Islamfeindlichkeit und Antisemitismus - ein schwieriger Vergleich
Ein Versuch, die "Benz-Broder-Debatte" zu versachlichen
Ist es legitim, Islamfeindlichkeit mit Antisemitismus zu vergleichen? Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, hat das getan. (1) Dafür wurde er von dem Publizisten Henryk M. Broder heftig attackiert. (2) Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik dagegen ist der Meinung, "dass Wolfgang Benz, was die sozialpsychologische Sache angeht, mit seinem Vergleich der heutigen Islamfeindlichkeit und der Judenfeindschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts völlig recht hat." (3) Zugleich plädiert er dafür, in der Auseinandersetzung den Ton zu mäßigen. Im Folgenden versucht Achim Bühl, die Debatte zu versachlichen und mit Argumenten zu führen.
In seiner Erwiderung auf den Artikel von Wolfgang Benz schreibt der Publizist Henryk M. Broder, dass ein Vergleich von Islamfeindlichkeit und Antisemitismus genauso geistreich sei wie ein Vergleich zwischen Wehrmacht und Heilsarmee, zwischen Bikini und Burka sowie zwischen der GEZ und der Camorra. Der Vergleich sei also mindestens als unsinnig zu bezeichnen. Wir wollen diese sowie andere Thesen seines mit der provokanten Frage "Sind Muslime die Juden von heute?" überschriebenen Essays im Folgenden überprüfen.
Der Titel seines Essays ist in der Tat eine Provokation, da weder Herr Benz noch andere Personen, die einen komparatistischen (vergleichenden; Anm. ak) Ansatz für sinnvoll erachten, die Position, dass Muslime die Juden von heute seien, je geäußert hätten. (4) Vielmehr zeigt die über 2000-jährige Geschichte des Antisemitismus, dass dieser bislang leider nicht erfolgreich bekämpft bzw. gar besiegt werden konnte, so dass von einer Ersetzung in keiner Weise die Rede sein kann, wohl schon gar nicht in Deutschland, wo ich eine Synagoge nur nach Leibesvisitationen betreten kann und Angst haben muss, wenn ich in der Öffentlichkeit eine Kippa trage.
Die Position, ein komparatistischer Ansatz führe zur "Trivialisierung des Holocaust", wie der Politologe Matthias Küntzel behauptet, ist ebenfalls eine Unterstellung, da von den kritisierten Wissenschaftlern niemand beabsichtigt, Demonstrationen gegen den Bau von Moscheen mit der Ermordung von 6 Millionen europäischer Jüdinnen und Juden gleichzusetzen. Eine Relativierung der Shoa muss bekämpft werden, egal in welchem Gewand sie auftritt. Gäbe es eine Bereitschaft, den Text von Herrn Benz ernsthaft zu lesen, so hätte man zur Kenntnis nehmen können, dass das Ziel des komparatistischen Projekts darin besteht, den aktuellen antiislamischen Diskurs mit dem relativ gut analysierten Antisemitismus des 19. Jahrhunderts mit der Intention zu vergleichen, Funktionen und Ursachen, Stereotype und Ideologeme, Ausgrenzungsmechanismen und Pejorisierungskalküle (gezielte Abwertungen; Anm. ak) besser zu verstehen, um effektive und erfolgreiche Strategien gegen eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu entwickeln, wovon derzeit vor allem das Judentum und der Islam betroffen sind.
Micha Brumlik weist auf den Sachverhalt hin, dass es bei den Juden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zwar keine gewaltbereiten Gruppierungen oder ähnliches gegeben habe, es aber bei Antisemitismus und Islamfeindlichkeit immer so sei, dass partielle Tatsachen mit einem generalisierenden Verdacht über eine ganze Bevölkerungs- und Religionsgruppe vermischt würden. Auch er hält einen Vergleich der heutigen Islamfeindlichkeit mit der Judenfeindschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts für durchaus gerechtfertigt. Unterzieht man sich der Mühe, die Originalschriften des 19. Jahrhunderts zu lesen, dann wird in der Tat die paradigmatische Funktion des Antisemitismus anhand zahlreicher struktureller Analogien überdeutlich.
Erstens: "Die Juden", so heißt es in diversen Pamphleten der Antisemiten, würden einen Staat im Staate bilden, sie hätten ihre eigenen Gesetze, wären nicht bereit sich zu integrieren, sie seien gegenüber der Obrigkeit illoyal und würden die preußische Gesellschaft und ihre Ordnung nicht respektieren. Parallelen: Leitkulturdebatte im Jahr 2005; Diffamierung von Muslimen als "integrationsunwillig" bei Thilo Sarrazin (vgl. ak 544); Sharia als "eigenes Gesetz", das angeblich das Grundgesetz ablösen solle; die Parallelgesellschaftsdebatte.
