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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 546 / 22.1.2010

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Organizing stellt auch das Selbstverständnis der Gewerkschaften in Frage

Längst ist Organizing in aller Munde. Und dennoch gibt es ein seltsames Missverhältnis. Der Vielzahl von Veranstaltungen, Artikeln und Tagungen stehen wenige praktische Erfahrungen gegenüber. Vermutlich gibt es in Deutschland mehr Diplom- und Doktorarbeiten über Organizing als OrganizerInnen. Deshalb geht es in diesem Artikel nicht um abstrakte Konzepte, sondern um konkrete Erfahrungen - aus dem laufenden ver.di-Organizing-Projekt an den Universitätskliniken in Niedersachsen.

"Wie viele Unterschriften sind es geworden?" "816." Jessi* trägt die Zahl auf ihrem Notizzettel ein. Dort steht, was sie Schmidt*, dem zuständigen Präsidiumsmitglied für das Ressort Krankenversorgung am Universitätsklinikum, gleich bezüglich des "Bettenproblems" mitteilen möchte. Sie spielt mit zwei Kolleginnen noch einmal alles durch: Wer sagt was, in welcher Reihenfolge. Es bleiben noch zehn Minuten, dann ist es so weit. Fünfzehn Krankenschwestern wollen dem Präsidium die Unterschriften übergeben, die sie in den letzten vier Wochen auf den Stationen gesammelt haben. Die anderen Kolleginnen rauchen eine letzte Zigarette. Nervosität macht sich breit. Keine hat Schmidt bisher aus der Nähe gesehen, geschweige denn persönlich mit ihm gesprochen. Wie wird er wohl reagieren? Immerhin haben über 800 KollegInnen unterschrieben, dass die aktuelle Bettensituation ihnen schwer zu schaffen macht - mehr als die Hälfte aller in der Pflege Beschäftigten. Schmidt kann das einfach nicht ignorieren.

Den Kollegen reicht es nicht, dass Schmidt "mal sieht"

Die Kolleginnen ziehen los, durch die Ladenpassage in den Keller des Universitätsklinikums, wo das Präsidium seine Büros hat. Schmidt ist überrascht, als so viele Kolleginnen sein Büro betreten. Das hat es bislang nicht gegeben. Er hört sich die Schilderungen aus dem Arbeitsalltag der Krankenschwestern an: "Häufig haben morgens einbestellte Patienten erst zum Abendessen ein Bett. Das heißt, dass die Patienten bis zu acht Stunden auf dem Flur warten müssen." Eine andere Kollegin beschreibt, was dies für ihre Arbeitssituation bedeutet: "Die Pflege selbst ist schon stressig genug. Wir können nicht auch noch auf andere Stationen gehen, um dort um frische Betten zu betteln."

Schmidt zeigt sich einsichtig. Das Problem sei bekannt, er werde sehen, was er tun kann. Doch den Kolleginnen reicht es nicht, dass Schmidt "mal sieht". Sie wollen eine schriftliche Antwort in zwei Wochen und zwar an eine ver.di E-Mail Adresse. Das geht Schmidt zu weit: "Das Präsidium lässt sich nicht unter Druck setzen." Und an ver.di werde er schon gar nicht antworten, schließlich handle es sich hierbei um eine interne Angelegenheit zwischen dem Präsidium und den MitarbeiterInnen. "Ich bin Krankenschwester, und ich bin in ver.di organisiert, weil das für mich die einzige Möglichkeit ist, meine Arbeitsbedingungen zu verbessern," erwidert eine Kollegin. Schmidt versichert, dass es jedem freistehe, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren, betont aber immer wieder, dass die Gewerkschaft für Tarifverhandlungen zuständig und die Bettenfrage kein Tarifgegenstand sei.

Dass die Gewerkschaft eine handlungsfähige Gruppe in seinem Betrieb ist, aus Krankenschwestern und Krankenpflegern, BetriebstechnikerInnen und DiätköchInnen, die sich zusammentun, um ihre unmittelbaren drängenden Probleme am Arbeitsplatz zu lösen, will er nicht wahrhaben. Bei Zuständen, die viele KollegInnen schon von "gefährlicher Pflege" sprechen lassen, bedeutet das Umsetzen des Organizing-Ansatzes jedoch, dass die KollegInnen permanent die drastische Überarbeitung des Pflegepersonals thematisieren, skandalisieren und zum Ausgangspunkt von Kämpfen machen.

Deshalb wird Schmidt nicht müde zu betonen, dass die Gewerkschaft nicht Teil des Betriebes sei, sondern außerhalb stehe. Das kann er (noch), weil es das erste Mal ist, dass die KollegInnen in einer gemeinsamen Aktion außerhalb einer Tarifrunde Missstände an ihrem Arbeitsplatz beseitigen wollen. Aber was, wenn dieser Prozess zum Dauerzustand wird?

