Wo leben wir denn hier eigentlich?
Zur Programmdebatte der Linkspartei
Die einen nennen es einen "durchdachten Arbeitsplan im politischen Kampf". Für die anderen ist es eine Ansammlung von "durchsichtiger antikapitalistischer Rhetorik". Die Programmdebatte in der Linkspartei läuft. Aber wohin? Nach langen, und wie sich der Sekretär der zuständigen Parteikommission Bernd Ihme erinnert, "oft recht kontroversen Diskussionen", ist Ende März der Entwurf für ein Grundsatzprogramm der Linken veröffentlicht worden. In seltener Eintracht hatten zuvor eine Mehrheit in der Partei und der öffentliche Mainstream wieder und wieder auf eine Leerstelle gezeigt, die es gar nicht gab. Schließlich lagen die "Eckpunkte" vor, ein Programm, das allerdings nicht so hieß. Dann sollte es ein neues geben und als der Entwurf vorlag, hatten die Medien ihre Geschichte.
Es sei ein Programm von politikunfähigen Linken, einer Partei, die mit überzogenen Forderungen auf eine Strategie der maximalen Abgrenzung einschwenke und überhaupt: "Mit diesem Programm ist kein Staat zu machen." Über Sätze wie diesen konnten linke KritikerInnen der Linkspartei allenfalls schmunzeln. Kommentare wie dieser zeigten aber auch: Eine Programmdiskussion die den Namen verdient, würde woanders stattfinden müssen als auf den Spalten der Süddeutschen Zeitung. Die Wortmächtigen der Partei hielten sich nicht daran.
Kaum war der Entwurf vorgestellt, musste jedeR etwas dazu sagen. In der Öffentlichkeit kamen nur Schlagworte an: Die Realos aus dem Osten wehren sich gegen den Entwurf, die Fundis aus dem Westen verteidigen das Papier. Der Kampf zweier Linien, der große Schlagabtausch zwischen ReformerInnen und AntikapitalistInnen, der Streit ums Erbe von Oskar Lafontaine - ihr eigenes Echo bringt die Linkspartei in die Defensive. DIE LINKE hat also, erstens, ein Kommunikationsproblem. Die Partei führt ihre Diskussionen vorrangig auf einem Spielfeld, auf dem Regeln gelten, welche sie nicht bestimmen kann.
Medien folgen einer eigenen Logik
Vielleicht hatten sie ihrem scheidenden Parteichef Lothar Bisky nicht richtig zugehört, der bei der Präsentation im März warnte, dass Programmdebatte und Medien "gegensätzlich orientiert" sind. Da erscheinen Papiere zuerst in überregionalen Zeitungen, die zwar kein Interesse an der Programmdebatte haben, wohl aber daran, eine exklusive Nachricht darüber zu produzieren, wie zerstritten doch wieder die Linkspartei ist. Das Schubladendenken der anderen wirkt auf die "eigentliche Programmdebatte" zurück und formatiert sie entlang der organisierten Strömungsgrenzen.
Hier liegt ein zweites Problem des linken Programmdiskurses: die Plattformen und Zusammenschlüsse. Natürlich handelt es sich bei denen um wichtige Ausdrucksformen des linken Pluralismus. Doch die Strömungen repräsentieren nur eine Minderheit der Mitglieder der LINKEN. Bei der Formulierung von Kompromissen werden nicht einmal alle von ihnen gleichermaßen berücksichtigt, sondern vor allem jene, die sich besonders als solche gerieren: Ihre programmatischen Vorstöße sind stets auch Teil eines Dauerkonflikts um innerparteiliche Ressourcen, um personelle Macht und um alte, offene Rechnungen.
Dem selbst verkündeten Anspruch der Linkspartei, die Programmdebatte müsse "möglichst breit geführt" werden, steht beides entgegen. "ExpertInnen" legen ein Papier vor - und weiter unten in der Partei kann man sich dann der einen oder anderen Meinung anschließen. Hans Modrow, der frühere Ehrenvorsitzende der PDS, wird jetzt gern mit den Worten zitiert: "Die Diskussion um ein Parteiprogramm ist mindestens so wichtig wie das Programm selbst. Die Mitglieder machen sich bewusst, woher sie kommen und wohin sie gehen." Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur ist es nicht so. Wer keinen privilegierten Zugang zu Medien hat, wer nicht in einer der "Parteien in der Partei" organisiert ist, der hat es schwer, sich überhaupt an der Diskussion zu beteiligen. Und mitunter hilft nicht einmal die Strömungsmitgliedschaft.
Eine Anekdote, die Linksfraktionschef Gregor Gysi auf dem Höhepunkt der Winterkrise der LINKEN erzählte, illustriert das. GenossInnen hätten ihm berichtet, dass sie zwar Mitglieder einer Strömung sind, dies aber in ihrem Landesverband nicht offen sagen könnten, weil "sofort ein Feindbild gegen sie" entstehen würde. Einen anderen fragte Gysi: "Sage einmal, ich habe hier so einen Antrag an den Parteitag von dir gelesen. Das ist ja komisch: Hast du deine Auffassung diesbezüglich geändert?" Nein, nein, antwortete der Genosse darauf, "meine Auffassung ist noch dieselbe." Aber wenn er den Antrag nicht mit unterschrieben hätte, wäre er auch nicht Kandidat für den Bundestag geworden. Gysi war darüber keineswegs amüsiert: "Wo leben wir denn hier eigentlich?"
