Jenseits von Brutto und Netto
Mit Organizing aus der Krise?
Arme Gewerkschaften - was ist nur aus ihnen geworden? Es gab Zeiten, da waren sie echte Schwergewichte in der politischen Landschaft. Regierungen mussten sich mit ihnen arrangieren, Unternehmen auf ihre Forderungen eingehen. Und heute? Tarifbindung, Reallöhne, Mitglieder - alles läuft rückwärts statt vorwärts! Während die FDP für ihre Klientel munter mehr Netto vom Brutto verlangt und bereits verteilt, wären die Gewerkschaften schon froh, wenn es zur Abwechselung überhaupt mal etwas Brutto gäbe.
Doch in der Krisen-Tarifrunde 2010 ist nicht viel zu erwarten. Die IG Metall hat in ihrer großen Mitgliederbefragung ermittelt, dass Arbeitsplatzsicherheit oberste Priorität genießt; mehr Lohn ist demgegenüber zweitrangig. Verhandeln wird die Gewerkschaft diese "Forderung" ab Frühjahr in der Metall- und Elektroindustrie. Auch das Auftreten von ver.di ist bestenfalls verschämt zu nennen. Ihre mehr als berechtigte Fünf-Prozent-Forderung für den öffentlichen Dienst bringt die Dienstleistungsgewerkschaft ohne notwendige Verve und zu defensiv vor. Und sie muss sich nicht wundern, dass die kommunalen Arbeitgeber sie entsprechend als "maßlos" zerpflücken.
Bei der Lohnentwicklung ist Deutschland inzwischen Schlusslicht in Europa. Anders als in allen anderen europäischen Ländern gingen in Deutschland die Reallöhne zurück. Sollte man also die Entwicklung der Arbeitseinkommen der letzten Jahre mit einem Tanzschritt darstellen, käme wohl nur der Moonwalk in Frage. Das ist nicht zuletzt ein Ergebnis der neoliberalen Reformen unter Rot-Grün. Und der zahmen Politik der Gewerkschaften.
Im vergangenen Jahrzehnt wurde "die Klasse" gründlich neu zusammengesetzt, die alte soziale Basis der Gewerkschaften ist verschwunden. Unbefristet und Vollzeit, männlich und deutsch war gestern - Teilzeit, weiblich und migrantisch, mini, selbstständig und prekär ist heute. Für die Gewerkschaften wird es immer schwerer, diese Menschen zu organisieren - und zum Teil hat man in den Gewerkschaftsapparaten noch nicht einmal verstanden, dass der ausschließliche Fokus auf den männlichen deutschen Facharbeiter aufgegeben werden muss.
Die Folgen davon kann man an den Mitgliederzahlen ablesen: Nur noch rund 6,3 Millionen Mitglieder zählen die DGB-Organisationen. Vor zehn Jahren waren es noch acht Millionen. Kurzum: Die Gewerkschaften haben den Anschluss verloren. Sie sprechen nicht fürs Preka- und Proletariat von heute.
Sollen sie auch nicht! Das meinen zumindest jene, die seit einigen Jahren auf die Mobilisierung der betrieblichen Basis setzen. Sie fordern die Abkehr von den alten Verhandlungs- und Vertretungsroutinen. Erst einmal zuhören und dann dafür sorgen, dass sich die Beschäftigten selber helfen und für ihre Interessen einsetzen, empfehlen sie. Unter dem Schlagwort "Organizing" wird die Orientierung an den Interessen der (potenziellen) Mitglieder mittlerweile in der IG BAU, der IG Metall und bei ver.di erprobt. Von ersten Resultaten dieses Ansatzes berichten wir auf den Themen-Seiten 13-16.