In diesem kleinen Konflikt deutet sich eine große Veränderung an. Er verweist darauf, was Gewerkschaften sein könnten. Organizing ist nicht bloß eine Technik für das Führen effektiver Gespräche oder - wie vor allem viele Hauptamtliche der Gewerkschaft meinen - eine Methode zur Mitgliedergewinnung, sondern eine grundsätzliche Veränderung des Bildes von Gewerkschaft. Um Organizing in einen emanzipatorischen und schlussendlich effektiven Organisierungsprozess münden zu lassen, müssen alle Beteiligten umdenken und neu handeln bzw. selbst zu handeln lernen. Die Haupt- und Ehrenamtlichen wie Gewerkschaftssekretäre, Betriebs- und Personalräte, die Kolleginnen, das "einfache" Mitglied, aber auch die vielen Unorganisierten und nicht zuletzt wir, die OrganizerInnen.

Die Mehrzahl der KollegInnen hört von der Gewerkschaft in der Regel zu zwei immer wiederkehrenden Gelegenheiten: Einmal, wenn es um die Aushandlung eines neuen Tarifvertrags geht (in der Regel alle zwei Jahre), und zweitens, wenn die ver.di-Liste Wahlkampf macht, weil der Betriebs- oder Personalrat neu gewählt wird (alle vier Jahre). Die sinkende Bedeutung von Tarifverträgen (in den ostdeutschen Ländern liegt die Tarifbindung mittlerweile unter 50 Prozent) und die Zunahme betriebsratsfreier Zonen haben dazu geführt, dass es in vielen Bereichen keine (sichtbare) Gewerkschaft mehr gibt. In diesen Fällen tritt die Gewerkschaft im Alltag nicht oder nur selten auf; meistens als individuelle Rechtsberatung für einzelne Mitglieder oder für Betriebs- und Personalräte.

Gerade deshalb ist es entscheidend, dass die KollegInnen ein anderes Gewerkschaftsbild entwickeln. Niemand wird kommen und ihre Probleme lösen, aber sie können sich organisieren und "es selbst in die Hand nehmen", wie es auch auf einem Plakat heißt, das die KollegInnen der Universitätsklinik im Sommer entworfen haben. Gewerkschaft ist eben mehr als Tarifauseinandersetzung. Gewerkschaft muss heißen, überhaupt zu wissen, was die eigenen Rechte sind, dann auch in der Lage zu sein, diese durchzusetzen, und zu verstehen, dass man selbst in diesem Prozess die Verantwortung übernehmen muss.

Schwer ist dieser Umdenkprozess auch für Hauptamtliche der Gewerkschaft. Wer jahrelang stellvertretend für die KollegInnen gesprochen, Flugblätter geschrieben und verhandelt hat, muss vieles an seinem bisherigen Selbstverständnis und seinen Routinen ändern. Natürlich würde es oft schneller gehen, das Flugblatt selbst zu verfassen oder eine kurze Rede für die Personalversammlung vorzubereiten, als sich mit zehn KollegInnen hinzusetzen, die wenig Schreiberfahrung haben. Oft fehlt den vielfach überarbeiteten GewerkschaftssekretärInnen dazu die Zeit, oft ist es aber auch eine Frage der Einstellung und der Einsicht, warum es wichtig ist, dass die KollegInnen genau das lernen und praktizieren. Doch nur so kann der zentrale Grundsatz des Organizing erfahrbar werden: Die Gewerkschaft - das sind die aktiven Kolleginnen und Kollegen im Betrieb. Und diese vertreten ihre Interessen selbst!

Organizing bedeutet auch ein Umdenken der Gewerkschaft

Im Organizing finden wir durch direkte Gespräche mit den KollegInnen heraus, was die drängenden Probleme am Arbeitsplatz sind, für deren Lösung wir gemeinsam kollektive Handlungsstrategien entwickeln und umsetzen. Es ist nicht einfach, in einem Krankenhaus Konflikte zu finden, deren Lösung nicht gleich die Personalfrage auf den Plan ruft. Wenn man eine Krankenschwester fragt, was sie am schnellsten in ihrem Job verändern würde, lautet die Antwort normalerweise: "Wir brauchen mehr Personal."

In den letzten Jahren hat es in den Krankenhäusern einen massiven Stellenabbau gegeben. 50.000 Stellen aus dem Pflegebereich sind weggefallen. Die enorme Arbeitsverdichtung und Überlastung endet nicht mit der Schicht: "Häufig gehe ich mit einem schlechten Gewissen nach Hause," so beschreiben viele Krankenschwestern den Konflikt mit sich selbst. Es belastet sie, dass sie nicht da waren, als die Patientin aus dem Bett fiel, oder dass sie keine Zeit hatten, den Patienten zu waschen. Im Rationalisierungsprozess der vergangenen Jahre ist vor allem eines verloren gegangen: die menschliche Seite der Pflege - und damit der Grund, warum sich viele für den Job entschieden haben. Es gibt keine Zeit mehr für Patientengespräche. Die Krankenschwestern haben das Gefühl, die PatientInnen hängen zu lassen, sie im wahrsten Sinne des Wortes "in der Scheiße liegen" lassen zu müssen.

