Nothilfe und Selbsthilfe
Interview mit Dieter Müller von medico international
"In den Medien und der internationalen Wahrnehmung unterschätzt man die Tatsache, dass die Selbsthilfe nicht nur spontan entsteht, sondern auch zuvor eine selbstorganisierte Struktur vorhanden war und gleich nach der Katastrophe gearbeitet hat. Ein Sinnbild dafür sind die selbstgemalten Schilder, die die Reporter in die Viertel lenken sollen, damit sie nicht nur die internationale Hilfe abfilmen." Mit Blog-Beiträgen (1) wie diesem versucht medico, die Aufmerksamkeit auch auf solche Ereignisse und Akteure zu lenken, die normalerweise nicht im Zentrum der Berichterstattung über das Beben stehen. Mit Dieter Müller, Repräsentant für Mittelamerika von medico international, sprach Ingo Stützle über soziale Hintergründe der Katastrophe und emanzipatorische Perspektiven in der Nothilfe.
ak: Du bist nun seit Ende Januar in Haiti. Kannst du etwas zu eurer Arbeit vor Ort sagen?
Dieter Müller: Die Arbeit, die wir jetzt angestoßen haben, ergibt sich über die internationalen Netzwerke, in denen medico seit vielen Jahren aktiv ist. Das ist einmal die People's Health Movement, eine internationale Vernetzung von gesundheitspolitischen Initiativen in Lateinamerika, Asien, Afrika und auch in Europa. Über dieses Netzwerk und über das Comite Régional in Mittelamerika, erreichte uns die Anfrage eines Partners aus der Dominikanischen Republik, COSALUP. (2) Das COSALUP hat eine Brigade nach Haiti geschickt, um in der Stadt Léogâne (3) eine Gesundheitsstation aufzubauen. Diese Initiative der dominikanischen KollegInnen unterstützen wir.
Das Beben in Haiti hat schier unfassbare Verwüstungen angerichtet. Hätte ein solches Beben anderswo ähnliche Folgen gehabt?
Die Auswirkungen hängen zum einen von geographischen Faktoren ab: Wo und wie tief liegt das Epizentrum, wie entwickelt sich das Beben etc. Ein Erdbeben dieser Stärke hätte in anderen Ländern durchaus ähnliche Auswirkungen haben können. Der entscheidende Faktor in solchen Fällen ist aber das Zusammentreffen von Mensch und Natur. Die Katastrophe hätte nicht die gleichen verheerenden Auswirkungen, wenn nicht entsprechende Siedlungsstrukturen an diesem Standort wären, und diese sind natürlich wieder Produkt der sozialen und ökonomischen Bedingungen. In den vergangenen Jahren hat es in Haiti eine enorme Landflucht gegeben; immer mehr Menschen haben sich in Port-au-Prince und den umliegenden Gebieten angesiedelt. Dadurch sind Strukturen entstanden, die im Zusammentreffen mit dem Beben die aktuellen unfassbaren Zahlen von über 200.000 Toten und geschätzten 250.000 Verletzten usw. bewirken.
Angesichts der sozialen Verhältnisse vor Ort sind die Auswirkungen eines großen Bebens also vorstellbar gewesen.
Natürlich. Es ist bekannt, dass Port-au-Prince und auch große Teile der Dominikanischen Republik auf einer Bruchlinie der tektonischen Platten liegen. Die Gefahr eines Erdbebens war also bekannt. Wenn man das mit den Hurrikans vergleicht, die in dieser Region noch häufiger sind, dann kann man sehen: Die Hurrikans, die Kuba getroffen haben, haben in der Regel keine Menschenleben gekostet, weil es ein Frühwarnsystem und entsprechende Evakuierungsmaßnahmen gibt. Ein Erdbeben lässt sich nicht vorhersagen. Der Katastrophenschutz erfordert in diesem Fall eine staatliche Struktur und Dinge wie eine funktionierende Baufaufsicht. All das existiert in Haiti nicht annähernd. Es hängt also immer auch davon ab, wie Staat und Gesellschaft organisiert sind, um präventiv vorzugehen oder auf Katastrophen zu reagieren.
Gibt es in Haiti oder auch in der Dominikanischen Republik Bewegungen, die bspw. den Umstand problematisieren, dass es solche präventiven Strukturen nicht gibt?
Ja, es gibt in beiden Ländern Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, Bauernbewegungen, feministische Netzwerke, die sich dafür einsetzen, die Gefahr von Naturkatastrophen in gefährdeten Gebieten zu reduzieren. Es gibt z.B. die Forderung, dass Menschen nicht aus Mangel an Alternativen an besonders gefährdeten Stellen siedeln müssen. Viele Menschen werden durch die ökonomischen Verhältnisse in gefährdete Regionen gespült, weil sie kein Geld für sichere Wohnorte haben und sich dann bspw. in Flussläufen ansiedeln. Wenn es etwa im Zuge von Hurrikans zu besonders starken Regenfällen kommt, sind diese Menschen besonders gefährdet. Es besteht also ein sehr direkter Zusammenhang zwischen den Opferzahlen, die man später beklagt, und den sozialen und ökonomischen Voraussetzungen, die Menschen in diese Gefährdungssituationen bringen.
