Von der Stadtguerilla zum Präsidenten
Der Tupamaro José "Pepe" Mujica wird Uruguay regieren
"Wir können an die Regierung kommen, aber nicht die Macht übernehmen", hatte Raul Sendic, Mitbegründer der uruguayischen Guerillabewegung Tupamaros, Ende der 1980er Jahre, nach dem Ende der Militärdiktatur in Uruguay, auf einer Tour durch Deutschland in Berlin erklärt. 20 Jahre später ist "Pepe" Mujica, sein Genosse aus den militanten Zeiten der Tupamaros, zum Präsidenten Uruguays gewählt worden. Beide waren Anführer der Tupamaros und haben - unter Folter - mehr als zwölf Jahre in Militärgefängnissen gesessen.
Mujica trat als Kandidat der Frente Amplio (FA) zu den Präsidentschaftswahlen an und wurde am 29. November 2009 mit 52,5 Prozent der Stimmen gewählt Er gewann gegen den Kandidat der Rechten, Luís A. Lacalle (Partido Nacional), der 43,6 Prozent der Stimmen erhielt. Seit fünf Jahren stellt die Frente den derzeitigen Präsidenten Tabaré Vazquez, der am 1. März sein Amt an Mujica abgeben wird. Mujica vertritt innerhalb der Frente die MPP (Movimiento de Participación Popular), die stärkste Partei in der FA. Sie entstand 1989, nachdem ein Teil der Tupamaros (MLN-T) beschlossen hatte, den Weg durch die Parlamente zu gehen.
Der neue Präsident kommt aus einer Bauerfamilie. Er ist Landwirt und war von 2005-2008 Minister für Landwirtschaft. 2004 wurde er zum Senator gewählt. Sein Kampf gegen die Militärdiktatur brachte ihn, Mitbegründer der Stadtguerilla Tupamaros, als eine von neun "Geiseln des Staates" in die Militärgefängnisse. Dort blieb er zwölf Jahre unter Folter vergraben. Heute lebt er als Bauer und Gärtner auf seiner Finca.
Folterer werden weiter frei herum spazieren
In den letzten Jahren ist Mujica zu einer der wichtigsten politischen Figuren Uruguays geworden. Er hat ein ausgeprägtes soziales Profil und die Fähigkeit, mit einfachen Leuten von gleich zu gleich zu reden. Dabei ist er sowohl für seine philosophischen Äußerungen als auch für seine direkte, teilweise primitive Sprache bekannt. Seine Rhetorik changiert zwischen der eines Großvaters, der beurteilt und Ratschläge erteilt, und der eines ungeduldigen, aufbrausenden Gesprächspartners, der rasch in Ärger gerät und dessen Äußerungen zum Teil einen deprimierenden Konservatismus ausdrücken.
Mujica hat sich als geschickter Realpolitiker profiliert, der davon überzeugt ist, auch solche Dinge durchsetzen zu müssen, mit denen er nicht 100 Prozent einverstanden ist. Er hat es angenommen, innerhalb des politischen Parteiensystems zu agieren und für alle UruguayerInnen zu regieren, auch für die Reichen. An sie hat er klare Signale gesandt, dass er die wirtschaftliche Kontinuität der Regierung Vázquez wahren wird: So wird Danilo Astori - seine Politik als Wirtschaftsminister zwischen 2005-2008 steht für eine moderate Form des Neoliberalismus - das Amt des Vizepräsidenten übernehmen.
2005 weckte der Wahlsieg der FA in weiten Teilen der uruguayischen Bevölkerung große Erwartungen auf ein anderes soziales und politisches System. Sie bewahrheiteten sich nur zum Teil. Unter Vázquez wurde das soziale Notfallprogramm PANES eingeführt, das als politisches Rahmenprogramm die Bekämpfung der extremen Armut zum Ziel hat. Es entstand der Plan Ceibal, eine Initiative, mit der jedeR LehrerIn und SchülerIn einer öffentlichen Schule ein Laptop und Zugang zum Internet erhalten soll. In der öffentlichen Gesundheitsversorgung unterzeichnete Uruguay einen Vertrag mit Kuba: Mit Unterstützung kubanischer Ärzte wurde eine Augenklinik gebaut, in der sich die Bevölkerung kostenlos behandeln lassen kann.
Auf dem Feld der Steuerpolitik wurde durch eine Reform die Einkommenssteuer für Spitzenverdiener auf 25 Prozent erhöht, so dass die, die viel haben, zum ersten Mal zumindest ein bisschen mehr zahlen müssen. Die Mehrwertsteuer hingegen wurde um vier Prozent gesenkt, um den Preis von Grundnahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Gebrauchsgegenständen zu senken. Doch gleichzeitig wurden auf großen Flächen sogenannte Freihandelszonen eingerichtet. Dort gelten Ausnahmeregeln für Zoll und Steuern (die Unternehmen müssen niedrige oder gar keine zahlen) und die Geschäfte werden ohne jegliche Kontrolle abgewickelt. Der umweltpolitisch höchst umstrittene Bau der finnischen Zellstofffabrik Botnia 2005 zeigte, das das Land dadurch auch für multinationale Konzerne interessant wurde.
Auf internationaler Ebene wurden die Zinsen der Auslandsschulden pünktlich zurückgezahlt und mit der Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank und dem Währungsfonds neue Abkommen getroffen. Uruguay stationierte zudem im Rahmen einer internationalen Mission Soldaten auf Haiti, um dort "Demokratie und Ordnung" zu schützen. Die Mission wird von Teilen der haitianischen Bevölkerung als Besatzungstruppe abgelehnt.
Mit der Übernahme der Regierung durch die FA 2005 waren zudem Hoffnungen auf eine Annulierung des Amnestiegesetzes ("Schlussstrichgesetz") verbunden, das den MenschenrechtsverbrecherInnen der Militärdiktatur bis heute Schutz vor Strafverfolgung gibt. Doch Vázquez unternahm keinen Schritt, dieses schmachvolle Gesetz abzuschaffen, obwohl er es in seiner Wahlkampagne versprochen hatte und im Kongress sogar die dazu nötige Mehrheit besaß.
Es war nicht das erste Mal, dass Vázquez Vorhaben blockierte. Erinnert sei an den Vorstoß von 2006, das Abtreibungsverbot zu lockern: Nachdem ein entsprechendes Gesetz schon Kammer und Senat passiert hatte, legte Vázquez als Präsident in letzter Instanz ein Veto gegen eine Liberalisierung ein.
Zeitgleich zu den Präsidentschaftswahlen, aus denen Mujica als Sieger hervor ging, wurde zum zweiten Mal nach der Militärdiktatur per Referendum auch über die Aufhebung des Amnestiegesetzes abgestimmt: Das Referendum erhielt 46,93 Prozent der Stimmen und verlor. Auch weil sich die Frente auf den Präsidentschaftswahlkampf konzentrierte - sie wollte die Wahlen, wie nicht geschafft, schon in der ersten Runde für Mujica entscheiden - und die Kampagne für die Abschaffung des Schlusstrichgesetzes nicht aktiv unterstützte.
Das Thema wurde noch nicht einmal in einer der Wahlkampfreden der wichtigsten Frente-KandidatInnen erwähnt. Die Verantwortung für die Abstimmung wurde der außerparlamentarischen Linken sowie den Basis- und Menschenrechtsgruppen überlassen, die kaum über Infrastruktur und Ressourcen verfügen, um die Bevölkerung zu mobilisieren. So hat die institutionalisierte Linke einen ihrer wichtigsten, sie konstituierenden Grundsätze, die Durchsetzung von Gerechtigkeit, wenn nicht vergessen, so doch zu einem hohen Preis zur Seite geschoben. Doch was soll man erwarten, wenn selbst Mujica sich während der Wahlkampagne auf seine alten Folterknechte bezog mit den Worten: "Lasst sie doch in Ruhe, die uralten Herren, sie sterben doch eh bald"?
Die drei Strömungen der Tupas
Doch die Abschaffung des Amnestiegesetzes wäre ein erster Schritt, um die bevormundende Demokratie der Post-Diktatur zu beenden und Gerechtigkeit zu schaffen. Jetzt, wo die Linke erneut die parlamentarische Mehrheit errungen hat, wäre es eine ihrer wichtigsten Aufgaben, die Straffreiheit für die Militärs und ihre Komplizen aufzuheben. Es ist das mindeste, was man von PolitikerInnen, die für die Bevölkerung das Regieren übernommen haben, die von allen UruguayerInnen bezahlt werden und die seit ihrer Weigerung, das Referendum zu unterstützen, bei ihren alten GenossInnen in Verruf geraten sind, erwarten kann.
Innerhalb der Tupamaros und der MPP gibt es seit langer Zeit starke gegensätzliche politische Strömungen, die meist durch Männer repräsentiert werden und die dissidente oder marginale Stimmen an den Rand oder gar ganz aus der politischen Szenerie gedrängt haben. So ist es vielen ehemaligen "Tupas" und alten Militanten der Linken ergangen, die der Frente mittlerweile den Rücken gekehrt haben. Es sind wichtige Figuren wie Jorge "Tambero" Zabalza oder der Rechtsanwalt Elios Sarthou. Sarthou schrieb in einem offenen Brief an die Frente, in dem er seinen Parteiaustritt mitteilte: "Nach einem so langen Weg sind wir an einem Punkt angekommen, an dem ich der Meinung bin, dass ein Verbleib in der Frente Amplio meine tiefsten politischen und sozialen Überzeugungen verletzen würde, die ich während der Jahre der Diktatur aufrechterhalten habe." Und Zabalza schrieb in einem offenen Brief an seine alten compañeros aus der Guerilla: "Für was, verdammt, haben wir überlebt?"
Man kann in der MPP drei Strömungen ausmachen: Die von Mujica, die die meisten PolitikerInnen der MPP und Wählerstimmen hinter sich vereint und Verbündete in den traditionellen Parteien und unter moderaten Frente-Leuten gewonnen hat. In dieser Strömung erhielt Lucia Topolansky bei der letzten Wahl die meisten Stimmen zur Senatorin. Sie ist die künftige erste Dame Uruguays. In ihrem Fall bedeutet es, nicht nur "die Frau von Pepe Mujica" zu sein, sondern auf eine eigene politische Karriere zurückzublicken. Als Mitglied der Stadtguerilla erlitt sie Gefängnis und Folter, wie auch die anderen "berühmten Tupas".
Das System ist ein Tintenfisch
Die Strömung eines anderen wichtigen Tupa, des Schriftstellers und Politikers Ñato Huidobro, hat sich seit langer Zeit von "Pepe" Mujica losgesagt und eine eigene Bewegung außerhalb der MPP, aber innerhalb der Frente gegründet: Die Corriente de Acción y Pensamiento - Libertad (CAP-L). Huidobro konzentriert sich auf die Themen Armee und Gewalt im Fußball. Er fordert dazu auf, eine Bürgerwehr zu gründen, um gegen Kriminalität vorzugehen.
Dann existiert noch die Strömung von Julio Marenales, der inzwischen fast 80 Jahre alt und ein weiterer Gründer der Tupamaros ist. Er wird sehr geschätzt und erhält traditionell viele Wählerstimmen. Marenales wollte nie ein politisches Amt übernehmen, denn er glaubt, das System sei ein Tintenfisch, der einen aufisst. Er zieht es vor, an der Basis zu arbeiten und der Frente Leute zuzuführen. Obwohl er zugibt, seit Jahren nicht mehr mit seinen Kollegen Mujica oder Ñato zu diskutieren.
Am Tag von Mujicas Triumph hatte Ñato für diejenigen, die ihn in Frage stellen, unter anderem Zabalza, einige Worte übrig: "Vor einigen Jahren fragte man uns in beleidigendem Ton, warum wir überlebt hätten? Hier ist die Antwort, dafür haben wir überlebt, um die Wahlen zu gewinnen." Zabalza hatte unter anderem an Ñato geschrieben: "Wie hast du die alte Brüderlichkeit verraten, Ñato! So viele von uns waren bereit, ihr Leben zu geben, um Deines und das der Alten zu beschützen! Für was haben wir also überlebt? Um im Fernsehen virtuelle Politik zu machen, Politik ohne einen Horizont des Wandels. Um zu akzeptieren, was als unvermeidbar erscheint - ,es gibt, was es gibt`."
Die neue Regierung Uruguays wird also Widerspruch und erneut Erwartungen hervorrufen. Nicht zuletzt auf internationalem Parkett. Wie wird sich Mujica auf seine lateinamerikanischen AmtskollegInnen beziehen? Zumindest vor den Wahlen pflegte er gute Beziehungen zu Lula und Chávez. Das war auch einst zu Argentinien der Fall, bis die Beziehungen unter Vázquez und Cristina Fernández de Kirchner wegen der Frage von Handelsverträgen mit den USA bzw. über die Zellstofffabrik Botnia abkühlten. Im Gegensatz zu Vázquez, dem vor allem an guten Beziehungen zu den USA oder China gelegen war, will Mujica jedoch eher wieder die Beziehungen zum Nachbarland pflegen. Man sagt zudem, er wolle sich am brasilianischen Präsident Lula orientieren, der international großes Vertrauen genießt.
Es zeigt sich, dass ehemalige Revolutionäre heute Realpolitik machen. Reformen am System durchführen wollen, gegen das sie einst kämpften, und sich weit von ihren damaligen Zielen entfernt haben. Wie kann man sich auf die Zahlung von Auslandsschulden einlassen, wenn es doch darum geht, das für Uruguay immer noch existierende koloniale System aufzubrechen und sich von imperialistischen Weltbankstrukturen loszueisen?
Von den revolutionären Perspektiven der 1970er Jahre will Mujica heute nichts mehr wissen. Trotzdem: Er ist ein Präsident, der mit dem Mofa durch die Gegend fährt, sein Präsidentengehalt mit dem Volk teilt und eine enge Verbindung zu den Ärmsten des Landes pflegt. Er ist eine Persönlichkeit, die die Herzen vieler bewegt und die Hunger und Armut in der Bevölkerung bekämpfen will - nicht jedoch ihre Ursachen.
Antje Vieth, Carlos "Castor" Ramos