Zweitens: Der Journalist Otto Glagau erläutert im Vorwort der Erstausgabe der ab 1880 erschienenen Zeitschrift Der Kulturkämpfer das Programm der Zeitschrift wie folgt: Es "ist aber inzwischen ein wirklicher natürlicher Kulturkampf heraufgezogen. Es handelt sich um die Erhaltung Deutscher Art und Deutscher Sitte gegenüber einem fremden Stamme, der mit seinem Wesen und Treiben alles überwuchert und unsere ganze Kultur bedroht." Parallelen: Samuel P. Huntington: "Kampf der Kulturen"; Kulturalismus als postmoderner Neorassismus.
Drittens: Analysiert man Zeitungen und Zeitschriften wie z.B. Die Gartenlaube oder die Kreuzzeitung, so finden sich gehäuft Passagen wie die folgenden: "Die Kinder Israel vermehren sich in Berlin ebenso heftig wie einst in Aegypten", und "90 Prozent der Gründer und Börsianer sind Juden". Parallelen z. B. bei Sarrazin: "Auch Einzelhandel und Banken waren (vor 1933) großenteils in jüdischem Besitz", um später dann fortzufahren: "Die Araber und Türken haben einen zwei- bis dreimal höheren Anteil an Geburten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht".
Viertens: Im 19. Jahrhundert werden "die Juden" verstärkt als omnipotente Verschwörer dargestellt, welche die Weltherrschaft an sich reißen wollen und hierfür noch das religiös verbriefte Recht besäßen, "Andersgläubige" und "Ungläubige" zu belügen, zu betrügen, zu täuschen und zu unterwerfen. Parallelen: Sie finden sich in grotesken Unterwanderungsszenarien im Blog Politically Incorrect sowie in der diffamatorischen Auslegung der muslimischen Taquia ("Notstandsrecht") als Täuschungs-, Verstellungs- und Betrugsrecht gegenüber Andersgläubigen.
Fünftens: Die jüdische Religion wird in den mit hohen Auflagen verbreiteten antisemitischen Schriften des wilhelminischen Kaiserreichs als aggressiv, boshaft, kalt und inhuman sowie als nicht modernisierungsfähig diffamiert. Eine pseudowissenschaftliche Berechtigung hierfür erfolgt durch "Belege" anhand von Stellen aus Tora und Halacha, ohne deren Sinn, Kontext, historische Bedeutung oder Auslegungspraxis auch nur zu kennen oder zu prüfen. Parallelen: Die Flugschrift der Aktion 3. Welt Saar (Herbst 2008) mit dem Leitzitat: "Es gibt viele moderate Moslems, doch der Islam selber ist nicht moderat"; die "Koranexegese" sogenannter selbsternannter "Islamkritiker"; die Ablehnung gemeinsamer jüdisch-muslimischer Bräuche wie das Schächten und ihre Diffamierung als tierfeindlicher Ritus, die Darstellung des Islam als herrschsüchtige "Unterwerfungsreligion".
Sechstens: Analysiert man komparatistisch Teildebatten, so ist die Parallele zwischen den "Synagogenbaustreitigkeiten" sowie der "Moscheebaudebatte" offensichtlich, auf die bereits Ian Leveson sowie Salomon Korn hinwiesen. Die im Zeitalter von Historismus und Orientalismus im neoislamischen Stil gebauten Synagogen wurden von antisemitischer Seite als "undeutsch" sowie als "nicht in das Ortsbild passend" ausgegrenzt. Konservative Kräfte erhoben die Forderung nach Kontrolle der Talmud-Schulen, nach Übersetzung religiöser Texte sowie von Predigten in die deutsche Sprache. Parallelen: Diffamierung von Moscheen als "fremd", Instrumentalisierung von Bestimmungen des Baurechts, lokale Verhinderungsstrategien gegen Moscheebauten etc.
Siebtens: Es ist auffallend, dass sowohl der Berliner Antisemitismusstreit der Jahre 1879 bis 1881 als auch der islamfeindliche aktuelle Diskurs in Zeiten einer vergleichsweise eher als "Integrations- und Gleichstellungphase" zu bezeichnenden Epoche stattfanden bzw. -finden. Die "Fremdenfeinde" stören sich gerade nicht an "desintegrativen Tendenzen", sondern eher am Maß der bereits erreichten Integration und Normalität. Auch wenn sie vorgeben, "desintegrative Entwicklungen" zu kritisieren, befürchten sie eher einen fortschreitenden Normalisierungsprozess, in dem assimilative Forderungen und Tendenzen durch Bereicherung aus gegenseitigem Einfluss und Befruchtung abgelöst werden (vgl. die "Antisemiten-Petition" von 1880, welche die Aufhebung der Gleichstellung jüdischer Bürger in Deutschland forderte!).
Achtens: Es verwundert folglich nicht, dass - komparatistisch betrachtet - die Träger beider Diskurse aus der wissenschaftlichen, publizistischen und politischen Elite des Landes stammen und die Funktion der Debatte maßgeblich darin bestand bzw. besteht, die Diskussion in gehobene Schichten, das Bildungsbürgertum, die intellektuelle Linke, liberale Kreise und die Universitäten hineinzutragen ("Elitenrassismus").
