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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 547 / 19.2.2010

Treffer - gesenkt?

Hartz IV, Lohn und Gehalt unter Beschuss

Im Jahr der Agenda 2010 hat das Bundesverfassungsgericht der Arbeitsmarktpolitik eine Agenda gegeben: Bis Jahresende soll sie die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes "realitätsgerecht" neu berechnen; der alte Beitragssatz sei "nicht in verfassungsmäßiger Weise ermittelt worden". Zweitens und in diesem Zusammenhang formuliert das Gericht ein (nicht näher definiertes) " Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums". Das klingt gut. Doch die Frage, wo das "menschwürdige Existenzminimum" liegt, ist heftig umkämpft. Mit seinem Gepolter gegen Erwerbslose hat Guido Westerwelle den Kampf um die Definition dessen, was künftig als "realitätsgerecht" gelten soll, eröffnet.

Sozialpolitik ist, wie Gero Lenhardt und Claus Offe vor sehr langer Zeit (1977) feststellten, "die staatliche Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter". Diese etwas sperrige Formel besagt im Grunde nur: Dass jemand seine Arbeitskraft auch tatsächlich zum Verkauf anbietet, ist zumindest so lange nicht selbstverständlich, wie es akzeptable Alternativen hierzu gibt.

"Der Eigentumslose ist mehr geneigt, Vagabund und Räuber und Bettler als Arbeiter zu werden", schrieb Karl Marx einmal. Guido Westerwelle und seine FDP fürchten nun, dass ein Arbeitslosengeld in Höhe von 359 Euro im Monat vielen als akzeptable Alternative zu den Niedriglohnjobs erscheinen könnte, die ihnen angeboten werden. Staatlich begünstigte "Dekadenz" im spätrömischen Stil. (1) Diese Sorge um die Arbeitsmotivation von Hartz-IV-EmpfängerInnen ist hoffentlich begründet: Man wäre ja wirklich von allen guten Geistern verlassen, bemühte man sich um eine noch geringer bezahlte Lohnarbeit.

Die sozialstaatlichen Leistungen haben einerseits den Zweck, die Zustimmung der ArbeitnehmerInnen zur lebenslangen Unsicherheit des Erwerbslebens zu erzeugen. Die Lohnarbeit knüpft die Sicherung der Existenz an den erfolgreichen Arbeitskraftverkauf - und der ist nicht garantiert. Diese strukturelle Unsicherheit der "Lohnarbeiterexistenz" soll der Sozialstaat akzeptabel machen. Auf der anderen Seite dürfen die Leistungen des Sozialstaats nach dieser Logik nicht so hoch sein, dass sie die Motivation zur Arbeitssuche untergraben.

Guido Westerwelles "Deppen der Nation"

Das entsprechende Sozialstaatsprinzip nennt sich "Lohnabstandsgebot" und ist im Sozialgesetzbuch XII festgeschrieben: Die Regelsatzbemessung gewährleiste, heißt es dort, dass die Einkommen aus den staatlichen Zahlungen "unter den monatlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohn- und Gehaltsgruppen" liegen. (SGB XII, §28, Abs. 4) Sinken also die Löhne, muss - um das Ziel der "Transformation von Nicht- Lohnarbeitern in Lohnarbeiter " zu wahren - auch das Arbeitslosengeld (II) sinken und/oder der Zwang zur Aufnahme von Niedriglohnjobs erhöht werden. So einfach ist das. Dieser Logik folgt auch die umgekehrte Strategie: Löhne und Gehälter rauf, Mindestlohn her. Auch in diesem Fall bliebe das Lohnabstandsgebot gewahrt. Auch diese Haltung gibt der Lohnarbeit den Vorzug und sanktioniert den Müßiggang - man mag angesichts der aktuellen Situation kaum darauf hinweisen.

