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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 550 / 21.5.2010

Begegnungen mit der Schweiz Lateinamerikas

Ein neues Buch versammelt Aufsätze über Uruguay

"Uruguay - ein Land in Bewegung" heißt eine neue Veröffentlichung über das kleine lateinamerikanische Land zwischen Brasilien und Argentinien. Die 24 AutorInnen, in der Mehrzahl Deutsche, berichten in 50 Texten über Uruguay. Herausgekommen ist ein buntes Buch, spannend zu lesen und informativ, an dem man nur wenig kritisieren mag.

Es gibt Kapitel über die Geschichte des Landes, das aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation einmal "die Schweiz Lateinamerikas" genannt wurde, über soziale Bewegungen, aber auch über den uruguayischen Karneval, die Musikszene, das Kino und die Bedeutung des Fußballs. Auch die uruguayische Variante des Rassismus wird beschrieben - obwohl die weißen UruguayerInnen davon überzeugt sind, nicht rassistisch zu sein.

Daneben finden sich Kurzbiographien von berühmten Personen wie den Schriftstellern Eduardo Galeano, Mario Benedetti, Juan Carlos Onetti, dem Musiker Daniel Viglietti sowie dem deutschen Juden und Kommunisten Ernesto Kroch.

Einen guten Überblick über die Verletzung der Menschenrechte während der Diktatur von 1973 bis 1985 bieten die Artikel zu den Menschenrechtsbewegungen und über Sara Mendez. Sie wurde 1976 in Buenos Aires, wohin sie nach dem Beginn der Militärdiktatur 1973 geflohen war, verhaftet und ihr ein Monat alter Sohn Simon entführt. Nach mehreren Wochen im Folterlager Orletti in Buenos Aires brachte man sie nach Montevideo, wo sie acht Jahre im Gefängnis blieb. Nach ihrer Entlassung entdeckte sie, dass niemand wusste, wo Simon geblieben war, und erst nach 26 Jahren Suche fand sie ihn bei einer argentinischen Polizistenfamilie in Buenos Aires wieder.

Besonders hervorzuheben ist der Widerspruch, der sich auftut zwischen den Menschenrechtsverletzungen durch die zivil-militärische Diktatur und dem generellen Versuch, nach deren Ende 1985 diese Geschehnisse zu "vergessen". Dieser Widerspruch existiert genauso in Brasilien oder Chile; ein Meister darin ist Deutschland gewesen.

In Uruguay dauerte es mehr als 25 Jahre, bis herauskam, dass die uruguayischen Verschwundenen, die nach dem Beginn der Militärdiktatur nach Argentinien geflohen waren, nicht in Argentinien umgebracht worden sind, wie bis dahin "alle" dachten, sondern in Uruguay selbst: Sie wurden mit uruguayischen Flugzeugen und Militärs im Rahmen des Plan Condor aus den argentinischen Folterlagern geholt, nach Uruguay geflogen und hier ermordet.

Die offizielle und von vielen geglaubte Version hieß jedoch lange Zeit: Die uruguayische Diktatur war nicht mörderisch. Auseinandergebrochen ist diese Konstruktion wie überall erst am Kampf um die Wahrheit durch die unmittelbar Betroffenen, die so in die Machtverhältnisse eingegriffen haben. Zuvor hatten alle Regierungen seit 1985 am Mythos von der nicht-mörderischen Diktatur mitgearbeitet. Es dauerte 20 Jahre, bis die ersten Militärs wegen Menschenrechtsverletzungen verhaftet und verurteilt wurden. Das aktuelle Regierungsbündnis Frente Amplio, das gerade seine zweite Amtszeit begonnen hat, sorgte zwar für die Verhaftung einiger Foltermilitärs; trotzdem hat auch das "Linksbündnis" diesen Mythos bedient. Nicht nur das: Nach seinem Amtsantritt im März war es eine der ersten Handlungen des Ex-Tupamaro und jetzigen Regierungschefs Pepe Mujica, einige Militärs aus der Haft zu entlassen und in den Hausarrest zu schicken. Mujica hält Straflosigkeit für die politisch richtige Option.

