Gegenrevolution in den Wahlkabinen
In Ungarn triumphieren Rechtspopulisten und Ultrarechte
Bei den ungarischen Parlamentswahlen Mitte April hat die rechtspopulistische Partei Fidesz mit 53% der Wählerstimmen eine Zweidrittelmehrheit erreicht. Damit kann sie nach Belieben die Verfassung ändern. Die rechtsextreme Partei Jobbik ist mit über 12% vertreten. Zusammen kommen Fidesz und Jobbik auf 80% der Mandate. In seiner Siegesrede spricht Fidesz-Chef Viktor Orbán von einer Revolution in den Wahlkabinen und einer Verwirklichung der Wende nach 20 Jahren: "Heute haben die Ungarn ein System gestürzt und ein neues errichtet."
Wie sein neues System aussehen soll, hat Orbán auch schon umrissen. Im Gegensatz zum bisherigen "dualen politischen Kräftefeld", in dem ständige Debatten zur politischen Handlungsunfähigkeit geführt hätten, entwickle sich nun ein singuläres politisches Kräftefeld. Dieses sei allein legitimiert, die Nation zu repräsentieren, und müsse deshalb auch nicht mehr den Kompromiss mit der Opposition suchen. Ziel seiner Politik sei es, diesen Zustand dauerhaft zu konservieren.
Dabei sind die realpolitischen Anforderungen an Orbáns Regierung dem Wählerauftrag diametral entgegengesetzt. Die jetzt anstehende harte Reform- und Sparpolitik hatte Fidesz in der Opposition immer blockiert. Nach Orbán erwarten die WählerInnen aber von ihm, "dass er das Land stabilisiert, den Sparkurs beendet und keine schmerzhaften Reformen mehr durchführt, sondern sich nur von den Kommunisten zurückholt, was die dem Land gestohlen haben und was von Rechts wegen dem Volk gehört".
Jobbik-Chef Vona in der Weste der Ungarischen Garde
Vor den Wahlen war es Orbáns langfristiges Ziel, keine Partei rechts von Fidesz zuzulassen. Über Jahre hat diese sich die ultrarechten Vorgängerparteien von Jobbik einverleibt. Bis zu den EU-Wahlen 2009 war Jobbik keine Konkurrenz für Orbán, doch dann holten sie dort fast 15%, und der Wettlauf um die ultrarechten Wählerstimmen begann. Orbán vermied es, sich inhaltlich von Jobbik abzugrenzen, und duldete auch rechtsextreme Äußerungen aus den Reihen seiner eigenen Partei.
So tauchten im Sommer 2009 ältere Mitschnitte einer Gemeinderatssitzung der nordostungarischen Stadt Edelény auf. Darin behauptete der Bürgermeister Oszkár Molnár, damals Fidesz-Abgeordneter, die schwangeren Romafrauen seiner Gemeinde würden ihre ungeborenen Kinder absichtlich mit Medikamenten und Gummihämmern schädigen, um höheres Kindergeld zu bekommen. Teile der Bevölkerung und linksliberale Medien protestierten, doch ein Rücktritt kam für Molnár nicht in Frage. Dann tauchten weitere Videos auf. Über einen ehemaligen Staatssekretär sagte Molnár, dieser werde schon merken, "wie es ist, wenn ,Gleichgeschlechtliche` die Ehe schließen", wenn er erst im Gefängnis der Vergewaltigung durch Mithäftlinge ausgesetzt sei. Der Staatssekretär hatte sich für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften eingesetzt. Auch mit antisemitischen Wahnvorstellungen präsentierte sich Molnár in Interviews.
Noch im November 2009 war von Fidesz zu hören, die Parteiführung betrachte die Äußerungen des Edelényer Bürgermeisters "als lokale Angelegenheit", und Molnárs Kandidatur bei den Parlamentswahlen werde der Wahlkreis entscheiden. Prompt kam es dort zu einer spontanen Sympathiekundgebung mit Hunderten von Leuten, und wenig später brachte das Fidesz-nahe Magazin Demokrata einen stolz lächelnden Molnár auf dem Titel: "Ich nehme nichts zurück." Zur selben Zeit rief das Magazin in einer Glosse zur Verbrennung von Werken jüdischer Schriftsteller auf.
Orbán muss sich von Jobbik distanzieren - aber wie?
Als Fidesz im Dezember die Kandidaten aufstellte, war Molnár doch nicht dabei. Er kündigte an, als Parteiloser anzutreten, trat aber offiziell nicht aus. Bei den Wahlen unterlag Molnár im ersten Wahlgang dem Fidesz-Kandidaten, im stichwahlartigen zweiten Wahlgang zog Jobbik seinen Kandidaten zurück und warb bei den eigenen Anhängern für Molnár - dieser gewann den Wahlkreis.
Orbán ließ sich im November zwar zu der Aussage herab, dass er Molnárs Äußerungen "peinlich" finde, er sagte aber auch: "In Ungarn wird von politischen Führern nicht erwartet, sich von etwas zu distanzieren, sondern dass sie endlich Ordnung schaffen." Da wundert es nicht, dass in Ungarn rassistische und antisemitische Inhalte in weiten Kreisen der Bevölkerung salonfähig geworden sind.