Beim gegenwärtigen Kräftemessen (Westerwelles "Esel" vs. "Spätrömer") geht es also auch ziemlich direkt darum, was Arbeit künftig kosten soll. Der Preis, der hier verhandelt wird, ist weder allein durch seine Produktionskosten, noch ausschließlich durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Nochmal Karl Marx: "Im Gegensatz zu anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element." (Das Kapital, Band 1, S. 185) Hartz IV war ein Mittel, die Arbeitskraft auf breiter Front zu verbilligen. Die Diskurse, die die Reform begleitet haben (etwa Gerhard Schröders "Faulenzer- Debatte"), haben das moralische Element dieser Wertbestimmung verschoben, die ausbleibende gesellschaftliche und gewerkschaftliche Gegenwehr das historisch durchsetzbare Element - beide nach unten. Das lag im Interesse der exportorientierten und damit an niedrigen Löhnen interessierten deutschen Wirtschaft. Die Folgen kann man an den stagnierenden Löhnen der letzten Jahre ablesen. (siehe ak 546)

Einen "Neuanfang in unserem Sozialstaat" soll es geben, verlangt nun Guido Westerwelle. Damit ArbeitnehmerInnen nicht länger die "Deppen der Nation" sind. Das wäre sicherlich wünschenswert. Doch haben Westerwelle und die Seinen damit weder ein bedingungsloses Grundeinkommen noch den gesetzlichen Mindestlohn im Sinn - beides zweifellos Maßnahmen, die ArbeitnehmerInnen helfen würden, sich nicht als "Deppen der Nation" zu fühlen. Es geht ihnen ums Gegenteil: die Senkung des Hartz-IV-Satzes, um den Abstand zu den gesunkenen Löhnen und Gehältern zu wahren - und diese weiter nach unten zu drücken.

Um Einfluss auf das aktuelle moralische Element kämpft derzeit Guido Westerwelle mit seinen Äußerungen, auf zunehmend verlorenem Posten. Um eine Definition des historischen Elements bemüht sich Finanzminister Schäuble, der mit Verweis auf die gigantische Staatsverschuldung alle zusätzlichen Ausgaben ablehnt.

In diesem Lichte betrachtet wird auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht automatisch zum Erfolg der Hartz- KritikerInnen, wenn es eine "realitätsgerechte" Neu-Berechnung der Regelsätze anmahnt. Wenn im Jahresverlauf 2010 die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes neu bestimmt wird, so geschieht dies auf der Grundlage dessen, was politisch als menschenwürdiges Existenzminimum durchgehen kann. Hierauf nehmen auch soziale Kämpfe Einfluss, zum Beispiel die gewerkschaftliche Tarifpolitik: ver.di, indem sie ein wenig mehr Geld fordert, die IG Metall, indem sie auf Geldforderungen verzichtet. Während der Lohnverzicht der Metallgewerkschaft in der öffentlichen Debatte als vernünftig ("realitätsgerecht") behandelt wird, setzt sich die ver.di-Forderung dem Vorwurf aus, "maßlos" ("nicht realitätsgerecht") zu sein.

Was ist "realitätsgerechtes" Existenzminimum?

Als vernünftig ("realitätsgerecht") gilt demgegenüber nach wie vor, dass die Bundesregierung im Zuge einer Bankenkrise Rettungspakete und Bürgschaften im Wert von 480 Milliarden Euro vergeben bzw. versprochen hat. Ob die derzeitigen jährlichen Ausgaben für Hartz-IV-EmpfängerInnen in Höhe von 40 Milliarden Euro " realitätsgerecht" bleiben oder nicht (und wenn nein, ob höhere Ausgaben realitätsgerechter oder weniger realitätsgerecht sind), wird sich im Jahresverlauf erweisen. Dazu wird auch (aber nicht nur) beitragen, was sich als "realitätsgerechter" durchsetzt: Lohnerhöhung oder Lohnverzicht.

Jan Ole Arps

Anmerkung:

1) Der Urheber dieser Äußerung erhält für seine Arbeit als Minister 12.860 Euro im Monat (brutto), für seine Abgeordnetentätigkeit noch einmal 7.668 Euro. Ohne die zusätzlichen steuerfreien Pauschalen und Nebeneinkünfte (die sind bei 359 Euro ALG II ja auch nicht mitgezählt) also gut 57 Mal so viel wie dekadente Erwerbslose.