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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 548 / 19.3.2010

Wenn der Rentner zwei Mal klingelt

In Griechenland schlägt die Stimmung (langsam) um

Was ist bloß los mit den Griechen, könnte man sich angesichts der weit hinter den Hoffnungen und Erwartungen zurückbleibenden Protesten fragen. Drastische Steuererhöhungen, Lohnkürzungen, die an die Substanz gehen, Anhebung des Renteneintrittsalters und Umbau des Rentensystems vom Umlage- auf kapitalgestützte Verfahren, da sollte man doch meinen, dass die streikerfahrenen und aufmüpfigen Griechen auf die Barrikaden gehen. Doch von denen ist weit und breit nichts zu sehen.

So lautete die Einleitung zur bereits Ende Februar fertiggestellten Version dieses Artikels. Wenige Tage später war der Beitrag zwar nicht Makulatur; die jüngsten Entwicklungen deuten jedoch an, dass es in nicht allzu ferner Zukunft doch zu den von den einen erhofften und den anderen befürchteten "sozialen Unruhen" kommt.

Die sehen laut einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Public Issue Anfang März in Griechenland durchführte, auch mehr als 60 Prozent der Griechen auf ihr Land zukommen. Kurz zuvor war von der griechischen Regierung bereits das dritte "Sparpaket" beschlossen worden, mit dem die hohen Staatsschulden abgebaut werden sollen.

Die fast ausschließlich die Lohnabhängigen treffenden Einsparungen beinhalten die Verlängerung der Lebensarbeitszeit um durchschnittlich zwei Jahre sowie die Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte auf 21 Prozent im Hauptsteuersatz und um einen Prozentpunkt auf zehn Prozent für Lebensmittel. Den Staatsangestellten werden die Lohnzuzahlungen um zwölf, Weihnachts-, Urlaubs-, und Ostergeld um 30 Prozent gekürzt. Außerdem werden verschiedene Konsumsteuern, darunter die Mineralölsteuer, kräftig angehoben.

Eine Welle von Streiks und Protesten geht über das Land

Waren die Reaktionen der Gewerkschaften bis Ende Februar eher verhalten - einem Streik der kommunistisch orientierten Gewerkschaftsfront PAME im Dezember waren ein Streik des öffentlichen Dienstes am 10. und ein Generalstreik am 24. Februar gefolgt -, so wurde das Land direkt nach Bekanntwerden des dritten Maßnahmenpaketes von einer enormen Welle an Streiks und Protesten überrollt.

Auf die TaxifahrerInnen folgten die ZöllnerInnen; die bei der Privatisierung der staatlichen Fluglinie Entlassenen blockierten für Tage das Gebäude der Staatsbuchhaltung. Überhaupt wurden mehrere Regierungsgebäude von ArbeiterInnen symbolisch besetzt. Während das Paket am 4. März in der zuständigen Parlamentskommission diskutiert wurde, demonstrierten in den Straßen der Hauptstadt Zehntausende Lohnabhängige, am 5. März, Tag der Verabschiedung der Maßnahmen im Parlament, wurden weite Wirtschaftsbereiche des Landes bestreikt. Gleichzeitig riefen die Gewerkschaftsdachverbände GSEE (private Wirtschaft) und ADEDY (öffentlicher Dienst) zum Generalstreik am 11. März auf.

Wenn der Widerstand trotzdem bisher immer noch hinter dem Geforderten zurückbleibt, so hat dies eine ganze Reihe von Gründen. 12,7 Prozent Bruttoinlandsprodukt (BIP) Haushaltsdefizit und über 120 Prozent BIP Staatsverschuldung sind ein reales Problem. PolitikerInnen und Medien arbeiten mit einem aus vollen Rohren täglich abgeschossenen Propagandabombardement daran, die "Sparmaßnahmen" als "nationale Rettung" zu verkaufen, für die "alle Opfer bringen müssen".

Dabei wird weitgehend verschleiert, wie ungleich die Lasten verteilt werden. So sammelte der neue Ministerpräsident bereits zu Beginn des Sparprogramms höchst öffentlichkeitswirksam mit einer einmaligen Sondersteuer etwa eine Milliarde Euro bei den griechischen Unternehmen ein, die in Scheibchen von maximal 400 Euro an die sozial schwächsten Mitglieder der Gesellschaft verteilt wurden. Dass den gleichen Menschen dafür die etwa gleichhohe jährliche Zuzahlung zu den Heizkosten gestrichen wurde, verschwiegen die meisten Medien, ebenso, wie man den Zusatz "der Kapitalsteuersatz bleibt unverändert" nach jeder Ankündigung der neuesten "Sparmaßnahmen" quasi im Kleingedruckten suchen muss. Auch die Kirche, eine der reichsten, wenn nicht die reichste Institution des Landes, wird von der regierenden sozialdemokratischen PASOK nicht angetastet.

Zusätzlich leidet Griechenland unter dem gleichen Problem, das auch in Deutschland den Widerstand gegen Hartz IV in engen Grenzen gehalten hat. Ebenso wie in Deutschland stellen die Sozialdemokraten die größte Kraft in vielen Gewerkschaftsorganisationen. Ebenso wie in Deutschland werden die heftigsten Angriffe gegen die Errungenschaften der Lohnabhängigen von einer sozialdemokratischen Regierung vorgenommen.

Die griechischen Gewerkschaften setzen sich wie fast alle Organisationen des Landes aus parteigebundenen Fraktionen zusammen. Im industriearmen Griechenland ist die gewerkschaftliche Organisierung darüber hinaus auf einige Wirtschaftsbereiche beschränkt. Während im öffentlichen Dienst über 90 Prozent der Angestellten Gewerkschaftsmitglied sind, erreichen in der privaten Wirtschaft vor allem die ehemaligen großen "Staatsbetriebe von öffentlichem Interesse", also Strom- und Wasserwerke, Telekommunikation und öffentlicher Nahverkehr sowie die ehemaligen Staatsbanken eine gute Organisierung. Daneben verfügen verschiedene Industriezweige und das Baugewerbe über schlagkräftige Gewerkschaften.

Dagegen sind im Einzelhandel beispielsweise 96 Prozent der Unternehmen Familienbetriebe ohne jegliche Gewerkschaftsbindung. Die starke Ausrichtung auf den öffentlichen Sektor und die mittlerweile privatisierten ehemaligen Staatsbetriebe hat ihr Übriges zur Sozialdemokratisierung der Gewerkschaften getan. In 20 Jahren PASOK-Regierung von 1981 bis 2004, nur Anfang der 1990er durch eine kurze Pause unterbrochen, waren Parteibuch oder zumindest der Mitgliedsausweis in der parteinahen Gewerkschaftsfraktion die Voraussetzung für einen Job oder eine Beförderung im Staatsdienst.

Die der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) nahestehende Gewerkschaftsfront PAME ist die einzige Gewerkschaftsorganisation, die quasi vom Wahlabend an Widerstand gegen den von der KKE vorausgesagten "Sturm volksfeindlicher Maßnahmen" leistete. Mit den in ihr organisierten zahlreichen Basisgewerkschaften und einer ganzen Reihe Branchengewerkschaften, darunter so wichtige wie die BauarbeiterInnen und die ArbeiterInnen in der Lebensmittelindustrie, gelang es der PAME bereits am 17. Dezember vergangenen Jahres, weite Teile der Produktion für einen Tag lahmzulegen.

Zersplitterung und individuelle Lösung

Die Gewerkschaftsdachverbände hatten bis dahin jeden Antrag der PAME auf einen Generalstreik abgelehnt. Der Gewerkschaftsdachverband in der privaten Wirtschaft GSEE hatte sogar alle nicht in der PAME-Organisierten vor einer Teilnahme am Streik gewarnt. Trotzdem schloss sich am 17. Dezember eine ganze Reihe nicht zur PAME gehörender Basisgewerkschaften dem Streik an.

Neben der Teilnahme an den im Folgenden unter dem Druck der Basis ausgerufenen Streiks der beiden Dachverbände organisiert die PAME seit Monaten eine ganze Kette von Protesten. Von den anderen linken Gewerkschaftskräften wird ihr jedoch vorgeworfen, bei allen Aktionen im Alleingang zu handeln. So beteiligt sich die PAME zwar an allen von den Dachverbänden ausgerufenen Streiks, mobilisiert aber grundsätzlich zu getrennten Streikdemonstrationen, auf denen sie die Haltung der sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaftsdachverbände, aber auch deren "Steigbügelhalter" bei der Linken scharf kritisiert.

Auch die gewerkschaftlichen Kräfte der zahlreichen meist außerparlamentarischen linken Organisationen setzen sich in der Regel mit getrennten Kundgebungen von den Dachverbänden ab, mit denen sie sich im Anschluss allerdings zur gemeinsamen Demonstration vereinen. Ihre Kundgebungen haben in letzter Zeit an Stärke zugenommen, da vermehrt entstehende parteiunabhängige Basisorganisationen quasi den "dritten Weg" zwischen den sozialdemokratischen Dachverbänden und der KKE-dominierter PAME suchen.

Zwar müssen sich auch die außerparlamentarischen Linken den Vorwurf gefallen lassen, sie versuchten Unabhängige für ihre Parteiziele zu vereinnahmen; außer der KKE ist aber keine linke Partei stark genug, dies in der Praxis auch durchzusetzen. Auch die zweitgrößte Kraft im linken Spektrum, das aus der Linksallianz Synaspismos und etwa einem Dutzend kleiner Organisationen bestehende Bündnis SYRIZA, verfügt über keinen nennenswerten gewerkschaftlichen Einfluss. SYRIZA hat zudem mit internen Auseinandersetzungen auch in der Frage der Haltung zu den Gewerkschaftsdachverbänden zu kämpfen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt: Es genügt ein Funke ...

Neben diesen mehr oder weniger bekannten Problemen, die aus den Differenzen im linken Lager herrühren, haben auch andere Faktoren negative Auswirkungen auf den Widerstand. So sind alle bisherigen harten Streiks seit Amtsübernahme der PASOK auf ebenso hartes Aussitzen seitens der Regierung gestoßen.

Während die Bauern und Bäuerinnen bei ihren geradezu traditionellen Straßenblockaden in den vergangenen Jahren immer Zusagen auf finanzielle Hilfe erkämpfen konnten, zogen sie diesmal nach drei Wochen Blockade ohne einen Cent Unterstützung wieder ab. Den ZöllnerInnen wurde ihr erster Streik nach einer Woche auf Klage der Regierung durch die Gerichte verboten. Immerhin hatten sie durch Unterbindung der Benzinimporte zuvor gezeigt, dass man die Wirtschaft durch punktuelle Aktionen empfindlich treffen kann.

Weiterer "Streikbrecher" ist die "individuelle Lösung". Viele, die aus Familienbesitz über ein Grundstück oder eine Immobilie neben dem Eigenheim - in Griechenland wird Erspartes traditionell in Grundbesitz angelegt - verfügen, versuchen derzeit, sich mit dem Verkauf des Grundbesitzes für die nächsten Jahre Luft zu verschaffen. Auch die Schattenwirtschaft im Dienstleistungsgewerbe hat zugelegt.

Dazu kommt ein wichtiger psychologischer Faktor: Noch sind alle Maßnahmen zwar beschlossen, aber eben zum großen Teil noch nicht umgesetzt, nicht spürbar. Und die Hoffnung, man selbst werde vielleicht doch nicht so betroffen sein, stirbt vor allem bei den nicht im öffentlichen Dienst Angestellten zuletzt. Das neue Steuergesetz wird erst bei der Steuererklärung im nächsten Jahr durchschlagen, die Lohnkürzungen in den nächsten Monaten; nur die Verbrauchssteuererhöhungen ziehen den Menschen schon jetzt die sauer verdienten Euro aus den Taschen.

Allerdings ist das anfänglich suggerierte Einverständnis der Bevölkerung mit den "Sparmaßnahmen zur Rettung der Nation" bereits deutlich zurückgegangen. Hatten Mitte Februar noch fast 70 Prozent der Befragten bei Meinungsumfragen "harte Sparmaßnahmen" für notwendig gehalten, so sprachen sich Anfang März bereits über 80 Prozent gegen weitere Lohnkürzungen, Steuererhöhungen und Einschnitte bei der Rente aus.

Die Anfang März im dritten "Sparpaket" beschlossene Mehrwertsteuererhöhung und die Beschneidung bei Weihnachts-, Oster- und Urlaubsgeld haben den sozialen Sprengstoff geliefert, der wohl bei vielen die Hoffnung auf weitgehendes Verschontbleiben von den Angriffen zunichtegemacht hat. Die Zukunft steht wieder offen, alles ist möglich. "Auch damals, 1973, hätte noch fünf Tage vor der Besetzung des Polytechnikums (1) niemand die folgenden Entwicklungen für möglich gehalten", sagte vor kurzem ein damals Beteiligter. Und fügte hinzu: "Es genügt ein Funke ..."

Vielleicht kann sich dabei die Zersplitterung der Linken wenigstens in einem Aspekt auch als Gutes erweisen. Es herrscht hier zumindest kein Mangel an Alternativen, die von den verschiedenen Parteien vertreten werden. Die Bündelung des Widerstands wäre zwar wünschenswert, aber wenn das nicht möglich ist, muss man eben "getrennt marschieren, vereint schlagen". So schlecht stehen die Aussichten für die "Barrikaden" also nicht.

Die Linke im Ausland könnte ihrerseits durch aktive Solidarität (man könnte es auch Vertretung des Eigeninteresses nennen, denn ihnen drohen die gleichen Angriffe, wenn sie nicht schon betroffen sind) ihr Teil dazu beitragen, dass die derzeitigen Angriffe auf die Rechte und Errungenschaften der Arbeiterklasse erfolgreich abgewehrt und vielleicht sogar neue erkämpft werden können.

Heike Schrader, Athen

Anmerkung:

1) Während der griechischen Militärdiktatur (1967-1974) besetzten im November 1973 Studierende und ArbeiterInnen das Athener Polytechnikum. Der Aufstand an der Athener Hochschule wurde am 17. November von den Panzern der Junta zwar blutig beendet, läutete aber trotzdem den Beginn eines breiten Widerstands und im Endeffekt das Ende der Junta acht Monate später ein.