Mit dem eigenen Echo in die Defensive
Was beim Fraktionsvorsitzenden ein Ausdruck der Empörung über die Zustände in seiner Partei war, könnte auch als Überschrift der Programmdebatte dienen. Umstritten ist an dem vorgelegten Entwurf nämlich nicht zuletzt die Frage, ob die Wirklichkeit darin überhaupt richtig beschrieben ist. Von diesem Punkt aus, von der Analyse des real existierenden Kapitalismus, führen Linien zu fast allen anderen zentralen Differenzen in der Linkspartei. Also: Wo leben wir denn hier eigentlich?
Das kommt ganz darauf an, wer den Entwurf gelesen hat. Das Forum demokratischer Sozialismus beklagt "unrealistische Analysen über gesellschaftliche Ausgangsvoraussetzungen" und fordert, die "zahlreichen fortschrittlichen Elemente" des Kapitalismus anzuerkennen - nicht zuletzt, weil sie ja von sozialen Bewegungen erst erkämpft werden mussten. Auf der anderen Seite des politischen Koordinatensystems der Linkspartei stört sich die Antikapitalistische Linke dagegen an den vielen "undifferenzierten Preisungen der vermeintlichen Leistungen des Kapitalismus". Jemand frohlockt, die Wirtschaftskrise habe "die Anhänger eines regulierten, gezähmten Kapitalismus in der Partei ideologisch in die Defensive gebracht". Und der nächste zürnt, im Entwurf gebe es "nur den Kapitalismus, nur die Kapitalverwertung". Ja, was denn nun?
Es geht dabei nicht um Geschmacksfragen, sondern ums Ganze. Michael Brie, der das Institut für Gesellschaftsanalyse der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung leitet, hat es im Neuen Deutschland (22.3.10) so formuliert: Wenn Kapitalismus nur Unterdrückung wäre und sich in den sozialstaatlichen und demokratischen Errungenschaften lediglich eine Ausnahme kapitalistischer Normalität zeige, dann müsste eine sozialistische Strategie ohne Wenn und Aber auf den revolutionären Bruch zielen. Wenn aber der Kapitalismus mehr ist, dann müsste dieses "Mehr" in einer neuen, einer sozialistischen Gesellschaft bewahrt werden. Die Verteidigung von Errungenschaften hätte nicht nur den Zweck, die Voraussetzungen für den revolutionären Bruch zu verbessern, sondern sie wären schon selbst Bestandteil einer "sozialistischen Transformation".
Und das ist die eigentliche Leerstelle des Programms. Es steht zwar darin, dass der "große transformatorische Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung" von "vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein" wird. Über die Frage des praktischen "Anknüpfens", über die "tatsächliche Bewegung" im Spannungsfeld von Protest und Parlament, die mal mit und mal gegen den Staat gerichtet wäre, die Altes aufgreift um Neues daraus zu formen - darüber findet sich im Programmentwurf kaum etwas. Man kann die Lücke beim Umblättern förmlich sehen: auf der einen endet das Kapitel über den "Demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert", auf der anderen beginnt die Auflistung "linker Reformprojekte". Die Brücke zwischen den Seiten 13 und 14, sie fehlt.
Der Programmentwurf müsse "eine wirkliche Verbindung von Systemkritik und transformatorischer Veränderung" erst noch herstellen, hat unlängst auch das Forum Demokratischer Sozialismus moniert. Einen Vorschlag dazu macht die Erklärung der Realos unter der Überschrift "Mut zur Reform" allerdings nicht. Wobei man gern erfahren hätte, wie es denn den rot-roten Landesregierungen in Berlin und Brandenburg gelingt, das eine mit dem anderen zu verbinden. Wo sind die Einstiegsprojekte, die ersten Schritte für den Umbau, wo der "Mut zur Reform"? Denn die AutorInnen sagen es ja selbst: Nur daran lässt sich die Wirksamkeit linker Politik messen.
Fehlende Brücke zwischen Reform und Systemkritik
Die Antikapitalistische Linke hält die Frage längst für beantwortet. Katharina Schwabedissen, Landessprecherin in Nordrhein-Westfalen, bemüht Rosa Luxemburg und sagt, "dass es eigentlich keine Option für eine Regierungsbeteiligung gibt, es sei denn man übernimmt die Regierung im Verlaufe dieses Prozesses. Das ist momentan nicht absehbar. Regierungsbeteiligungen verändern die Partei und zwar in die falsche Richtung." Und so trifft der strategische Dissens auf die programmatische Differenz. Die einen wollen sich das Mitregieren nicht durch generalisierte rote Linien versperren lassen, die anderen glauben, parlamentarischer Gestaltungsanspruch wende sich über den Umweg der Anpassung früher oder später gegen das Ziel gesellschaftlicher Veränderung. Es ist die Wiederaufführung eines alten Stücks.
Zur Folklore linker Programmdebatten gehört nicht nur, bei erstbester Gelegenheit Marx' Diktum vom "Schritt zu wirklicher Bewegung" zu zitieren. Sondern auch, sich gegenseitig zu konstruktivem und solidarischem Streit aufzurufen. Die Reform-Strömung hat ihre Kritik am Entwurf drei Tage vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen lanciert. Als erste berichtete die Süddeutsche darüber - unter der Überschrift "Horrorszenario der Welt" - andere Zeitungen zogen nach. Die "vernichtende Kritik" am Programm musste sich so in einen Wahlkampf-Beitrag zu Ungunsten der eigenen Partei verwandeln. Über die Medien mache er sich "keine Illusionen mehr", hatte Bisky seinerzeit bei der Vorstellung des Entwurfs erklärt. Die Warnung ist auf den Flügeln der Partei nicht angekommen.
Tom Strohschneider