Es ist also nicht verwunderlich, dass die Lösung aller Probleme vor allem in der Personalfrage gesehen wird. Es ist jedoch auch die Frage, die mit am schwersten zu lösen ist. Wenn man es mit einer Belegschaft zu tun hat, die nicht organisiert ist, sondern frustriert und resigniert, sollte man nicht gleich das dickste Brett anbohren, sondern an einem Konflikt kollektive Widerstandstechniken erproben, der gewinnbar ist.

Nach vielen ausführlichen Gesprächen mit Krankenschwestern und -pflegern im Betrieb stellte sich heraus, dass es auch unterhalb der Personalfrage Probleme gibt, deren Lösung eine spürbare Entlastung im Alltag bedeuten könnte: mangelnde Einarbeitung neuer KollegInnen, keine Pausen, fehlende oder unzureichende Kommunikation mit den ÄrztInnen, veraltete Geräte oder fehlende Betten. Im 1x1 des Organizing heißt es: Das Problem muss viele (besser: eine Mehrzahl) der KollegInnen betreffen. Es muss ein "brennendes Anliegen", und es muss gewinnbar sein. Um zu ermitteln, welches der genannten Probleme diese Anforderungen am besten erfüllt, organisierten wir gemeinsam mit den Aktiven aus der Pflege einen Aktionstag. 15 KollegInnen unterstützt von 15 externen GewerkschafterInnen sprachen an diesem Tag mit rund 200 KollegInnen direkt auf den Stationen. Das Ergebnis war nicht eindeutig, aber es gab eine Tendenz wieder.

Schließlich entschieden sich die KollegInnen dafür, die fehlenden Betten zum Gegenstand eines Konflikts zu machen. Im Gegensatz zur Personalfrage schien dieses Problem beides zu sein. Es betrifft eine Mehrzahl, und es ist gewinnbar. Gewinnbar deshalb, weil es für den Arbeitgeber ein finanziell überschaubarer Aufwand ist, eine einmalige Investition. Und eine Investition, die nicht nur den Pflegenden, sondern auch "den Kunden" - wie heute die PatientInnen am Klinikum heißen - zu Gute kommt.

Die Bettenfrage - ein Konflikt, der gewinnbar ist

Die ersten Schritte wurden geplant: eine Petition zur Abschaffung des Problems, die möglichst viele KollegInnen - mindestens aber die Hälfte der in der Pflege Beschäftigten, das heißt mindestens 700 - unterschreiben sollten; eine repräsentative Delegation, die dem verantwortlichen Präsidiumsmitglied die Unterschriften übergibt.

Drei Monate haben wir von der Einigung auf ein Problem und der Verabredung eines Plans bis zum vorläufigen Abschluss benötigt: der Übergabe der Petition. Drei Monate, in denen neben zahlreichen Einzelgesprächen und Pausendiskussionen auf den Stationen und in den Raucherecken des Klinikums auch ein regelmäßiges monatliches Treffen etabliert wurde, an dem sich KollegInnen von immer mehr Stationen beteiligen und das vor allem auch eine Basis für weitere Aktionen sein kann.

Mitte Dezember 2009 gab es eine erste Reaktion des Präsidiums: Es seien noch in diesem Jahr 30 neue Betten bestellt worden, die im Januar geliefert würden. Für das nächste Jahr sei die Anschaffung neuer Betten bereits im Budget vorgesehen. Nun gilt es zu überprüfen, ob tatsächlich Betten in der geforderten Größenordnung angeschafft werden, ob die Anzahl ausreicht, um die KollegInnen zu entlasten, und, wenn dem so ist, diesen Erfolg zu feiern.

Es ist natürlich eine Gratwanderung, in einem Betrieb, in dem eigentlich schon lange Land unter ist und die KollegInnen der Arbeitsbelastung kaum noch standhalten können, eine Mobilisierung in Gang zu setzen, in der es um die Anschaffung neuer Betten geht. Es scheint zunächst banal, ein kleiner Schritt. Gleichzeitig ist es ein notwendiger Schritt, um überhaupt erfahrbar zu machen, dass kollektive Organisierung eine Verbesserung der Arbeitssituation bedeutet. Diese Erfahrung haben die meisten KollegInnen nicht. Es geht um die Erfahrung, dass sich etwas verändern kann - auf der Arbeit und in der Gewerkschaft.

Einige ver.di OrganizerInnen

* Namen geändert