Es gibt keine Natur>katastrophen
Lehren aus dem Wiederaufbau nach dem Hurrikan Katrina
Die meisten UmweltwissenschaftlerInnen und GeographInnen sind sich darüber einig, dass das Phänomen Naturkatastrophe als solches nicht existiert. Sowohl das Ausmaß einer Katastrophe als auch die Frage, wer überlebt und wer nicht, ist mehr oder minder stark von gesellschaftlichen Faktoren abhängig. Das betrifft jeden Abschnitt und jeden Aspekt einer Katastrophe - angefangen von den Ursachen, über die Katastrophen-Anfälligkeit eines Ortes, die Art der Vorbereitung, die Folgen und die Art und Weise, wie diesen begegnet wird, bis hin zum Wiederaufbau. Der Hurrikan Katrina belegt diese Aussage in eindrucksvoller Weise.
"Klassenbeben" und "Wiederaufbau-Tsunamis"
So erschreckend sie auch war: Die Tragödie von New Orleans ist weder einzigartig noch kam sie überraschend - außer vielleicht, was ihr Ausmaß angeht. Die durch race und Klassenlage bestimmten Auswirkungen darauf, wer Leidtragender dieser "Natur"-Katastrophe war und wer ihr entkommen konnte, konnten vorhergesehen werden - und wurden vorhergesehen. Es gibt eine lange Geschichte vergleichbarer Erfahrungen.
1976 forderte ein verheerendes Erdbeben in Guatemala letzten Endes 23.000 Todesopfer und machte 1,5 Millionen Menschen obdachlos. Ich sage "letzten Endes", weil die große Mehrheit der Getöteten nicht dem Beben selbst zum Opfer fiel, sondern in den darauf folgenden Tagen und Wochen umkam. Guatemala wurde mit internationaler Hilfe geradezu "geflutet". Doch diese Hilfe erreichte die am meisten betroffenen und bedürftigsten Bevölkerungsteile nicht, so dass diese schließlich nicht mehr von einem Erdbeben, sondern von einem "Klassenbeben" sprachen.
In den Gegenden und Ortschaften am Indischen Ozean, die im Dezember 2004 durch den Tsunami verwüstet wurden, wurden die ethnischen und klassenmäßigen Zerklüftungen der alten Gesellschaften durch das Modell des Wiederaufbaus tiefer und weit reichender erneuert. Hier verhinderte der "Wiederaufbau" gewaltsam, dass die örtlichen Fischer ihre Existenz weiter als Fischer bestreiten konnten. Stattdessen wurde die Küste so befestigt, dass sie den Sicherheitsbedürfnissen wohlhabender TouristInnen entsprach. Die örtliche Bevölkerung bezeichnet die Wiederaufbaumaßnahmen inzwischen immer öfter als "zweiten Tsunami".
In jeder Phase einer Katastrophe - den Wiederaufbau eingeschlossen - werden nicht einfach Landschaften planiert und glattgewaschen. Eher vertiefen Katastrophen die sozialen Risse, auf die sie treffen, und spülen sie aus. Schon wenige Tage nach dem Hurrikan, noch bevor alle Toten geborgen waren und die Zahl der Opfer auch nur geschätzt werden konnte, begann in der Presse die Debatte darüber, welche Möglichkeiten die "Freilegung" New Orleans durch die Flut eröffnete. Ungefähr eine halbe Million Menschen hatten die Stadt verlassen müssen. Die Federal Emergency Management Agency (FEMA) (2) stellte Wohncontainer für nicht weniger als 130.000 Familien in weit verstreuten State Parks, Pfadfinderlagern und allen erdenklichen Freiflächen fernab des Stadtzentrums zur Verfügung. Auf den ersten Blick mögen diese Maßnahmen vernünftig erscheinen - sieht man einmal davon ab, dass es viel guten Willen braucht, um sich vorzustellen, die erste von der konsequent marktradikalen Bush-Regierung geförderte Geschäftstätigkeit in New Orleans könnte sich im Bereich des sozialen Wohnungsbaus abspielen und das Ziel verfolgen, den Bedürftigsten eine schnelle Rückkehr zu ermöglichen.
