Aufgeblättert
Geschichtsrevisionismus
Die Verharmlosung des historischen Faschismus in Italien und der öffentliche Kult um den "Duce" Benito Mussolini - das ist seit dem ersten italienischen "Historikerstreit" von 1975 ein immer wieder heftig umkämpftes Thema. Der Schweizer Historiker Aram Mattioli hat dazu jetzt sorgfältig recherchiertes Material zu einem lesenswerten und hochaktuellen Buch zusammengefügt. Dessen Schwerpunkt liegt in der Erinnerungspolitik der von Silvio Berlusconi dominierten Zweiten Republik. Mattioli zeigt Berluconis kalkulierte Tabubrüche und die "demokratischen" Anpassungsleistungen des Neofaschisten Gianfranco Fini, Berlusconis Juniorpartners. Besonderes Gewicht legt der Autor auf die apologetischen Tendenzen in der Alltagskultur. Er belegt diese Tendenzen nicht nur für die Produktionen der Berlusconi-Sender, sondern auch für Dokumentar- und Spielfilme des Staatsfernsehens RAI: Während der antifaschistische Widerstand delegitimiert wird, werden die Faschisten von Mussolinis Sozialrepublik der Jahre 1943 bis 1945 als gute Patrioten dargestellt. Rechte Bürgermeister finden nichts dabei, ihnen Denkmäler zu setzen oder Straßen nach ihnen zu benennen. Mattioli verschweigt nicht, dass auch die Linke einen Teil der Verantwortung für die geschichtspolitischen Abwege trägt: Der von ihr genährte "Resistenza-Mythos", die "Lebenslüge vom kollektiven Widerstand" gegen den Faschismus, habe dazu beigetragen, dass eine (selbst-)kritische Aufarbeitung der Geschichte weitgehend ausblieb.
Js.
Aram Mattioli: "Viva Mussolini!" Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2010. 201 Seiten, 19,90 EUR
Kafkaesker Science-Fiction
"In Situationen von besonderer Bedeutung und hoher Brisanz, wenn also eine Gefahr für das Große und Ganze vorliegt, kommt es vor, dass man auf veraltete Methoden zurückgreifen muss" - in Juli Zehs kafkaeskem Science-Fiction wird die Hauptperson Mia Moll mit körperlicher Folter bedroht. Ihre Reaktion auf die brutale Drohung: "Das Mittelalter ist keine Epoche, sondern der Name der menschlichen Natur." Mia Moll, eine bislang unbescholtene Bürgerin, die sorgfältig allen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommt, will ihren toten Bruder rehabilitieren, dem eine Vergewaltigung vorgeworfen wird. Sie glaubt an seine Unschuld und gerät prompt in ärgste Konfrontation mit dem Staat, mit der "Methode": einem totalitären Überwachungssystem. Nicht nur jeder Schritt der StaatsbürgerInnen wird akribisch überwacht; gefordert und umfassend kontrolliert wird auch ein Höchstmaß an Einsatz für die körperliche Gesundheit jedes Individuums. Zwangsläufig wird Mia Moll der Prozess gemacht, denn sie entspricht nicht der Norm: Sie hängt an ihrem Bruder - viel zu viel Gefühl; und sie denkt eigenständig - viel zu viel Verstand. Ein sehr aktueller und kluger Titel angesichts der derzeitigen Verfasstheit der BRD - und das nicht nur in Bezug auf die Überwachungswahnvorstellungen mancher PolitikerInnen.
Raphaela Kula
Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2009. 263 Seiten, 19,80 EUR
Arbeitet jedeR sexuell?
Wie kommt es, dass Menschen ihre Arbeit häufig nicht als ausbeuterisch zurückweisen, sondern sich oft freiwillig unterwerfen? Renate Lorenz führt dies auf ein neues Dispositiv der Macht zurück. Um dieses genauer zu analysieren, entwickelt sie - in Anschluss an Althusser theoretische Begriffe: Mit "Durchquerung" bezeichnet sie die notwendige Fähigkeit, mit den widersprüchlichen Erwartungen in den Feldern Sexualität und Arbeit gleichzeitig einen Umgang zu finden. Sie spricht vom "Aufwand", den jeder Mensch im Alltag betreiben muss, um die Drohungen und Freiheitsversprechen, denen er sich gegenübersieht, aktiv umzuarbeiten und eine eigene Subjektivität zu entwickeln. Diesen Aufwand bezeichnet sie aus strategischen Gründen als sexuelle Arbeit: Arbeit sei er insofern, als er einen notwendigen Teil gesellschaftlicher Reproduktion darstelle. Sexuell verdeutliche, dass die aktive Einarbeitung in gesellschaftliche Verhältnisse auf Sexualität als einem "wichtigen Scharnier zwischen sozialen Verhältnissen und Subjektivitäten" aufbaut. Wie sich mit diesen Begriffen soziale Praxen analysieren lassen, zeigt Lorenz exemplarisch an verschiedenen berufstätigen Frauen aus dem 19. Jahrhundert. Dies liest sich anregend, sofern man auf der Suche nach historischen Beispielen dafür ist, dass die kulturelle Bedeutung von Arbeit und von Sexualität immer zugleich verhandelt wurde und dass dies Menschen dazu brachte, sich aktiv in die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse einzufügen. Wenig überzeugend ist allerdings, dass Lorenz die hieraus gewonnenen Erkenntnisse verallgemeinert und, ohne dies zu begründen, auf heutige Verhältnisse bezieht. Dadurch wirkt es, als würde das Dispositiv der Macht, das sie vorführen will, ahistorisch und unveränderbar über der Gesellschaft schweben.
Iris Nowak
Renate Lorenz: Aufwändige Durchquerungen. Subjektivität als sexuelle Arbeit. Transcript Verlag, Bielefeld 2009. 231 Seiten, 27,80 EUR
Recht auf Stadt
Geschichtsschreibung von sozialen Bewegungen ist nicht immer konfliktfrei: Womit fing alles an? Wer setzt sich mit welcher Version und Interpretation der Geschehnisse durch? Im letzten Jahr ist in Hamburg unter dem Slogan "Recht auf Stadt" eine heterogene Protestbewegung gegen die neoliberale Stadtpolitik entstanden, die nun bereits eifrig beforscht und ausgewertet wird. Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte, heißt es. Es ist auf jeden Fall (interpretations-)offener, wie das bei Spector Books erschienene Buch "Die Stadt ist unsere Fabrik" zeigt. Auf über 300 Seiten bringt der Hamburger Künstler Christoph Schäfer theoretische Überlegungen zu Stadt- und Raumproduktion zu Papier, dies in enger Anlehnung an die Theorie- und Begriffsbildung des marxistischen Philosophen Henri Lefebvre. Hinzu kommen Bilder, die die Entwicklungen in Hamburg im letzten Jahr skizzieren und Bewegungsmomente festhalten. Dabei findet sich auch Nachdenkliches zur Rolle der Kulturschaffenden im Prozess der Gentrifizierung: "Gerade unsere radikalsten Gesten ließen sich am besten verwenden - zur Aufwertung von Immobilien, zur Identitätskonstruktion von Vierteln. Kaum gab es wo einen illegalen Club, eröffnete nebenan schon eine Cappucinobar, gefolgt von einer New-Media-Agentur (...) Wir waren Unternehmensberater", sagt eine Person, die sich im Café des Artistes (!) mit dem Autor unterhält. "Wir hatten also genau die Fähigkeiten erworben, die der Image-Kapitalismus braucht - visuell alphabethisierte, konsumkompetente Nischen-Nasen", erwidert dieser. Jedoch bleibt das Buch nicht beim Lamentieren über die Vereinnahmung von Subkultur durch städtische Imagepolitik stehen. Schäfer zeigt auch, wie vielfältige Initiativen aktiv versuchen, die "Wachsende Stadt mit Projekten zu umstellen" und sich neue Räume aneignen.
Nicole Vrenegor
Christoph Schäfer: Die Stadt ist unsere Fabrik. Deutsch/englisch. Spector Books, Leipzig 2010, 304 Seiten, 150 Zeichnungen, 28 EUR