Die Schatten der Katastrophenhilfe
Nach dem Beben droht Haiti zum Protektorat zu werden
"The government is sitting, we are working" - diese Äußerung eines Sprechers des US-Außenministeriums drückt das ganze Missverhältnis zwischen der haitianischen Regierung und der Supermacht USA im Angesicht der Katastrophe aus. Nach dem Erdbeben vom 12. Januar, bei dem über 200.000 Menschen ihr Leben verloren, 300.000 Menschen verletzt und Hunderttausende obdachlos wurden, vermittelt sich in den Medien ein altbekanntes Bild. Der haitianische Präsident René Préval ist nirgends zu sehen, der US-Botschafter Kenneth Merten präsentiert sich als tatkräftiger Katastrophenmanager. Beginnt im Schatten der humanitären Hilfe eine erneute Okkupation Haitis?
Nur wenige Tage nach dem Beben vollzog sich ein militärischer Aufmarsch von mittlerweile über 20.000 US-SoldatInnen. Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton soll nun als Sondergesandter der Vereinten Nationen die internationale Hilfe in Haiti koordinieren. Völlig ungeklärt bleibt, welche Rolle die demokratisch gewählte haitianische Regierung beim Aufbau in ihrem Land spielen soll. Sie hatte unmittelbar nach dem Beben die Kontrolle des Hafens und des Flughafens von Port-au-Prince an die US-Armee abgegeben.
Doch Ende Januar beschwerte sich René Préval öffentlich darüber, in die Koordinierung der Hilfs- und Aufbauarbeiten nicht einbezogen und über die Vorgänge auf dem Flughafen nicht informiert zu sein. In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Präsidenten von Ecuador, Rafael Correa, prangerte dieser den "Imperialismus der Geberländer" an. Eine Woche später beklagte der haitianische Premierminister Jean Max Bellerive, die Regierung habe weder die Kontrolle noch einen Überblick darüber, was im Land mit dem vielen Geld aus den Geberländern geschieht, da diese ihre Unterstützung über Nichtregierungsorganisationen abwickeln und die haitianische Regierung nicht einbeziehen.
Der Imperialismus der Geberländer
Zugleich stieß die starke militärische Präsenz der USA in Haiti auf die Kritik vieler HelferInnen, die beklagten, die Situation nach dem Erdbeben werde vor allem als Sicherheitsproblem definiert. Berichte von der großen Disziplin der HaitianerInnen, von gegenseitiger solidarischer Unterstützung und der Gründung von Nachbarschaftskomitees drangen nicht durch. Der überzogene militärische Aufmarsch steht in keinem Verhältnis zu den wahren Herausforderungen. Die sind humanitärer und nicht militärischer Natur. Dass die Militarisierung der Hilfe darüber hinaus kontraproduktiv war, möglicherweise sogar zusätzliche Menschenleben gefordert hat, darauf deuten Klagen von Hilfsorganisationen und anderen Geberländern hin, die auf Grund der enormen Militärpräsenz auf dem Flughafen von Port-au-Prince ihre Hilfsflüge nach Santo Domingo in der Dominikanischen Republik umleiten und die Hilfsgüter auf dem Landweg nach Haiti bringen mussten.
Die Ankunft von Bill Clinton in Port-au-Prince am 6. Februar war begleitet von Protest auf der einen, von Hoffnung auf Hilfe auf der anderen Seite. Am Flughafen und vor der US-Botschaft demonstrierten Hunderte Menschen gegen die schleppende Verteilung der Hilfsgüter. Zugleich steht auf Hauswänden geschrieben "Danke, Amerika" und "Bitte hilf uns, Amerika". Eine Hass-Liebe seit vielen Jahrzehnten. So war es auch 1994, als ausgerechnet die USA unter dem damaligen Präsidenten Clinton mit einer Militärintervention den demokratisch gewählten linken Präsidenten Jean-Bertrand Aristide nach Haiti zurückbrachten, der drei Jahre zuvor durch einen Militärputsch gestürzt worden war. Damals waren in Port-au-Prince Wandgemälde zu sehen, auf denen Bill Clinton als strahlender Held verehrt wurde.
Schnell offenbarte sich damals die Kehrseite des vermeintlich großzügigen US-Engagements: Vor seiner Rückkehr nach Haiti hatte Aristide in ein neoliberales Strukturanpassungsprogramm einwilligen müssen, das unter anderem die Privatisierung aller staatlichen Großbetriebe und die Halbierung der öffentlichen Lohnsumme vorsah. Die Auseinandersetzungen über die Umsetzung dieses Programms stürzten Haiti abermals ins politische Chaos. Die USA verloren ihr Zutrauen in den Umsetzungswillen des haitianischen Präsidenten. Mit der Präsidentschaft von George Bush Jr Anfang 2001 wandelte sich das Misstrauen in offene Gegnerschaft. Die USA investierten Millionen in den Aufbau der Opposition gegen Aristide. Im Februar 2004 wurde er mit Hilfe bewaffneter rechter Milizen erneut gestürzt. US-Militär war sofort zur Stelle, holte den Präsidenten aus seiner Residenz in Tabarre und flog ihn in die Zentralafrikanische Republik aus. Eine multinationale Eingreiftruppe aus den USA, Frankreich, Kanada und Chile besetzte Haiti und übergab die Kontrolle wenige Monate später an die UN-Blauhelmtruppe MINUSTAH (Mission des Nations Unies pour la stabilisation en Haïti).
Dass dies ausgerechnet im Jahr des 200-jährigen Jubiläums der Unabhängigkeit geschah, wirft ein grelles Schlaglicht auf den Umstand, dass die Geschichte Haitis seit seiner Unabhängigkeit eine Geschichte der beständigen Einflussnahme durch die USA und die ehemaligen europäischen Kolonialmächte ist. Dabei nutzten diese die internen Klassenauseinandersetzungen in der haitianischen Gesellschaft, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit haben und auch nach der Unabhängigkeitserklärung vom 1. Januar 1804 fortdauerten.
"Haiti produziert nicht, Haiti ist ein Markt"
Als erster unabhängiger Staat Lateinamerikas unterstützte Haiti den Befreiungskampf in Südamerika, bot Simon Bolívar Exil, stellte ihm Soldaten und Schiffe zur Verfügung. Die historisch einmalige Selbstbefreiung der haitianischen SklavInnen läutete das Ende der Sklaverei weltweit ein. Haiti hat damit einen großen Beitrag zum globalen zivilisatorischen Fortschritt geleistet. Doch nach seiner Unabhängigkeit wurde Haiti jahrzehntelang isoliert und boykottiert, weil es den Sklavenhaltern in den USA und den europäischen Kolonialmächten als schlechtes Beispiel galt.
Im 20. Jahrhundert versuchten externe Mächte immer wieder, die haitianische Gesellschaft ihren Interessen gemäß umzugestalten. Von 1915 bis 1934 besetzten die USA Haiti, um die Volkswirtschaft in ihrem Sinne zu modernisieren. Die USA änderten die haitianische Verfassung, um ihren Unternehmen den Erwerb von Grundbesitz zu ermöglichen. Gewaltige Konzessionen für die Einrichtung von Sisal- und Zuckerplantagen wurden vergeben; Hunderttausende von Kleinbauern verloren ihr Land und damit ihre Existenzgrundlagen. Die staatliche Verwaltung und das gesamte ökonomische Leben wurden stark zentralisiert. Unter dieser Zentralisierung aller administrativen und wirtschaftlichen Funktionen auf die Hauptstadt Port-au-Prince leidet Haiti bis heute.
Zugleich wurde die haitianische Gesellschaft in ein Arbeitskräftereservoir für US-Unternehmungen in der gesamten Region verwandelt. Zehntausende HaitianerInnen, die durch die Umstrukturierung in Haiti land- und perspektivlos geworden waren, wurden zur Zeit der Okkupation für den Einsatz auf US-Plantagen in Kuba rekrutiert. Auch dieses Muster setzt sich bis heute fort: Zur Zeit der Herrschaft der Familie Duvalier wurden haitianische LandarbeiterInnen zur Zuckerrohrernte an Plantagen in der Dominikanischen Republik vermittelt - teilweise unter Zwang. Dort verrichteten sie unter sklavereiähnlichen Bedingungen Schwerstarbeit.
Und seit die von der Weltbank und der US-amerikanischen Entwicklungsagentur USAID ab 1986 durchgesetzte massive Zollsenkung für den Import von Nahrungsmitteln viele haitianische Kleinbauern von ihren lokalen Märkten verdrängt und die landwirtschaftliche Produktion in Haiti endgültig ruiniert hatte, wird versucht, die freigesetzte Arbeitskraft in Sweatshops zu lenken. Dort werden zu Niedrigstlöhnen und unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen Jeans und Hemden für multinationale Textilkonzerne genäht, die wiederum zollvergünstigt in die USA exportiert werden.