Neuntens: Die Islamfeinde ("Islamkritiker") ähneln auch im Umgang mit ihren Gegnern ihrem antisemitischen Vorbild Heinrich von Treitschke. Wie dieser hegen sie nicht nur eine Verachtung für Zuwanderer und ihre Kultur, sondern sie hassen noch viel stärker die "(liberalen) Gutmenschen", die der Gefahr der "Judaisierung" bzw. "Islamisierung" nicht entgegentreten und die der Bedrohung der "jüdischen" bzw. "muslimischen Verschwörung" nicht ins Auge blicken. Seinen Hass bringt Heinrich von Treitschke in der Losung "Die Juden sind unser Unglück" zum Ausdruck, für die Islamfeinde von heute ist dies der Ausspruch "Der Islam ist das Problem".
Zehntens: Der Berliner Antisemitismusstreit markiert zugleich den Übergang zum modernen Rassenantisemitismus. Als Transformationsprozess mischt er Neues mit Altem, christlich-inspirierte Judenfeindschaft, Fremdenfeindlichkeit und sozialdarwinistischen Rassismus. Auch die moderne Islamfeindlichkeit speist sich aus heterogenen Quellen, zu denen nicht zuletzt die christliche Islamfeindlichkeit zählt. Zwar mag der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker um Dimensionen hassgetränkter gewesen sein, doch auch der evangelisch-lutherische Theologe Wolfgang Huber hat die Hassschriften Martin Luthers zum Islam ("Reichsfeinde", "gewalttätige Häretiker") nicht nur gelesen, sondern singt das ursprünglich gegen den Islam gerichtete Lutherlied "Ein feste Burg ist unser Gott" freudig mit. Die noch immer nicht zurückgezogene Islam-Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland "Klarheit und gute Nachbarschaft" ist kein Dokument der christlichen Versöhnung, sondern rauschendes Wasser auf die Mühlen des "Islam-Bashing".
Wissenschaftlich vergleichen bedeutet dabei nie gleichsetzen; wie weit der Vergleich trägt, wird erst noch zu prüfen sein. Welche Erkenntnisse und Lerneffekte lassen sich aber bereits jetzt konstatieren bzw. vermuten? Erstens: Von elementarer Bedeutung ist natürlich die Frage nach den Ursachen der konstatierten Analogien. Die Antwort verweist auf den äußerst erschreckenden Tatbestand, dass antisemitische Stereotype, Theoreme und Argumentationsmuster nie wirklich ernsthaft aufgearbeitet und zurückgewiesen wurden, so dass sie nahezu problemlos auf eine andere Opfergruppe transferierbar bzw. duplizierbar sind. Zweitens: Die Feststellung der bereits auf den ersten Blick überraschenden Tiefe vergleichbarer Ausgrenzungsmechanismen verdeutlicht, dass der Antisemitismus in dieser Gesellschaft weiterhin voll präsent und tief verwurzelt ist sowie generationenübergreifend internalisiert wurde. Drittens: Der Antisemitismus des Kaiserreichs war in seiner Intensität und Verbreitung um ein Vielfaches größer dimensioniert als die heutige Islamfeindlichkeit. Durch einen legitimen Vergleich darf dieser posthum nicht in einem milderen Licht erscheinen oder dadurch gar entlastet werden. Viertens: Da es sich bei vielen islamfeindlichen Topoi ursprünglich um antisemitische Muster handelt, ist die Gefahr groß, dass diese, stoßen sie nicht zügig in unserer Gesellschaft auf entschiedenen Widerstand, auch das antisemitische Potenzial verstärken. Fünftens: Eine didaktische Aufarbeitung des Vergleichs kann nicht zuletzt dabei helfen, antisemitische Tendenzen von Teilen muslimischer Jugendlicher reflektieren und aufarbeiten zu lassen sowie zurückzuweisen.
Achim Bühl
Achim Bühl, Prof. Dr. phil. habil., Professur für Soziologie mit den Schwerpunkten Migrationssoziologie und Islamwissenschaften, Techniksoziologie und Zukunftsforschung an der Beuth Hochschule für Technik Berlin
Anmerkungen:
1) Wolfgang Benz: Antisemiten und Islamfeinde. Hetzer mit Parallelen. Süddeutsche Zeitung, 4.1.10
2) Henryk M. Broder: Sind Muslime die Juden von heute? Die Welt, 13.1.10
3) Neue Feindschaft, alte Muster. Erziehungswissenschaftler: Islamophobie und Antisemitismus sind vergleichbar Micha Brumlik im Gespräch mit Britta Bürger. Deutschlandradio Kultur, 28.1.10
4) Siehe vor allem: Wolfgang Benz (Hg:): Islamfeindschaft und ihr Kontext. Dokumentation der Konferenz "Feindbild Muslim - Feindbild Jude", Berlin 2009, sowie zu grundlegenden Gedanken bezüglich des Verhältnisses von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit vor allem: Sabine Schiffer/Constantin Wagner: Antisemitismus und Islamophobie. Ein Vergleich, Wassertrüdingen 2009