Jetzt hat Orbán eine Partei in der Opposition, die ebenfalls den alleinigen Anspruch erhebt, die "Nation" zu repräsentieren. Jobbik wird von Anfang an auf Konfrontationskurs gehen und Orbáns Diktum "Die Heimat kann nicht in der Opposition sein" gegen ihn selbst richten. Jobbik ist eine Protestpartei gegen das "System", und jetzt ist Fidesz "das System". Zudem muss die Partei jetzt den eigenen Leuten zeigen, dass sie sich nicht von Fidesz vereinnahmen lässt, sondern eine "authentische", "unkorrumpierbare" politische Basisbewegung bleibt. So hat Jobbik-Chef Vona schon angekündigt, sich auf der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments in der Weste der verbotenen Ungarischen Garde vereidigen zu lassen. Die juristischen Konsequenzen werde er in Kauf nehmen.
Auf solche und viele weitere Provokationen wird die neue Regierung reagieren müssen, und sie dürfte dabei autoritärer und effizienter vorgehen als die vorige. Und während die Jobbik-Abgeordneten sich im Parlament als "Demokraten" gebärden, werden sie ihre AnhängerInnen bei jeder Gelegenheit gegen die "Diktatur" auf die Straße schicken und Polizeimaßnahmen als Menschenrechtsverstöße und Polizeiterror anprangern. Ein willkommener Anlass dürfte beispielsweise wieder der Budapester Christopher Street Day am 10. Juli 2010 sein. Was seit 1997 eine friedliche Veranstaltung der Alternativkultur war, ist seit 2008 einer der Großkampftage der Ultrarechten, mit Unterstützung der Fidesz-nahen Medien. Nach acht Jahren wird die Parade nun erstmals wieder unter einer Fidesz-Regierung stattfinden, und man darf gespannt sein, wie sie die Situation handhabt.
Orbán wird sich gezwungenermaßen schon sehr bald von Jobbik distanzieren müssen. Die Frage ist nur, wie er das macht. Im Ausland wird man es als positives Signal werten, wenn er auf politischer und juristischer Ebene konsequent gegen die Ultrarechten vorgeht und z.B. das Verbot der Ungarischen Garde konsequent durchsetzt. Doch man sollte genau hinsehen, mit welchen Mitteln er das tut.
Es ist nämlich nicht mehr damit getan, ein paar Nazis wegzusperren. Die größten Wahlerfolge hatte Jobbik im armen Nordosten des Landes mit teilweise über 30%, doch auch landesweit blieb sie nirgends unter 10%. Jobbik und die Garde sind deshalb so gefährlich, weil sie mit ihren Aktivitäten den Raum besetzen konnten, den in funktionierenden Demokratien die Zivilgesellschaft einnimmt. Sie machen sehr effektive "Communityarbeit", holen die Leute genau dort ab, wo sie stehen. Da gibt es tatkräftige Nachbarschaftshilfe, Spendenaktionen und Sammlungen für bedürftige magyarische Familien, Ferienlager für Kinder und Jugendliche, Weihnachtsfeiern, Sportvereine, die ihren Nachwuchs an den Schulen rekrutieren, eine große ultrarechte Musikszene - in den letzten Jahren ist in Ungarn eine rechtsextreme Parallelgesellschaft mit eigener Kultur entstanden, die breite Bevölkerungsschichten jeder Altersklasse und jeden Bildungsniveaus anspricht, indoktriniert und auf ein gemeinsames Feindbild einschwört.
Es gibt in Ungarn derzeit keine gesellschaftliche Instanz, die glaubwürdig eine "Entjobbifizierung" in Angriff nehmen könnte, Orbán am allerwenigsten. Denn eine inhaltliche Auseinandersetzung mit rechtsextremistischem Gedankengut - eine Begriffsklärung von Rassismus, Antisemitismus und Homophobie, und eine Abgrenzung davon - ist von ihm nicht zu erwarten, und solange die nicht stattfindet, ist alles Vorgehen gegen Jobbik Augenwischerei.
Die Ultrarechten könnten noch weiter zulegen
Wenn es in den nächsten vier Jahren für die Bevölkerung nicht zu spürbaren Verbesserungen kommt und es bis dahin keine wählbare Alternative gibt, werden die Ultrarechten weiter zulegen. Aber vier Jahre sind lang, und bis dahin werden sich auch diejenigen politisch neu formiert haben, die sich nicht völkisch-national definieren. Die neue grüne Partei LMP, erstmals mit 7,4% der Wählerstimmen und 16 Abgeordneten im Parlament vertreten, ist ein erster Hoffnungsschimmer.
Eine Woche vor dem zweiten Wahlgang fand in Budapest zum 18. Mal der "Marsch des Lebens", eine Gedenkveranstaltung an die Opfer des Holocaust statt. Während die antifaschistischen Demonstrationen der letzten Jahre nie mehr als 500 Leute mobilisieren konnten, kamen zum "Marsch des Lebens" über 20.000, so viele wie noch nie, und nicht etwa nur linksliberale Politiker, sondern auch Vertreter von Fidesz. Optimistische Stimmen meinen, Jobbik könnte der nötige Katalysator sein, um in der Fidesz-Basis einen Prozess der inhaltlichen Klärung von unten anzuregen. So könnte die Partei sich langfristig von innen heraus zu einer wirklich gemäßigten konservativen Partei entwickeln. Man darf gespannt sein.
Pusztaranger, 10. Mai 2010
Blogger Pusztaranger beobachtet seit 2009 die ungarischen Ultrarechten, www.pusztaranger.wordpress.com. Der Name des Autors ist der Redaktion bekannt.