An der Aufrechterhaltung dieses "Entwicklungsmodells", das Haiti in die vollständige Außenabhängigkeit trieb, haben natürlich nicht nur das Agro-Business und die Textilindustrie in den USA Interesse, sondern auch die haitianischen Eliten, die als Import-Monopolisten und Betreiber der Sweatshops profitable Geschäfte machen. "Haiti produziert nicht, Haiti ist ein Markt", so fassen haitianische Ökonomen den desolaten Zustand ihres Landes, das sich einmal weitgehend selbst mit Grundnahrungsmitteln versorgen konnte, nach Jahrzehnten neoliberaler Politik zusammen.
USA und ALBA konkurrieren um Einfluss
Was kommt nach der Katastrophenhilfe, fragt die Stiftung Wissenschaft und Politik, eines der wichtigsten Beratungsinstitute für die deutsche Außenpolitik, in einer aktuellen Ausarbeitung und stellt mehrere Szenarien vor, von denen die meisten mehr oder weniger deutlich auf die Errichtung eines Protektorats abzielen. Durchaus denkbar, dass eine solche "Lösung" in der einen oder anderen Form auf die internationale politische Agenda gelangt. Haiti wird von den Befürwortern einer Protektoratslösung als "failed state" beschrieben, als gescheiterter Staat, der dringend das professionelle Management wohlmeinender Treuhänder benötigt.
Doch gerade die Politik des Nordens - US-Okkupation, US-Unterstützung für die Diktatur der Familie Duvalier, Liberalisierung und Privatisierungen ab den 1980er Jahren bis heute - hat den Aufbau eines funktionierenden Staates beständig untergraben und deshalb einen gewichtigen Anteil daran, dass sich die Versorgungslage nach dem Erdbeben so katastrophal gestaltete: Buchstäblich alles musste aus dem Ausland eingeflogen werden. Nahrungsmittel aus dem Umland von Port-au-Prince waren rar und verteuerten sich rasch. Keine Infrastruktur stand zur Verfügung, über die man die Versorgung der Erdbebengebiete hätte abwickeln, keine Krankenhäuser außerhalb der Hauptstadt, in die man die Verletzten hätte bringen können.
Vor dem Beben hatte René Préval versucht, seine politische Handlungsfähigkeit durch Annährung an das linke lateinamerikanische Integrationsprojekt ALBA (Bolivarianische Allianz für die Völker Amerikas) zu vergrößern, nahm sogar an ALBA-Gipfeltreffen teil und traf dort Hugo Chávez und Fidel Castro. Seit dem Abschluss eines Abkommens mit Kuba Ende 1998 arbeiteten 6.000 kubanische Ärztinnen und Ärzte in Haiti, Hunderte haitianische Studierende wurden im Rahmen eines Stipendienprogramms in Kuba zu ÄrztInnen ausgebildet. Haiti bezieht seit 2007 als Mitglied der karibischen Energiepartnerschaft PetroCaribe Erdöl aus Venezuela zu günstigen Konditionen. Zuletzt trat Venezuela auch verstärkt als entwicklungspolitischer Akteur in Haiti auf - unter argwöhnischem Blick der USA und der Europäischen Union, die eine weitere Ausdehnung von ALBA verhindern wollen.
Für die USA besteht nun die Gelegenheit, den Einfluss der Konkurrenz aus Lateinamerika zurückzudrängen und durch ihren militärischen Aufmarsch die Kontrolle über Haiti wiederzuerlangen. Auch die EU hat sich an der "Versicherheitlichung" der Katastrophenhilfe beteiligt und 300 Gendarmen nach Haiti geschickt. Die ALBA-Länder sprachen sich denn auch ganz entschieden gegen die US-Militärpräsenz aus. Auf ihrem Gipfel-Treffen am 25. Januar, auf dem ein umfassendes ziviles Hilfsprogramm für Haiti verabredet wurde, appellierten sie an die Vereinten Nationen, zu gewährleisten, dass "die schreckliche Lage, in der sich das haitianische Volk befindet, nicht ausgenutzt wird, um eine neue Okkupationskampagne zu unternehmen". Die Antwort des UN-Sondergesandten Clinton bleibt abzuwarten.
Alexander King