Wie ein roter Faden zieht sich der Weg der Tupamaros von der Stadtguerilla bis zur Regierungsbildung mit der Frente Amplio durch das Buch. Beispielhaft dafür steht Mujica. Vor und während der Militärdiktatur war er mehr als 13 Jahre gefangen, die meiste Zeit davon in Erdlöchern und Militärkasernen. Die letzten beiden Jahre der Gefangenschaft rettete er sich in die Verrücktheit.

Ehemalige Tupamaros bilden heute das Zentrum des Regierungsapparats. Das Buch umreißt ihre Erfolge sowie Widersprüche und die Veränderungen der ursprünglichen politischen Zielsetzungen. Es erhebt dabei nicht den Anspruch, Diskussionsvorlage für linke Politikzirkel zu sein, sondern wird auf gut lesbare Weise jedem gerecht, der sich eine Vorstellung von diesem Land machen möchte.

Mit einer Ausnahme: Der Armut ist in dem Buch kein eigenes Kapitel gewidmet - so, als gäbe es sie nicht im schönen Uruguay. Doch wie genau sieht ein Land aus, wenn 2004 laut offizieller Statistik 32 Prozent der Bevölkerung arm sind bzw. eine halbe Million Menschen "in extremer Armut" leben - bei insgesamt drei Millionen EinwohnerInnen? Hier fehlt ein genauerer Blick auf die soziale Lage in Uruguay.

Es stimmt zwar, dass die Frente Amplio soziale Erleichterungen wie ein zweijähriges Mindesteinkommen für die Allerärmsten geschaffen hat und die Zahl der Kinder, die auf der Straße leben, deutlich zurückgegangen ist. Trotzdem: Läuft man durch das Stadtzentrum Montevideos, trifft man plötzlich auf Ansammlungen von kleinen provisorischen Bretter- oder Zementhütten. Dicht aneinandergeklebt stehen sie in der Hauptstadt; statt Türen gibt es Stofffetzen. Viele Kinder laufen - auch bei Kälte - barfuß herum. Frauen, Männer und Kinder haben nur noch wenige Zähne, und wenn es regnet, wird das Gelände, auf dem ihre Hütten stehen, zu Schlamm.

Die meisten derjenigen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können - darunter auch VolksschullehrerInnen, Supermarktangestellte oder PolizistInnen mit ihren Familien -, werden am Rand der Stadt ausgespuckt. Auf der Busfahrt aus dem Zentrum Montevideos in Richtung Westen, Süd- oder Nordwesten kommt man durch große Gebiete, in denen auf besetztem Land Menschen in armseligen Hütten oder leerstehenden Fabrikanlagen wohnen. Dazwischen stehen klapprige Gäule.

Die Pferde ziehen Karren, auf denen der in den Straßen Montevideos eingesammelte Müll transportiert wird, der später getrennt und verkauft wird. In diesen Vierteln ist die Hautfarbe der Menschen ein ganzes Stück dunkler als im Stadtzentrum. Die Kriminalität, ein groß aufgeblasenes Thema in den täglichen Nachrichtensendungen, findet vor allem hier statt. Die Wut der Ausgesonderten richtet sich gegeneinander. Und wer keinen Job findet, sucht sein Glück bei den Drogen. Sie waren in Uruguay schon immer so billig wie sonst kaum etwas.

Crack, "pasta base", kostet so viel wie ein Busticket, und viele junge Menschen ohne Perspektive flüchten sich in diesen Ausweg, der rasend schnell tödlich ist. Man kann diese jugendlichen Erwachsenen mit leeren Gesichtern an vielen Straßenecken herumhängen sehen. Schießereien gibt es seit 15 Jahren so vor allem in den Armenvierteln beim Streit um den Drogenhandel. Die uruguayische Regierung schützt mit Bodyguards eben nur den Regierungschef, den Innenminister und den von der Frente neu eingesetzten Drogenbeauftragten, sonst niemanden. Und die Drogenbarone aus dem Norden, aus Brasilien und Kolumbien, schaffen sich über Uruguay neue Transportwege nach Europa.

Margrit Schiller

Stefan Thimmel, Theo Bruns, Gert Eisenbürger, Britt Weyde: Uruguay. Ein Land in Bewegung. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010. 269 Seiten, 18 EUR