Schon im Zeitraum zwischen dem Hurrikan Katrina und der neuerlichen Überschwemmung durch Hurrikan Rita wurden die Geschäfts- und Hausbesitzer bevorzugt durch die Militärabsperrungen hindurch zurück in die Stadt gelassen. Es scheint daher sehr viel wahrscheinlicher, dass die schwarze und proletarische Bevölkerung von New Orleans noch Monate und Jahre in den Außenbezirken festsitzen wird - mit der Begründung dass ihre Häuser zerstört sind, und in der Hoffnung oder Erwartung, dass sie schließlich frustriert verschwinden werden.
New Orleans' Breitband-Gentrifizierung
Tatsächlich leben viele derjenigen, die 2004 im Zuge der Hurrikans Charly und Ivan evakuiert wurden, noch immer in Container-Siedlungen in Florida. Der neokonservative Leitartikler der New York Times, David Brooks, beeilte sich darzulegen, das es "Menschen ohne Mittelschicht-Qualitäten" nicht gestattet werden sollte, sich wieder in der Stadt anzusiedeln: "Wenn wir bloß neue Häuser aufstellen, aber dort dieselben alten Bewohner einziehen lassen, wird die Innenstadt von New Orleans bald ebenso heruntergekommen sein wie früher." (New York Times vom 8. September 2005) Der Kongressabgeordnete von Baton Rouge/Louisiana, Richard Baker, hat in dieser Hinsicht ebenfalls wenig Trost anzubieten: "Der sozialen Wohnungsbau von New Orleans ist erledigt", entfuhr es Baker in einem unachtsamen Moment. "Was wir nicht hingekriegt haben - Gott hat es geschafft."
Katastrophen sind, wie sich zeigt, weit davon entfernt, soziale Unterschiede einzuebnen. Jedes Mal aufs Neue vertiefen die Wiederaufbaumaßnahmen die Gräben der gesellschaftlichen Ausbeutung und Unterdrückung. Die Bush-Regierung hat auf der einen Seite den Wettbewerb außer Kraft setzt, indem sie ohne öffentliche Ausschreibung Aufträge an mehrere Firmen vergeben hat, die auch im Irak aktiv sind - Bechtel, Fluor Cop., Halliburton. Zugleich hat sie Bundesgesetze außer Kraft gesetzt, die Firmen zur Zahlung der ortsüblichen Löhne verpflichten, und so einen ruinösen Konkurrenzkampf unter den verzweifelten ArbeiterInnen in Gang gebracht.
Mittlerweile sind auch die großen Bauunternehmen in New Orleans eingefallen. Sie erwarten, dass die Stadt mit höheren und besseren Deichen und sehr viel weniger proletarischer und schwarzer Bevölkerung wieder aufgebaut wird. Und so herrschte bereits zwei Wochen nach Katrina Goldgräberstimmung im Bausektor. Diese Leute, die Bauunternehmen und Stadtentwickler, sind die wahren Plünderer, sagen viele in New Orleans. Die verdrängte Bevölkerung dagegen, die kein Privateigentum hat, das sie zurückfordern könnte, sieht sich mit sinkenden Löhnen, explodierenden Kosten für knappen Wohnraum und, je mehr das anfängliche Mitgefühl vergeht, wachsender Stigmatisierung konfrontiert.
Wenn George Bush darauf beharrt, dass "das große New Orleans wieder auferstehen wird", fällt es schwer zu glauben, dass er damit qualitativ hochwertigen, sicheren und bezahlbaren Wohnraum im Sinn hat. Wahrscheinlicher ist eine "Breitband-Gentrifizierung" in einem in den Vereinigten Staaten bislang nicht da gewesenen Ausmaß. Nach dem "Bush Hurrikan" werden nicht die armen, die schwarzen und proletarischen Bevölkerungsteile, die New Orleans verlassen mussten, mit offenen Armen wieder in der Stadt empfangen. Die Stadt wird aller Wahrscheinlichkeit nach als Touristenmagnet wieder aufgebaut, ein disneyfiziertes Big-Easy-Ville, das noch vor mehr maßgeschneiderter Authentizität trieft als das nahe French Quarter, das die Fluten weitgehend unbeschadet überstanden hat.
Im Rückblick können wir all jene Entscheidungen (und Nicht-Entscheidungen) identifizieren und benennen, die den Hurrikan zu einer solchen sozialen Katastrophe gemacht haben. Doch zusammen genommen sind sie mehr als nur die Summe ihrer Teile. Es ist keine besonders radikale Schlussfolgerung, wenn man sagt, dass sich die Dimension der Katastrophe nicht allein den Aktionen dieser oder jener lokalen oder nationalen Regierungsbehörde verdankt, sondern vielmehr der Funktionsweise eines kapitalistischen Marktes im Allgemeinen und seiner neoliberalen Ausprägung im Besonderen.
Die Weigerung, das Problem der globalen Erwärmung anzugehen (die unter anderem mehr Hurrikans vom Schlage Katrinas nach sich zieht), gründet auf der Macht der Öl- und Energiekonzerne, die Angst um ihre Profite haben. Sie sind die Klassenbasis, auf die sich die Regierung Bush stützt. Die Bevölkerung von New Orleans war nicht aus geographischen Gründen besonders verwundbar, sondern auf Grund von langfristiger race- und klassenbasierter Benachteiligung - Armut -, die durch die Demontage der Sozialsysteme sowohl durch die Demokraten als auch durch die Republikaner noch verschärft wurde. In der Inkompetenz von FEMA drücken sich Vetternwirtschaft und Bevorzugung innerhalb der Netze der gesellschaftlich Mächtigen aus - und nicht die geringste Sorge um das Wohlergehen der Armen. Und die Wiederaufbaumaßnahmen haben die Weichen dafür gestellt, aus dieser Ungleichheit noch Kapital zu schlagen - und sie weiter zu vertiefen. Nie wieder in den nächsten Jahrzehnten werden Schwarze zwei Drittel der städtischen Bevölkerung von New Orleans stellen.
Der Wiederaufbau ist eine politische Frage
Der Wiederaufbau von New Orleans wird geprägt sein von Regierungsaufträgen im Umfang von mehreren zehn, wenn nicht hundert Milliarden US-Dollar an Großunternehmen und von Versicherungszahlungen in Milliardenhöhe an private Eigentümer, damit diese auf denselben katastrophenanfälligen Grundstücken ihre zerstörten Häuser neu errichten können. Eine solche Lösung mag gutheißen, wessen einziger Maßstab hohe Unternehmensprofite sind. Doch dieselbe Marktlogik, die derartige gesellschaftliche Zerstörungen angerichtet hat, buchstabiert sich als soziale und ökologische Katastrophe für jene, die nicht mit Regierungsaufträgen und Versicherungszahlungen rechnen können.
Die Frage des Wiederaufbaus ist nur in zweiter Linie eine technische Frage. In erster Linie ist sie eine politische. Im Zuge der Katastrophenbewältigung haben sich in New Orleans auch andere Stimmen zu Wort gemeldet. "Wir werden nicht tatenlos dabei zusehen, wie die Katastrophe dazu genutzt wird, unsere Wohnungen durch Villen und Eigentumswohnungen zu ersetzen und ein neues, gentrifiziertes New Orleans zu errichten." So lautete eine Erklärung der stadtweiten Vereinigung von Basis- und Low-Income-Initiativen Community Labor United. Diese forderte weiter, dass nicht die großen Unternehmen den Wiederaufbau der Stadt diktieren, sondern dass die Opfer der Flut und die aus der Stadt Evakuierten die wesentlichen Entscheidungen treffen sollten. Doch die unternehmerische und politische Haltung, die eine solch umfassende Katastrophe gefördert hat, wird kaum eine Kehrtwende einlegen und plötzlich die Entscheidungsgewalt in die Hände jener Bevölkerungsteile legen, die sie bisher stets von Entscheidungen ausgeschlossen hat.
Erneut zeigt sich: So etwas wie eine Naturkatastrophe gibt es nicht. Der vermeintlich naturgegebene Markt ist indes der letzte Ort, um nach Lösungen für die Verheerungen zu suchen, die der Hurrikan Katrina angerichtet hat.
Neil Smith
Übersetzung: Jan Ole Arps
Anmerkung:
1) In voller Länge ist der Artikel auf der Webseite "Understanding Katrina: Perspectives from the Social Sciences" nachzulesen: http://understandingkatrina.ssrc.org/Smith
2) Die nationale Koordinationsstelle zur Katastrophenhilfe, angesiedelt im US Heimatschutzministerium.