismus in den USA auseinander. Auch wenn die Debatten im deutschen Kontext anders geführt werden, ist Reeds Diskussionsbeitrag sicherlich auch für die hiesige Auseinandersetzung um das Verhältnis von "Rasse" und Klasse aufschlussreich. Wir drucken deshalb den Text aus Left Business Observer Nr. 121 vom September 2009 leicht gekürzt nach.

Der gegenwärtige Diskurs über "Antirassismus" konzentriert sich sehr viel stärker auf eine Klassifikationslehre denn auf Politik. Er betont den Begriff, mit dem wir einige Arten der Ungleichheit benennen sollen, und vernachlässigt darüber, genau die Mechanismen zu benennen, die ihn produzieren, oder gar die Schritte aufzuzeigen, die unternommen werden können, um Rassismus zu bekämpfen.

Weder "Rassismus überwinden" noch "Weiß sein ablehnen" kann als ein solcher Schritt zur Beendigung von Rassismus angesehen werden, genauso wenig, wie auf die "Revolution" zu warten oder Gottes Intervention aus dem Himmel herbeizusehnen. Wenn eine Antirassismuskundgebung heutzutage eine substanziellere politische Handlung zu sein scheint als ein öffentliches Gebet für den Weltfrieden, dann nur deshalb, weil sich die antirassistischen AktivistInnen unserer Zeit selbst hinsichtlich der eingesetzten Taktik und der politischen Ziele in der Tradition ihrer VorgängerInnen aus den bewegten Zeiten des Kampfs gegen rassistische Segregation sehen.

Diese Sicht ist allerdings falsch. Der Nachkriegsaktivismus, der seinen Höhepunkt im Süden in der "Bürgerrechtsbewegung" erreichte, war keine Bewegung gegen einen allgemein verstandenen "Rassismus". Er war konkret und ausdrücklich auf die Erlangung voller Bürgerrechte für schwarze AmerikanerInnen und gegen das System der rassistischen Segregation gerichtet.

Moralischer Antirassismus fürs gute Gefühl

Die Bewegung des Marsches auf Washington in den 1940er Jahren richtete sich gegen genau definierte Missstände wie die Einstellungsdiskriminierung in der Verteidigungsindustrie. Die Kämpfe in der (Post-)Black-Power-Ära richteten sich in ähnlicher Weise gegen bestimmte Ungleichheiten und versuchten, konkrete Ziele wie die Ausübung des Wahlrechtes und bestimmte Umverteilungsprogramme zu erreichen. Ob man diese Ziele nun als erstrebenswert oder angemessen ansieht oder nicht, sie waren zumindest klar und strategisch, während "Antirassismus" dies nicht ist. Sicherlich beriefen sich diese früheren Kämpfe auf einen Diskurs der "rassischen" Gleichheit. Ihre Ziele aber waren konkret.

Viel zu oft ist "Rassismus" Inhalt von Sätzen, die eine intentionale Aktivität implizieren, oder er wird als eine autonome "Kraft" beschrieben. In diesen Formulierungen wird die konzeptionelle Abstraktion "Rassismus" als eine materielle Entität imaginiert. Abstraktionen können nützlich sein, aber es sollte ihnen kein Eigenleben verliehen werden.

Ich kann solche Formulierungen als kurzlebige politische Rhetorik gutheißen. Sie sind übertriebene Forderungen, die erhoben werden, um Aufmerksamkeit zu wecken und die öffentliche Meinung gegen einen bestimmten Fall von Ungerechtigkeit zu mobilisieren. Aber als Grundlage für eine Interpretation des Sozialen, und insbesondere als eine bestimmte Interpretation, die auf strategische politische Handlung abzielt, sind sie unbrauchbar. Ihre hauptsächliche Funktion ist es, denen, die diese Forderungen äußern, ein gutes Gefühl zu verschaffen, weil sie sich im Recht wähnen können.

Ja, Rassismus existiert als konzeptionelle Verdichtung von Praktiken und Ideen, die eine Hierarchie entlang von "Rassen" reproduzieren oder zu reproduzieren versuchen. Auch besteht er in all seinen verschiedenen, oft unzusammenhängenden Arten der sozialen Beziehungen und "Einstellungen" fort, die üblicherweise unter dieser Rubrik gefasst werden. Aber von einem Standpunkt aus, der versucht herauszufinden, wie man das bekämpft, was die meisten von uns als rassistische Ungleichheit ansehen würden, kann man sich von diesem Eingeständnis nichts kaufen. Es führt zu keiner bestimmten Handlung, nur zu noch mehr klassifikatorischen Erörterungen über die Frage, was als Rassismus zählen soll.

Wir sind in einer Zwickmühle. In der Logik des Antirassismus führt das Offenlegen eines rassistischen Elementes bei einem Fehlverhalten zum Erkennen von Ungerechtigkeit, was wiederum zu Handlungen führt, die dieses Fehlverhalten zu korrigieren suchen. Allerdings scheint sich niemand großartig darum zu kümmern, wie dieser Prozess genau funktionieren soll. Ich vermute, das liegt am Fokus auf dem Offenlegungsschritt, der sich so rechtschaffen und dabei bedingungslos korrekt anfühlt. Aber diese Offenlegung überzeugt nur diejenigen, die schon zur Einsicht bereit sind.

Diejenigen, auf die das nicht zutrifft, haben vielfache Schichten wirrer Ideologie zur Verfügung, vor allem die Strategie des blaming the victim (das Opfer zum Täter machen), mit welchem sie leugnen, dass eine existierende Ungleichheit auf Rassismus beruht oder gar ungerecht ist. Die Reaktion der Simi-Valley-Jury, die sich das Rodney-King-Video angesehen hatte und King als Angreifer und die PolizistInnen als Opfer ausmachte, ist ein klassisches Beispiel. (1)

Racial Democracy statt sozialer Demokratie?

Ein anderes Beispiel ist der Diskurs über die "Unterklasse". Dass Menschen durch die Subprime-Hypotheken-Betrügereien geschädigt wurden, kann und wird oft als die Schuld unverantwortlicher armer Menschen abgetan, die über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Und es gibt keinen Mangel an schwarzen Menschen im öffentlichen Leben - Bill Cosby, Oprah Winfrey und Barack Obama sind drei prominente Beispiele -, die diese Erzählungen vom unberechenbaren und selbstzerstörerischen Verhalten der armen schwarzen Bevölkerung bereitwillig annehmen und weiterverbreiten.

Wie kann dieses vereinfachende Narrativ von "Rassismus" erklären, dass so viele schwarze Institutionen, Kirchen, einige antirassistische Interessenvertretungen und viele, viele schwarze Menschen aktiv diese riskanten Hypotheken bewarben mit dem Argument, den "Amerikanischen Traum" des eigenen Hauses auch für "uns" möglich zu machen?

Mein Punkt ist: Es ist politisch effektiver, die Ungerechtigkeit und Ungleichheit direkt zu bekämpfen und die Debatte darüber, ob es Rassismus genannt werden sollte, zu umgehen.

Mir ist bewusst, dass es auf Grund der Siege, die die Bürgerrechtsbewegung errungen hat, starke praktische Imperative gibt, die verletzenden rassistischen Aspekte der Ungleichheit zu betonen. Denn dies hat rechtliche Implikationen. "Rasse" ist eine der juristischen Klassifikationen, die von Antidiskriminierungsgesetzen geschützt werden, während beispielsweise Armut dies nicht ist.

Aber das führt dazu, dass die Identifizierung von Rassismus ein rein technisches Unterfangen zur strafrechtlichen Verfolgung von Missständen wird. Sie ist nicht länger die Grundlage einer allumfassenden politischen Strategie, um Rassismus zu überwinden, oder, um es mit deutlicheren Worten zu formulieren, um "rassische" Gleichheit als einen integralen Bestandteil eines Programms zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit zu erreichen.

Ich war erstaunt über den Grad des eingefleischten und scharfen Anti-Marxismus seitens der VerteidigerInnen dieser Form des Antirassismus. Dies verstärkt nur meine Skepsis gegenüber einem Antirassismus, der sich nahtlos in den neoliberalen Diskurs über "Reform" einreiht. Ich vermute auch, dass die abfälligen Bemerkungen über Radikalismus teilweise in der Überzeugung begründet liegen, dass eine linke Politik, die die Klassenanalyse nutzt, und eine, die sich auf rassistische Ungerechtigkeit konzentriert, sich ausschließende Alternativen seien.

Diese Vorstellung von den sich gegenseitig ausschließenden Polen Klassenanalyse versus Rassenanalyse ist teilweise ein Überbleibsel der Begriffe, mit denen die Bürgerrechtsbewegung ihre Erfolge durchsetzte.

Wie ich schon andeutete, setzte politischer Druck von verschiedenen Seiten - etwa das Zuckerbrot des Erfolgs und die Peitsche der Einschüchterung und der politischen Hexenjagd, aber auch Klassenspannungen innerhalb der Bürgerrechtsbewegung selbst - eine Entwicklung in Gang, die eine Reformulierung der Ziele der Bewegung bewirkte, die schließlich immer mehr mit dem Post-New-Deal und Kalten-Kriegs-Liberalismus der Nachkriegszeit übereinstimmten. Das, was der Politikwissenschaftler Preston Smith "racial democracy" genannt hat, ersetzte nach und nach soziale Demokratie als politisches Ziel.

Klassenwidersprüche? Darum kümmern wir uns später!

Die Behebung von Missständen, die auf Rassismus zurückgeführt werden konnten, erhielt Vorrang vor der Umverteilung von Reichtum; eine individualisierende Psychologie ersetzte Vorstellungen, die materielle Bedingungen umgestalten wollten. Diese Dynamik intensivierte sich in Kombination mit der allgemeinen Auflösung schwarzer Politik und dem Aufkommen einer schwarzen politischen Klasse in den 1970er und 1980er Jahren.

Wir leben jetzt unter einem Regime, das fähig ist, schwarze Menschen und Latinos zu integrieren und diese Integration sogar als Erfüllung der Demokratie zu feiern, während sie gleichzeitig Arme ausschließt, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbstverständlich sind diejenigen, die innerhalb der ausgeschlossenen Klasse am sichtbarsten sind, überproportional Schwarze und Latinos, was dieses Abfeiern ad absurdum führt. Oder vielleicht doch nicht?

Vom Standpunkt eines neoliberalen Ideals von Gleichheit, demzufolge weder "Rasse", Geschlecht, sexuelle Orientierung noch irgendein anderer zugeschriebener Status die Teilhabe und Bestrebungen des Einzelnen an und in der Gesellschaft explizit, intrinsisch oder notwendig begrenzt, ist diese Zelebrierung der Integration von Schwarzen, Latinos und anderen nämlich gerechtfertigt.

Aber eine solche Vorstellung von Demokratie ist unzureichend. Sie thematisiert nicht die tiefen und sich vertiefenden Muster der Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die in der betont "neutralen" Dynamik des US-Kapitalismus eingelassen sind. A. Philip Randolph und andere - selbst Antikommunisten wie Roy Wilkins - haben in den 1940er Jahren in Bezug auf Rassismus verstanden, dass, solange diese Dynamiken unhinterfragt anhalten, Schwarze und andere stigmatisierte Bevölkerungsgruppen bei der Verteilung von finanziellen Vorteilen und Vergünstigungen benachteiligt sein würden. (2)

Dies scheinen mir wichtige Punkte zu sein, aber vielleicht geht es nur mir so. Ich wundere mich darüber, warum die "Debatte" über Antirassismus solche indirekten und ausweichenden Formen annimmt - wie etwa die Analogisierung und die Schuld durch Assoziation, moralisierende Kritik anstatt konkreter Argumente - und warum in dieser Debatte an der Trennung von Rasse versus Klasse festgehalten wird, auch wenn dies geleugnet wird.

Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass ein möglicher Grund dafür ist, dass die "Rasse"position selbst eine Klassenposition ist, eine, die mit der neoliberalen Umdeutung von Gleichheit und Demokratie vollständig vereinbar ist. Es spiegelt die soziale Position derjenigen wider, die von der Sicht profitieren, dass der Markt ein gerechtes, effektives oder sogar akzeptables System ist, welches Talent und Strebsamkeit belohnt, während es diejenigen, die dies nicht haben, bestraft. Deshalb trage eine Beseitigung "künstlicher" Hindernisse wie "Rasse" oder Geschlecht dazu bei, dieses System effektiver und gerechter zu machen.

Aus dieser Perspektive erscheint die "linke" antirassistische Position, nach der wir sowohl ökonomische als auch rassistische Ungleichheit bekämpfen müssen, die in der Praxis immer dem "Kampf gegen Rassismus" den Vorzug zu geben scheint (oftmals konzeptionalisiert als notwendige Voraussetzung für alles andere), als lediglich andere Umschreibung eines "Darum-kümmern-wir-uns-später"-Prinzips (nachdem wir all das unternehmerfreundliche Zeug erledigt haben). Es ist ein Politikstil, den die US-Demokraten sehr erfolgreich benutzt haben, um ökonomische Ungleichheit nicht thematisieren zu müssen.

Adolph Reed Jr.

Übersetzung: Philipp Dorestal

Anmerkungen:

1) Der Afroamerikaner Rodney King wurde am 3. März 1991 in Los Angeles bei einer Verkehrskontrolle von vier Polizisten minutenlang mit Schlagstöcken brutal zusammengeschlagen, was ein Amateurfilmer auf Video aufnahm. Bei einem Gerichtsprozess im April 1992 wurden alle vier angeklagten Polizisten freigesprochen, was massive Ausschreitungen in Los Angeles auslöste.

2) A. Philip Randolph war Präsident der Bahnarbeitergewerkschaft Brotherhood of Sleeping Car Porters und Hauptorganisator der Marsch-auf-Washington-Bewegung. Roy Wilkins war in der Nachkriegszeit lange Jahre Vorsitzender der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP).