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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 549 / 16.4.2010

Deutschlands "unrühmliche Rolle"

Vor 95 Jahren begann der Völkermord an den Armeniern

Im April 2005 wurde im Bundestag eine denkwürdige Debatte über einen von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Antrag geführt. Es ging dabei um ein Verbrechen, das 90 Jahre zuvor im Osmanischen Reich stattgefunden und 1,5 Millionen Armeniern das Leben gekostet hatte. "Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an den Armeniern am 24. April 1915. Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen", war der Antrag betitelt. Fünf Jahre danach reden deutsche PolitikerInnen immer noch gern von Versöhnung; das Wort Völkermord allerdings meiden die meisten: aus Rücksicht auf die Türkei, aber auch um Deutschlands Mittäterschaft herunterzuspielen.

Ganze 45 Minuten hatten die Bundestagsfraktionen 2005 für die Aussprache vereinbart. Geeinigt hatten sie sich auch darauf, anschließend einen interfraktionellen Antrag zu formulieren, um ihre Mission als Vermittler einer "Verständigung und Versöhnung" zum Erfolg zu führen. Sie waren sich auch einig, dass die Vernichtung von 1,5 Millionen Armeniern nicht als Völkermord bezeichnet werden sollte. Im Juni 2005 wurde dann der interfraktionelle Antrag angenommen, in dem der Bundestag "die Taten der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier in Anatolien geführt haben", bedauerte. Es wurde auch an "die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches" erinnert, "das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen."

Nachdem das Europäische Parlament bereits 1987 in einem Beschluss festgestellt hatte, "dass die tragischen Ereignisse, die von 1915-17 stattgefunden und sich gegen die Armenier des Osmanischen Reiches gerichtete haben, Völkermord im Sinne der von der Vollversammlung der UNO am 9. Dezember 1948 angenommenen Konvention zur Verhinderung und Verfolgung des Völkermords sind", folgten mehrere nationale Parlamente - zuletzt in Schweden - diesem Beispiel und bezeichneten das Verbrechen ebenfalls als Völkermord. Obwohl das kaiserliche Deutschland - wie der Bundestag letztendlich zugeben musste - beim Völkermord während des Ersten Weltkriegs eine "unrühmliche Rolle" gespielt hatte, vermied der Bundestag bis 2005 eine Stellungnahme zu dieser Frage.

"Dieses Volk hat man geopfert der Türkei zuliebe"

Deutschland übernahm seine "unrühmliche Rolle" allerdings nicht erst 1915, sondern bereits in den Jahren 1895/96, als unter der Herrschaft Abdul Hamids Massaker stattfanden, denen etwa 300.000 Armenier zum Opfer fielen. Im April 1913 erinnerte der Sozialdemokrat Eduard Bernstein im Reichstag daran, wie die kaiserliche Regierung nach dem Berliner Kongress von 1878 immer mehr zu einem zuverlässigen Verbündeten des türkischen Herrschers wurde und dessen blutiger Politik gegenüber den Armeniern Rückendeckung gab:

"Die Türkei hat seit dem Berliner Vertrage von 1878 auf Grund des Art. 61 die Verpflichtung, in Armenien geordnete Zustände zu schaffen, die der Bevölkerung eine gewisse Selbstverwaltung lassen und sie gegen Gewalttaten der Kurden und Gewaltakte der Beamten sichern. Die armenische Bevölkerung erstrebt keine Loslösung von der Türkei, sie verlangt nicht einmal provinzielle Autonomie. Ihre Forderungen sind so bescheiden wie nur möglich, und trotzdem sind sie nicht verwirklicht worden. Wer die Schuld daran trägt, dass sie nicht verwirklicht worden sind, das sind die beiden Länder Russland und Deutschland. Als in den 90er Jahren eine unerhörte Metzelei in Armenien stattgefunden hatte, als Metzeleien von Armeniern in Konstantinopel erfolgt waren, traten die Botschafter zusammen, und die Kabinette der Regierungen von Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, von Österreich, von Italien hatten sich dahin geeinigt, die Türkei anzuhalten, endlich einmal die Bestimmungen des Berliner Vertrages, die sie übernommen hat, sinngetreu durchzuführen. Und wer hat damals den Widerstand Abdul Hamids unterstützt? Das war vor allem Dingen das Deutsche Reich. Das Deutsche Reich hat damals, um sich die Freundschaft der Türkei warmzuhalten, die Schuld an den weiteren Metzeleien auf sich geladen. Dieses Volk, das erste Volk - sie nennen sich doch auch Christen - , das das Christentum dort eingeführt und mit unsäglichen Opfern ganze Jahrhunderte hindurch aufrecht erhalten hat, hat man geopfert der Türkei zuliebe."

Als die "Jungtürken" 1908 mit einer "Revolution" Sultan Abdul Hamid entmachteten, schien es zeitweilig so, als ob Deutschland seinen Einfluss im Osmanischen Reich verlieren würde. Die Armenier bejubelten die "jungtürkische Revolution" und hofften, dass nun die auf dem Berliner Kongress versprochenen Reformen durchgeführt würden. Aber sehr bald setzte sich eine extrem nationalistische, reaktionäre und pan-türkische Strömung innerhalb der Jungtürken durch. Deutschlands Einfluss nahm dank der deutschen Militärmission wieder zu. Es war vor allem Talat und Enver Pascha - zwei Schlüsselfiguren innerhalb der jungtürkischen Führung - zu verdanken, dass das Osmanische Reich auf der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg eintrat. Innenminister Talat und Kriegsminister Enver Pascha zählten zu den Hauptverantwortlichen für das Verbrechen an den Armeniern.

Bei der Bundestagsdebatte im April 2005 sagte der CDU-Abgeordnete Christoph Bergner: "Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte die Debatte um das Schicksal der osmanischen Armenier bereits 1916 hier im Reichstag stattfinden können. Unweit von hier informierte Johannes Lepsius am 7. Oktober 1915 die Presse. Die deutsche Militärzensur verhinderte jedoch die Verbreitung seiner Berichte zur Lage des armenischen Volkes in der Türkei. Die Zensur unterband auch die Information der Reichstagsabgeordneten. So fand die Debatte nicht statt."

Bergner verschwieg, dass Karl Liebknecht am 11. Januar 1916 im Reichstag eine Anfrage gestellt hatte, um von der Regierung Auskunft über die Ereignisse im Osmanischen Reich zu erhalten. Liebknecht bezog sich dabei ausdrücklich auf die von dem deutschen Pfarrer Johannes Lepsius verbreiteten Informationen über die Deportationen und Massaker. "Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reich die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Gräuel zu verhindern?", wollte Liebknecht von der Regierung wissen.

Deutschland übernimmt die Position der Türkei

Ein Vertreter des Auswärtigen Amts antwortete: "Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt, dass die Pforte (die Regierung des Osmanischen Reiches; Anm. ak) vor einiger Zeit, durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden." Im Reichstag bestand weder Interesse an einer Debatte, noch an den "näheren Einzelheiten des Gedankenaustausches" zwischen den Regierungen.

Das deutsche Auswärtige Amt war über alles, was im Osmanischen Reich vor sich ging, bestens informiert. Davon zeugen die zahlreichen Dokumente die dort im Archiv aufbewahrt wurden. Sie geben ein genaues Bild über das ganze Ausmaß der Verbrechen. (1) Darunter befindet sich eine Notiz von Reichskanzler Bethmann Hollweg vom Dezember 1915, das keinen Zweifel darüber lässt, was für die kaiserliche Regierung und Militärführung von vorrangigem Interesse war: "Unser einziges Ziel ist," vermerkte Bethmann Hollweg zu einem Bericht seines Botschafters in Konstantinopel, "die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht." (2)

Keine Konsequenzen aus der deutschen Verantwortung

Es vergingen 90 Jahre, bis ausgerechnet die Christdemokraten die Initiative ergriffen, um das Verbrechen an den Armeniern auf die Tagesordnung des Bundestags zu bringen. In dem am 15. Juni 2005 angenommen interfraktionellen Antrag wurde das Verbrechen aber nicht beim Namen genannt. "Es wird die Türken wenig beeindrucken," war der CDU-Abgeordnete Pflügler überzeugt, "wenn wir hier, wie das andere Parlamente getan haben, die Entscheidung treffen, dass auch wir der Meinung sind: Das ist Völkermord." Statt dessen forderten die deutschen Abgeordneten die Bundesregierung auf, "sich für die Bildung einer Historiker-Kommission einzusetzen, an der außer türkischen und armenischen Wissenschaftlern auch internationale Experten beteiligt sind." Damit war eine Hauptforderung Ankaras übernommen worden. Dieses Entgegenkommen honorierte die türkische Regierung mit einem Verzicht auf die sonst üblichen Drohungen, Proteste und diplomatischen Rituale, die bei einer förmlichen Anerkennung des Völkermords an den Armeniern folgten. Die türkisch-nationalistischen Verbände in Deutschland hatten lediglich mit einer Unterschriftenaktion Unmut über die Debatte bekundet, aber keine weiteren Protestaktionen durchgeführt.

Mit einer Debatte von 45 Minuten und einem Beschluss, der für Ankara im Rahmen des Erträglichen blieb, wäre eines der grauenvollsten Kapitel des 20. Jahrhundert geschlossen worden, wenn nicht die Linksfraktion mehrere Kleine Anfragen eingereicht hätte. Am 19. März 2007 fragte sie nach den "Konsequenzen aus der deutschen Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern" (Bundestags-Drucksache 16/4750) und wollte wissen, ob die Bundesregierung bereit sei, "in Deutschland einen nur der historischen Wahrheit verpflichteten Prozess der Auseinandersetzung mit dem Völkermord, insbesondere in Kooperation mit türkischen und armenischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, politisch zu fördern und materiell zu unterstützen". In der Antwort hieß es u.a.: "Die Bundesregierung begrüßt alle Initiativen, die der weiteren Aufarbeitung dieser geschichtlichen Ereignisse dienen. Eine Bewertung der Ergebnisse dieser Forschungen sollte durch Historiker unternommen werden."

In einer weiteren Kleinen Anfrage am 7. Juli 2008 wollte die Linke wissen, welche konkreten Schritte seit Verabschiedung des Antrags unternommen wurden, damit "zwischen Türken und Armeniern durch Aufarbeitung, Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird?" (Bundestags-Drucksache 16/9965) Die Antwort der Bundesregierung lautete wieder: "Die Bundesregierung begrüßt alle Initiativen, die der weiteren Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/16 dienen. Eine Bewertung der Ergebnisse dieser Forschungen sollte durch Historiker unternommen werden."

Zuletzt wollte die Linksfraktion in einer Kleinen Anfrage vom 10. Februar 2010 wissen, ob die Bundesregierung die Massaker an den Armeniern 1915/16 eindeutig als Völkermord im Sinne der UN-Konvention von 1948 bewertet. Das Auswärtige Amt antwortete mit den bekannten Worten: "Die Bundesregierung begrüßt alle Initiativen, die der weiteren Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/16 dienen. Eine Bewertung der Ergebnisse dieser Forschungen sollte Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftlern vorbehalten bleiben. Dabei ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Aufarbeitung der tragischen Ereignisse von 1915/16 in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien ist."

Cornelia Pieper, die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, wiederholte damit fast wortwörtlich das, was ihre Vorgänger bereits seit 2001 bei ähnlichen Kleinen Anfragen geantwortet hatten: "Die Bundesregierung ist der Ansicht, dass die Frage der Massaker an den Armeniern 1915/16 im Wesentlichen eine historische Frage und damit Gegenstand der Geschichtswissenschaft und in erster Linie Sache der betroffenen Länder Armenien und Türkei ist", antwortete die rot-grüne Regierung im März 2001 auf eine Kleine Anfrage der PDS. Egal wer an der Regierung ist, niemand will von Völkermord an den Armeniern reden. Fragen werden mit Hilfe von Textbausteinen beantwortet.

Während das Europäische Parlament, andere nationale Parlamente und wissenschaftliche Institutionen das Verbrechen an den Armeniern längst als Völkermord qualifiziert haben, beharrt die Regierung in Berlin auf dem Standpunkt, dass die Ereignisse von 1915/16 noch aufgearbeitet und die Ergebnisse der Forschung durch Wissenschaftler bewertet werden sollten. "Mit dieser Position", stellt die Linksabgeordnete Katrin Werner in einem Offenen Brief an das Auswärtige Amt fest, "vertritt die Bundesregierung ganz unverhohlen den offiziellen Standpunkt der türkischen Regierung". Von einer Aufarbeitung der in der Bundestagsdebatte im April 2005 offen zugegebenen Mitschuld Deutschlands am Völkermord an den Armeniern - der Grüne Fritz Kuhn hatte im Plenum sogar eine Entschuldigung bei den Armeniern gefordert - kann ebenfalls keine Rede sein. Die neuerliche Stellungnahme der Bundesregierung zeigt vielmehr, dass weiterhin versucht wird, sich der Verantwortung zu entziehen.

Toros Sarian

Anmerkungen:

1) www.armenocide.net

2) Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts