Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 546 / 22.1.2010

Aufgeblättert

1968 aus globaler Sicht

Die Revolte von 1968 war vielseitig, ereignisreich und global. Das lässt sich an einzelnen Beispielen belegen: Kulturrevolution in China, Arbeiterkämpfe in Italien, Reformen in Ungarn und Prager Frühling, transnationale Netzwerke pakistanischer Studenten mit Kommilitonen aus Europa und den USA. Diese und weitere Aspekte haben WissenschaftlerInnen der International Conference of Labour and Social History (ITH) auf einer Tagung im Herbst 2008 in Linz genauer betrachtet. Der Konferenzband veranschaulicht die internationale Dimension der Aufbruchstimmung um 1968. Überdies behandelt das Buch Relevanz und Wirkung von 1968. Die HerausgeberInnen Angelika Ebbinghaus und Marcel van der Linden sehen "positive Folgen", aber auch "Hypotheken dieser Zeit". Positiv werten sie die Frauenbewegung, während sie Stadtguerillagruppen als negatives Erbe der 1968er etikettieren. Dagegen verweist Mitherausgeber Max Henninger in seinem Aufsatz auf die vielfältigen Gründe der Entstehung bewaffnet kämpfender Gruppen und schildert kenntnisreich ihre Entwicklung aus der antiautoritären Revolte in Italien und der BRD. Ilse Lenz beschreibt eindrücklich Anfänge und Transformationen der japanischen und der bundesdeutschen Frauenbewegung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Der Band endet mit einem Beitrag von Peter Birke, der auf die uneingelösten Forderungen und Hoffnungen von 1968 verweist, "für die weiterhin eingetreten werden muss".

Niels Seibert

Angelika Ebbinghaus u.a. (Hg.): 1968. Ein Blick auf die Protestbewegung 40 Jahre danach aus globaler Perspektive. Akademische Verlagsanstalt, Wien 2009. 227 Seiten, 25 EUR

Liebe im Ausnahmezustand

"Was habe ich getan? Ich habe Ofer zum Krieg gebracht. Ich selber habe ihn zum Krieg gebracht. Und wenn ihm was passiert? Und wenn ich ihn heute das letzte Mal berührt habe?" Erschrocken reflektiert Ora während einer Taxifahrt nach Tel Aviv den Abschied von ihrem jüngeren Sohn. Nach dem Ende seiner Militärzeit hat er sich freiwillig zu einem Militäreinsatz im Westjordanland gemeldet. Ora beschließt, die mit ihrem Sohn geplante Wanderung durch Galiläa dennoch durchzuführen: Wenn es ihr gelänge, ihrem unfreiwilligen Begleiter Avram den Sohn Ofer authentisch vor Augen zu führen, wenn sie die ganze Zeit an ihn denken, über ihn sprechen würden, dann könnte nichts passieren ... Der israelische Autor David Grossmann erzählt in seinem Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" eine Liebesgeschichte, im Mittelpunkt die Israelin Ora. Vor dem Hintergrund des permanenten Ausnahmezustandes in Israel versucht sie, ihr eigenes kleines Leben zu leben. Aber der kriegerische Alltag fordert seinen Preis, immer wieder. Grossmann gelingt es, das Eindringen des repressiven gesellschaftlichen Klimas ins Privateste zu beschreiben. Ein Ausbrechen aus diesen Strukturen scheint unmöglich, auch wenn der Autor gleichzeitig intensive Momente der Begegnung schildert. Beispielhaft für die Tiefe des Konfliktes zwischen Palästinensern und Israelis, für den alltäglichen Rassismus und die beständig drohende Gewalt ist die Beziehung zwischen Ora und dem Araber Sami. Ora nimmt unüberlegt Samis Taxi in Anspruch, um ihren Sohn zum Kriegseinsatz gegen die palästinensische Bevölkerung zu bringen. Damit verletzt sie Samis Integrität und bringt ihn zudem in große Gefahr: Seine Anwesenheit am Sammelplatz könnte als die eines Feindes, z.B. eines potenziellen Selbstmordattentäters gewertet werden ... David Grossmann ist ein großartiger Roman gelungen, der Einblick in die israelische Gesellschaft und in das Denken und Fühlen der Menschen ermöglicht.

Raphaela Kula

David Grossmann: Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Carl Hanser Verlag, München 2009. 727 Seiten ,24,90 EUR

Schernikau im Alltag

Die Biografie "Der letzte Kommunist" von Matthias Frings über seinen früh verstorbenen Freund, den Schriftsteller Ronald M. Schernikau, hat sicher dazu beigetragen, dessen Werk weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Mit "Königin im Dreck" erscheint nun eine Sammlung von Essays, Reportagen und Interviews Schernikaus. Hier findet sich der alltägliche Schernikau, die Arbeiten abseits des umjubelten Debüts "kleinstadtnovelle" und der beiden großen Werke "die tage in l." und "legende". "ich brauche geld. ich bin homosexuell und links, und ich schreibe romane. davon kann ich nicht leben. wer hilft mir?", heißt es in einem in "Königin im Dreck" abgedruckten Originaldokument. Viele der hier veröffentlichten Texte dürften dem schnöden Broterwerb gedient haben. Dass auch in diesen Auftragsarbeiten der Autor Schernikau unmissverständlich zu hören ist, spricht für seine Kunst. Diese Art von Texten prägen den ersten Teil der Sammlung, in ihnen ist die Lebendigkeit ihres Autors und auch sein Unwille zur Anpassung an die Gegebenheiten zu spüren. Am eindrucksvollsten aber sind zwei später entstandene Arbeiten. Es sind Texte, die auf tragische Weise mit Gegenwart und Zukunft Schernikaus verbunden sind. Das ist zum einen die Reportage "Das Personal. Über die Arbeit mit AIDS", die Patienten und Ärzte in einer Münchner Station für HIV-Positive porträtiert. Und das ist zum anderen die "Rede auf dem Kongress der Schriftsteller der DDR" aus dem März 1990, als der kurz zuvor in die DDR übergesiedelte Schernikau u.a. sagte: "Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, dass man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können." Sicher wird ohne eine gewisse Kenntnis vom Leben und Werk Schernikaus "Königin im Dreck" nur schwer zugänglich bleiben, sie vorausgesetzt aber stellt das Buch eine große Bereicherung dar.

Jens Geiger

Ronald M. Schernikau: Königin im Dreck - Texte zur Zeit. Verbrecher Verlag, Berlin 2009. 304 Seiten, 15 EUR

Deutschland und die EU

Es ist immer wieder erstaunlich, was sich so alles als Wissenschaft ausgibt. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Würzburg, hat zusammen mit drei Ko-Autorinnen ein Buch über "Deutsche Europapolitik. Von Adenauer bis Merkel" vorgelegt, das sich von den Wahlkampf-Pamphleten der staatstragenden Parteien nur durch seine Ausführlichkeit unterscheidet. Die "europäische Integration" der vergangenen 50 Jahre sei "zu einem beispiellosen Erfolg geworden, die zunächst Frieden und Wohlstand und Anfang des neuen Millenniums auch die Wiedervereinigung Europas in Freiheit und Sicherheit gebracht hat", heißt es im Vorwort. Zwar fehle der aktuellen deutschen Europapolitik "jede visionäre Strahlkraft" und es sei unter Merkel und Steinmeier nicht gelungen, der Bevölkerung "den Mehrwert Europas zu vermitteln". Aber das wird schon! Denn nun hat die Kanzlerin die Gelegenheit, "ihre Europapolitik zu beseelen und die Vollendung des europäischen Einigungswerkes erneut und mit zusätzlicher Überzeugungskraft wieder zur Staatsräson Deutschlands zu machen." Kritische Anmerkungen zur Militarisierung der EU, ihrer neoliberalen Ausrichtung, dem mörderischen Grenzregime etc. sucht man in dieser Festschrift natürlich vergeblich. Geeignet ist das Buch allenfalls als Nachschlagewerk - und als Sammlung plattester "Argumente" für die "Alternativlosigkeit" der herrschenden Europapolitik.

Js.

Gisela Müller-Brandeck-Bocquet et al.: Deutsche Europapolitik. Von Adenauer bis Merkel. VS Verlag, Wiesbaden 2010. 349 Seiten, 24,90 EUR