Im Zuge der Katastrophenhilfe werden Zugänge und Strukturen, z.B. durch die US-Armee, monopolisiert. Müsste die Nothilfe nicht auch die Erfahrungen der von dir genannten Akteure einbeziehen?
Wir verwenden den Begriff der kritischen Nothilfe, womit wir umschreiben, dass so früh wie möglich beide Aspekte zusammen gesehen werden müssen. Es ist notwendig, dass Rettungsteams kommen, Verschüttete bergen, dass medizinische Sofortintervention stattfindet. Aber es muss so früh wie möglich darauf hingewirkt werden, dass eine mittel- und langfristige Perspektive eröffnet wird. Für uns ist in diesem Zusammenhang wichtig, mit Organisationen vor Ort zusammen zu arbeiten, sie zu stärken, auch in solchen Situationen ihre Perspektiven zu artikulieren. Die Selbsthilfe in den Stunden nach der Katastrophe wurde primär von der haitianischen Bevölkerung selber geleistet, sowie von einigen nationalen und internationalen NGOs, kirchlichen Organisationen und den kubanischen Medizinerbrigaden, die seit vielen Jahren im Land präsent sind.
Doch medial findet die Hilfe erst statt, wenn ausländische Hilfsorganisationen kommen mit einem Kameramann im Schlepptau. Man nennt das den "CNN-Effekt". Das ist aber nicht die Realität. Es gibt Selbsthilfe, auch wenn sie schwach ist. Die Hilfe muss diese Realitäten mit berücksichtigen und so viel wie möglich in Abstimmung mit den lokalen Strukturen unternehmen und eben nicht, wie eine humanitäre Interventionskraft von außen eigene Protektorate aufbauen. Diese unsägliche Verzahnung von ziviler und militärischer Hilfe kritisieren wir auch im Zusammenhang mit Afghanistan. Da muss es immer eine ganz klare Trennung geben.
Der "CNN-Effekt" führt auch dazu, dass ein bestimmtes Bild transportiert wird. Am Anfang stand in der Berichterstattung das Ausmaß der Katastrophe im Vordergrund. Aber sehr schnell schon war die Rede von "chaotischen Zuständen", Plünderungen, das Bandenwesen wurde zum Problem erklärt. So wird diskursiv die Notwendigkeit begründet, dass Militär da sein muss. Dieses Szenario ist im Grunde das Gegenbild zu dem, was du vorhin unter dem Stichwort "lokale Selbsthilfe" beschrieben hast.
Ja, da haben die Medien eine große Mitverantwortung, wenn sie die Bilder sehr einseitig in diese Richtung lenken. Natürlich darf man Haiti nicht verherrlichen. Meine Erfahrung zeigt, dass beides existiert. Es hat sehr viele soziale Spannungen gegeben, es gibt Banden, die historisch teilweise noch aus den Zeiten der Diktatur kommen, es gibt Kriminalität. Wir haben Verteilungen gesehen, die von Jugendlichen mit Eisenstangen gekapert wurden; wir haben aber auch Verteilungen erlebt, wo es überhaupt keine Probleme gab, weil bspw. die dominikanischen Organisationen eng mit lokalen Strukturen zusammengearbeitet haben. Es sind die Leute in den Vierteln, die am besten wissen, wie man etwas organisieren kann, ohne dass es zu Ausschreitungen kommt.
Es gibt Berichte, dass die Lebensmittelverteilung teilweise ausschließlich an Frauen erfolgt sei, um Ausschreitungen zu vermeiden. Kannst du zur geschlechtlichen Dimension der Nothilfe etwas sagen?
In zweierlei Hinsicht sind solche Katastrophen nicht geschlechtsneutral. Zum einen sind viele Frauen allein erziehend und zugleich die Einzigen in der Familie, die ein Einkommen beziehen. Viele Organisationen machen daher aus Prinzip die Verteilung über die Frauen - und das zu Recht. Auf der anderen Seite ist es leider so, dass solche Situationen immer zu einer Zunahme von Gewalt gegen Frauen und auch gegen Kinder, zu mehr sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen führen. Das ist ein Aspekt, der sehr früh berücksichtigt werden muss bei der Organisation von Hilfe und ergänzenden Maßnahmen, wie psychologische Unterstützung, Anlaufstellen für Frauen etc.
Derzeit wird viel darüber diskutiert, wie die starke Präsenz der USA in Haiti zu bewerten ist. Manche warnen im Anschluss an Naomi Kleins These von der Schock-Doktrin davor, dass die Katastrophe genutzt werden könnte, um eine bestimmte wirtschaftspolitische Agenda durchzusetzen. Andere gehen davon aus, dass in Haiti für die USA nichts zu holen ist. Nach dieser Lesart besteht das Hauptinteresse der USA darin, größere Flüchtlingsbewegungen in Richtung der Vereinigten Staaten zu unterbinden und die Rolle als Weltordnungsmacht auszufüllen.
In Haiti sind sehr unterschiedliche Stimmen zu vernehmen. Einerseits gibt es die Sorge, dass die USA dort ein Protektorat einrichten. Viele begrüßen aber auch die Präsenz der US-Truppen, weil sie vermeintlich für Ordnung sorgen. Das hat auch viel damit zu tun, dass bei vielen die UN-Friedenstruppen nicht so gern gesehen sind, weil ihnen zur Last gelegt wird, dass sie sich nicht wirklich um die Angelegenheiten gekümmert haben.
Welche konkreten Interessen die USA in Haiti verfolgen, kann ich nicht einschätzen. Der migrationspolitische Hintergrund hat natürlich eine Logik; es gibt bereits etwa 1 Million HaitianerInnen in den USA, und es ist sicherlich das Interesse der US-Regierung, größere Fluchtbewegungen in diese Richtung zu unterbinden. In der Frage ist man sich einig mit der Dominikanischen Republik, die trotz aller Solidarität, die sie vom ersten Moment an geübt hat, ganz klar vertreten hat, die Grenzen bleiben geschlossen.
Wie geht jetzt eure Arbeit weiter? Ihr sprecht in eurem Blog davon, dass es im Rahmen einer solchen Situation auch Schritte einer emanzipatorischen Selbstorganisierung geben kann.
Einerseits geht es uns darum, diejenigen Instanzen zu unterstützen, die auch vor dem Erdbeben zum Beispiel im Rahmen von Basisgesundheitsprojekten eine wichtige Arbeit geleistet haben. Es ist wichtig, diese Kräfte zu stärken, damit sie ihre Arbeit so schnell wie möglich wieder aufnehmen können.
Auch bemühen wir uns, den Süd-Süd-Austausch zu fördern und deutlich zu machen, es gibt nicht nur Hilfsmöglichkeiten und Hilfsexperten aus dem Norden, sondern vielfältige Erfahrungen aus der Region. So arbeiten wir mit den Partnern aus der internationalen Landminenkampagne und mit Kriegsversehrten vor allem aus El Salvador zusammen. Letztere haben nach dem Bürgerkrieg dort eine Prothesenwerkstatt eröffnet, die seit 1994 funktioniert. Diese Verbände haben auch Erfahrungen dabei, wie sich Versehrte organisieren können, welche Forderungen sie an den Staat und die internationale Gemeinschaft stellen können. Diese Strukturen wollen wir miteinander vernetzten, auch um zu sehen, ob in den Werkstätten in El Salvador Gehhilfen für die Leute hergestellt werden können, die in Haiti amputiert wurden.
Weiter ist es wichtig, lokale Kräfte aus- und fortzubilden und zu stärken, damit sie die Arbeit fortsetzen können, wenn die internationale Aufmerksamkeit nachlässt und die Kameras das Land verlassen haben. Hier spielen bspw. die kubanischen medizinischen Brigaden, mit denen wir zusammenarbeiten, eine wichtige Rolle.
Und schließlich geht es darum, Räume zu schaffen auf verschiedenen Ebenen, wo die Menschen sich artikulieren können. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass man den Wiederaufbau von Radioprogrammen unterstützt, wo Leute anrufen und diskutieren können. Diese Stränge verfolgen wir parallel zu Hilfsmaßnahmen, damit eine eigenständige Selbsthilfe entsteht, die das Ereignis überdauert.
Anmerkungen:
1) Im medico Hausblog berichten die MitarbeiterInnen über ihre Aktivitäten vor Ort (http://www.medico.de/themen/vernetztes-handeln/blogs/medico-hausblog) Wer für die medico Arbeit spenden will, kann das unter folgender Kontoverbindung tun: medico international / Kontonummer 1800 / BLZ 500 502 01 (Frankfurter Sparkasse) / Stichwort: Haiti.
2) Das 1983 gegründete COSALUP (Colectivo de Salud Popular) hat sich dem Konzept der Basisgesundheitspflege verschrieben, organisiert neben politischen Kampagnen medizinische Bildung und Aufklärung und betreibt mehrere Gesundheitszentren in der Dominikanischen Republik.
3) Léogâne ist eine Küstenstadt 30 km westlich von Port-au-Prince. Sie liegt direkt über dem Epizentrum des Erdbebens vom 12. Januar. Nach Schätzungen sind zwischen 80 und 90 Prozent der Gebäude der Stadt beschädigt oder zerstört worden.