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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 551 / 18.6.2010

Viel Show um nichts

Die Talkshow als Moment von Antiaufklärung

Während sich der deutsche Biedermann über den Zwischenruf im Parlament empört, findet der Großteil gesellschaftlich relevanter Debatten in einem Format statt, dass sich nicht gerade durch Tiefgang auszeichnet: der Talkshow. Über diese sehr beliebten, ständig um die beste Sendezeit kämpfenden Laberminuten werden die zentralen gesellschaftlichen Konflikte vermittelt und ausgetragen. Über das Format Talkshow als politisches Medium und dessen Genese in Deutschland sprach ak mit dem Medienwissenschaftler Dietrich Leder.

ak: Welche gesellschaftliche Funktion haben Talkshows? Sind sie Teil bürgerlicher Öffentlichkeit?

Dietrich Leder: Ein Grundmissverständnis besteht zunächst darin, dass der zweite Teil des Anglizismus ignoriert wird: Show! Die Talkshow ist immer auch ein Unterhaltungsformat gewesen. Diejenigen, die der Unterhaltung im Fernsehen folgen, sollen sich auch unterhalten fühlen. Deshalb geht die Kritik, die Talkshow weise eine mangelnde Substanz auf, an der Sache vorbei.

Ein populäres Beispiel ist das "Literarische Quartett", das einst Marcel Reich-Ranicki dem ZDF beschert hatte. Diese Talkshow hatte mitunter mit Literatur zu tun, denn ihr Ausgangspunkt waren ja literarische Texte. Entscheidend war aber die Form, in der darüber gesprochen wurde - also im schnellen Wechselgespräch, mit Pointen, voller Emotionen. Genau das machte sie unterhaltend. Bedeutendes über die Texte erfuhr man selten.

Dasselbe gilt natürlich erst recht für die politischen Talkshows. Aber ehe wir zu ihnen kommen, die ja unsere Fernsehgegenwart bestimmen, bedarf es einer Reminiszenz. Anfang der 1960er Jahre musste das deutsche Fernsehen - wie die ganze Republik - zunächst lernen, einen politischen Diskurs in Form eines Gesprächs zwischen zwei oder drei Personen zu führen. Also eben kein Interview, in dem ein Politiker sich herablässt, etwas zu erläutern, sondern eine Erörterung von Sachverhalten, Positionen, Haltungen.

Beispielhaft dafür sind die visuell sehr pietistisch und minimalistisch angelegten Gespräche von Günter Gaus. (1) Er nahm die Person und die Sache, für die sie stand, vollkommen ernst. Es gab keine Show-Elemente, Gaus verzichtete in seiner Uneitelkeit sogar darauf, selbst im Bild zu erscheinen, und avancierte so zum berühmtesten Hinterkopf der Nation.

Gaus war aber noch meilenweit von dem entfernt, mit dem wir es heute zu tun haben ...

1973 kam dann mit "Je später der Abend" (WDR/ARD) die Talkshow über die Deutschen als erklärte Übernahme aus dem US-Fernsehen. Hier spielte Politik nur im Ausnahmefall eine Rolle. Beispielsweise als Leni Riefenstahl (2) von Hansjürgen Rosenbauer, der nach Dietmar Schönherr der zweite Moderator dieser Talkshow war, nach ihrer Nazi-Vergangenheit befragt wurde. Ansonsten ging es zunächst nur darum, dass mehrere Leute miteinander ins Gespräch kamen - über allgemeine Themen, Tagesaktuelles oder Biografisches. Die Gespräche selbst sollten nur einen mittleren Grad an Intensität besitzen, also eher Parlando denn Streit oder Erregung, weshalb wir uns an die wenigen Szenen, in denen es anders kam, so gut erinnern.

Interessanterweise hat die Talkshow dann in den letzten 30 Jahren systematisch das politische Feld erobert und das politische Gespräch, wie es Gaus geführt hatte verdrängt. Zunächst durch eine Sendung wie "Talk im Turm" (Sat1) ab 1993 mit dem einige Jahre zuvor abgelösten Spiegel-Chef Erich Böhme. Hier saßen vier oder fünf Gäste zu einem bestimmten politischen Thema zusammen, wobei der Begriff Politik weit gefasst war. Die Redaktion legt mehr Wert auf die Konfrontation als auf die sachliche Erörterung, so dass es regelmäßig zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen Opposition und Regierung, Arbeitgeber- und Gewerkschaftsfunktionären kam.

Dieser Sendung des Privatfernsehens machte ab 1998 Sabine Christiansen mit der nach ihr benannten Talkshow in der ARD Konkurrenz. Die Sendung der ehemaligen "Tagesthemen"-Moderatorin kopierte die Methode von Böhme, brachte aber einen anderen Tonfall in die Unterhaltung. Während Böhme als politischer Journalist fragte, äußerte sich Christiansen gerne als gesunder Menschenverstand.

Das markierte einen Paradigmawechsel, weil damit die ohnehin banale Alltagspolitik der einstigen Bonner Republik mit ihren Sachzwangarien selbst noch einmal simplifiziert wurde. Die Politik hat sich dem liebend gern angepasst. Heute stellt sich kaum ein Politiker noch einem längeren Interview (vom politischen Gespräch ganz zu schweigen), sondern geht lieber zu Reinhold Beckmann, dem plüschigen Analytiker der Politikwelt, in denen sich Politiker menschelnd erklären. Eine politische Debatte findet dort aber nicht statt.

Die Talkshow ist also anti-aufklärerisch?

Ja, vor allem deshalb, weil die Aufklärung darüber, was in ihr selbst passiert, nicht geschehen darf. Zu Aufklärung gehört wesentlich, dass sie auch über sich selbst und ihre Bedingungen aufklärt. Das findet in diesen Sendungen nicht statt, weil die Mechanismen der Show alles andere dominieren. Ihnen fehlt somit die Reflexion des historischen und ökonomischen Zusammenhangs - vielleicht auch so etwas wie politische Theorie. Diese Dimension ist völlig abwesend - auch im Bewusstsein der Fragenden und Antwortenden.

Deshalb kann man in der Talkshow auch mit rhetorischen Verkürzungen beispielsweise der Steuererklärung auf dem Bierdeckel oder Ressentiments gegenüber Arbeitslosen punkten. In einem diskursiven Gespräch funktioniert so etwas nicht. Gaus hätte nachfragt, was damit konkret gemeint ist, wie man sich das konkret vorzustellen habe und was das gesellschaftlich bedeutet.

Das ist das fatale am Massenphänomen Talkshow, dem nahezu einzigen Medium des Politischen: Es wird personalisiert, es wird reduziert, auf die Schlagzeile gesetzt. Eine Reflexion darüber hinaus findet nicht statt.

Gilt das so allgemein?

Natürlich gibt es Brüche. So hat der marxistisch geschulte Schauspieler Rolf Becker einmal den ehemaligen Deutsche-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn bei Anne Will, die ja Sabine Christiansen ersetzte, ziemlich in die Enge getrieben. Bei der Diskussion um die Bezahlung von Lokführern brachte er mit einigen Zahlen zu den Personalkosten plötzlich eine Härte und Klarheit in das Gespräch, die nichts mit der üblichen Rhetorik dieser Runden zu tun hatte. Rolf Becker blieb ruhig. Er plusterte sich nicht auf, wie das oft Oppositionspolitiker tun, noch bediente er sich der mimischen Mittel des Augenbrauenhochziehens oder des abschätzigen Lächelns. Becker rechnete ganz gefasst und lächelnd Mehdorn vor, dass die Gehälter der Manager gegenüber den Lokführern überproportional stark gestiegen waren. Solche aufklärenden Situationen sind durchaus möglich, aber selten. Zugespitzt gesagt, ist die gewöhnliche Talkshow deshalb anti-aufklärerisch, weil sie sich aufklärerisch gibt.

Das Beispiel ist besonders schön, weil einem Schauspieler die Aufgabe zukommt, das Spiel zu durchkreuzen ...

Ja, ein Schauspieler weiß über Rollenspiel mehr als jeder andere. Wenn man in einer solchen Sendung sitzt, muss man wissen, dass man Teil einer Fernsehinszenierung ist. Man geht zunächst in die Maske und - um im Bild zu bleiben - man wird für die Talkshow maskiert. Man wird zu einer Figur, die medial agiert. Wenn man unvorteilhaft posiert oder eine unangenehme Stimme hat, dann hat man in diesem Format ein Problem. Ganz unabhängig von der Sache oder der Argumentation, der man sich bedient. Man ist Teil eines medialen Spiels, eines bestimmten Formates. Und hier stellt sich die Frage: Wie weit geht diese Anpassung? Man ist schnell Teil von etwas, das man eigentlich nicht will ...

Was unterscheidet die Talkshow von einer parlamentarischen Debatte? Auch hier herrscht eine schauspielerische Repräsentation vor.

Harald Keller hat in seinem Buch über die Talkshow in Deutschland gezeigt, dass sie in den USA neben dem Entertainment noch eine weitere Wurzel hat, nämlich die sogenannten Town Hall Meetings. (3) Diese kleinen Treffen in Gemeinden kennt man vielleicht aus US-Fernsehserien, die im ländlichen Raum spielen. In diesen Versammlungen wird z.B. über die Bebauung einer Grünfläche oder die Errichtung einer Ampelanlage diskutiert. In den Town Hall Meetings geht es um die Reflexion der alltäglichen Politik. Sie stellen im Prinzip eine Übernahme des antiken Modells der Stimmbürger dar, die sich in Athen auf der Agora, dem Versammlungsplatz treffen, um über die Politik zu reflektieren.

Natürlich waren das eingeschränkte Öffentlichkeiten, lange wurden die Sklaven, die Frauen und auch Schwarze ausgeschlossen, aber diese Reflexion des Politischen im Kleinen - vielleicht auch des Kleinkarierten - ist etwas, das in den USA existiert. In Deutschland gibt es so etwas nicht. Wir haben hier das Parlament, das stellvertretend für die Gesellschaft steht. Hier herrscht nur ein Austausch von Reden, eine Diskussion findet nicht statt. Es werden Reden gegeneinander gesetzt. Es gibt gute und bessere Redner, die das, was sie vertreten, darzustellen vermögen. Es gilt ja schon fast als ungewöhnlich, wenn im Medium des Zwischenrufes diskursive Momente Platz greifen.

Das war allerdings nicht immer so. Die Debattenredner der 1950er und 1960er Jahre hatten noch ihre Erfahrungen in der Weimarer Republik gemacht, in kleineren Öffentlichkeiten und kleineren Sälen. Deren Stimme oder Stimmlage war daran gewohnt, ein lautes Publikum zu übertönen. Heutige Politiker, die medial sozialisiert sind, wissen, dass sie mit einem Mikrofon jeden überstimmen können. Auch das hat dazu beigetragen, dass das Statement die klassische Rede ersetzt hat. Im Parlament gibt es nur Statements, die mal fünf, mal zehn Minuten ausfallen, die im Fernsehen dann aber nur noch 30 Sekunden lang sein dürfen. Daran haben sich alle gewöhnt. Das bedeutet nicht nur eine Reduzierung von Komplexität. Die reduzierte Komplexität ist zudem verschlagwortet und eindimensional. Auch hier merken wir also den medialen Effekt.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Experten?

Die meisten Experten vertreten Partikularinteressen, formulieren sie aber als Allgemeininteressen. So war die Institution "Sabine Christiansen" der Bannerträger des Neoliberalismus. Die Armada der Unternehmer, die dort eben nicht als Sachwalter ihrer Unternehmen oder eines Unternehmensverbandes auftrat, sondern als Sachverständige par excellence, um über den Kapitalismus oder den Staat zu reden, bekam dort den roten Teppich ausgerollt. Christiansen bereitete ihnen die Bühne, um die Republik auf den Neoliberalismus einzuschwören.

Welche Blüte das Expertenwesen treiben kann, konnte man in den letzten Jahren erleben, als Schauspieler, die historische Figuren gespielt hatten, als Sachverständige dieser Figuren und ihrer Politik auftraten. Das wäre so, als würde man den Darsteller eines Kochs zur Diskussion über die Zubereitung von Speisen befragen - absurd.

Die Form Talkshow führt aber auch dazu, dass sich Politiker und Experten in der Art ihres Auftritts annähern.

Ja, Statements von Experten sind ähnlich wie bei Politikern verschlagwortet. Sie werden im Fernsehen als Experte nur dann akzeptiert, wenn es ihnen gelingt, auch einen noch so komplexen Sachverhalt in nur 30 Sekunden zu artikulieren. Hinzukommt, dass sie als Experten lediglich eine bestimmte Position oder die Sichtweise des fragenden Journalisten bestätigen sollen. Das ist nichts anderes als eine simulierte Bestätigung von außen. Aufklärung über einen Sachverhalt sieht anders aus.

In den letzten zwei Jahren wurde z.B. Sahra Wagenknecht vermehrt ins Fernsehen eingeladen, obwohl sie nicht in den Talkshowbetrieb passt, weil sie polarisiert. Welche Rolle spielt so jemand wie Wagenknecht als störendes Moment im System Talkshow?

Die Irritationen kommen einerseits von einer unklaren politischen Einordnung, anderseits durch die Störung scheinbarer Normalität, der impliziten Kritik der als Allgemeinwohl kaschierten Partikularinteressen. Unternehmer treten als Experten und im Namen des Allgemeinwohls auf. Hier fragt niemand, in welchem Namen und in welchem Interesse sie sprechen. Das macht man aber bei Sahra Wagenknecht. Bei ihr wird dauernd darauf hingewiesen, aus welcher Position sie spricht. Ständig steht die Frage im Raum, inwieweit sie sich von der Geschichte des Kommunismus oder der Geschichte der DDR distanziert. Eine ähnliche Frage wurde an Unternehmer nie gerichtet. Und das, obwohl bei Einigen sicherlich spannende Antworten zu hören wären, wenn man in die Generation der Väter oder der Großväter zurückginge. Stichwort Nationalsozialismus. Nein, die Herren Unternehmer sind als Experten gefragt, während jemandem wie Wagenknecht eben immer nur als DDR-Verteidigerin wahrgenommen wird.

Diese Irritation, die in einer Unsicherheit der politischen Einordnungen liegt, gibt es immer wieder. Das kann auch diesen lebenden Möbeln der Talkshow wie Heiner Geißler und Norbert Blüm passieren. Neulich wurde Norbert Blüm von Arnulf Baring in einer Art angefeindet, die jeglicher bürgerlichen Norm hohnsprach. Der durchgeknallte Zeithistoriker Baring, der politisch ja nun am rechten Rand angekommen ist, wahrte weder die Fasson, noch hielt er die Regeln der Höflichkeit ein.

Gegenüber "Sabine Christiansen" kommt die Nachfolgesendung "Anne Will" etwas anders daher. Hat sich in den letzten Jahren das Format der Talkshow verändert?

"Sabine Christiansen" hatte sich als Dauerwerbesendung für den Neoliberalismus eine Sonderrolle überlebt. Von diesem Modell hat sich Anne Will distanziert - auch strukturell. Sie führte diese Sitzbank für Betroffene ein, die bei Christiansen nie zu Wort gekommen sind. Aber auch bei Will bleiben das Sondergäste, die sich am Gespräch selbst nicht beteiligen dürfen. Welche Distanzierung darin liegt, merkt man, wenn man sich vorstellt, jemand wie der Ex-Siemens-Manager Heinrich von Pierer, einst Stammgast der Talkshows, müsse sich als Betroffener auf diese Bank setzen. Und die Moderatorin käme zu ihm, um ihn zu fragen, wie es in seinem Unternehmen zuginge. Das dürfte er sagen, dann müsste er schweigen. Unvorstellbar. Dass Anne Will diese Sitzbank jedoch eingerichtet hat, ist ein Beleg dafür, dass sich der Neoliberalismus als so unsinnig und gewaltförmig herausgestellt hat, wie es viele Kritiker vorhergesagt haben - und das Fernsehen darauf reagiert.

Das spiegelt sich auch darin, wer eingeladen wird?

Natürlich. Neue Diskussionspartner tauchen auf, andere verschwinden - wie in der Mode. Das Fernsehen reagiert durchaus auf das, was gesamtgesellschaftlich diskutiert wird. Aber Talkshows können auch umgekehrt wie ein Katalysator für Partikularinteressen wirken und deren Durchsetzungsvermögen extrem erhöhen. Eine von Millionen gesehene Talkshow wirkt wie ein Bewusstseinsbeschleuniger für Themen.

Die Frage ist, warum eine diskursive Form im Fernsehen kaum durchsetzbar ist. Das Gegenmodell "Hart aber fair" ist nur eine Wettkampfform der US-Talkshow, in der die Gäste von einem Lehrer abgefragt werden, der anschließend Noten verteilt. Das zeigt, dass auch diese Sendung keine Rückwendung zum Diskursiven darstellt, da man dem Publikum scheinbar nicht zumuten mag, länger als vier Minuten einer Argumentation zu folgen.

Das ist zunächst festzuhalten. Die Tendenzen enormer Bewusstseinsverstärkung finden sich jedoch auch außerhalb der Talkshow. Wir sind Teil der Beschleunigung der Gesellschaft, der Artikulation von schnellen Meinungen, von Expertensprüchen, von knappen Sätzen und kürzeren Artikeln. Es ist also nicht möglich, einfach über "den" Gegner zu sprechen und zu schimpfen, sondern wir müssen uns eingestehen, inzwischen mitunter von demselben Furor getrieben zu sein.

Wie schlägt sich in ihrer Wahrnehmung die aktuelle Krise in den Sendungen wieder?

Fernsehen und Talkshows waren und sind treibende Kräfte und Resonanzboden zugleich. Damit sind sie in einer gewissen Weise auch Mitverursacher, zumindest haben sie die ideologischen Formen gesetzt und forciert, die die Krise und vor allem die politische Verarbeitung mitgetragen haben. Zu "Sabine Christiansen" habe ich mich ja bereits geäußert. Ähnliches ließe sich beim Spiegel oder bei der Bild-Zeitung zeigen. Vor allem Bild ist ein zweiter großer Verstärker politischer Projekte, auch deshalb, weil sie sich häufig auf das Fernsehen bezieht.

Aber lassen sie mich bezogen auf die Krise zwei, drei Aspekte in Erinnerung rufen. Da ist dieser Hans-Werner Sinn, der Ökonom mit diesem merkwürdigen Klabauterbart. Das war eine Figur, die permanent im Fernsehen auftauchte, den Kapitalismus erklärte sowie Modernisierung und Flexibilisierung predigte. Sinn hatte im Oktober 2008 in einem Interview gesagt, dass das Ressentiment in Deutschland ab 1929 die Juden traf und in der gegenwärtigen Krise seien die Manager dran. Mit diesem Satz, der in keine Richtungen stimmt, hat er sich für ein halbes Jahr aus allen Sendungen herausgeschossen. Herr Sinn tauchte plötzlich nicht mehr auf.

So wie Sinn verschwanden auf einmal viele neoliberalen Propagandisten von der Bildfläche. Stattdessen tauchte der ehemalige taz-Redakteur und jetzige Chef von FinanzTest Hermann-Josef Tenhagen auf. Er ersetzte für eine gewisse Zeit mit einer eher skeptischen Haltung alle anderen Fachleute. Inzwischen wandert er wieder in die zweite Reihe und solche Leute wie Sinn erscheinen wieder. Das ist wie in der Mode: Haben sich die Zuschauer an einem sattgesehen oder akzeptieren jemanden aufgrund von Fehlerklärungen nicht mehr, verschwindet diese Figur und es kommt jemand anderes, an den man sich auch schnell gewöhnt und schwups, kommt wieder ein anderer. Das ist im Grunde - deshalb ist die Analogie zur Mode so passend - das spezifisch Angepasste dieses Betriebs und hat nicht so sehr etwas mit den primären Aussagen der Betreffenden zu tun. Klar ist aber, dass in einer Talkshow das Ressentiment eigentlich immer schon latent vorhanden ist.

Warum?

Es ist im Spiel von Rede und Gegenrede angelegt, ein Spiel mit der Zuspitzung, Pointe und vor allem Emotion. Und im Moment der Emotionalisierung fallen auch die zivilisatorischen Fesseln. Man spitzt nicht nur zu, sondern man spitzt zu, um zuzustechen. Und in derartigen Krisensituationen, wenn die zivilisatorischen Fesseln gefallen sind, macht man eben auch Urheber dingfest. Das zeigte sich im Fall Griechenland. Ehe man überhaupt nur den Gedanken laut aussprechen konnte, dass das griechische Handels- und Haushaltsdefizit etwas damit zu tun hat, dass Griechenland unendliche Mengen Rüstungsgüter aus der Bundesrepublik importiert, Deutschland ökonomisch dominant ist, existiert bereits das Ressentiment in der Runde. Mit dem Ressentiment vom südlichen Europäer, der mittags immer nur schläft, während der Deutsche wacker durcharbeitet, hat man einen scheinbaren Verursacher der Krise gefunden, auch wenn wir wissen, dass er anderswo zu finden ist. So ist beispielsweise die Rolle der Rating-Agenturen medial bis heute nicht aufgearbeitet. Eine Ursache dafür ist, dass dieses Thema zu abstrakt ist - ein Grundproblem des Fernsehens.

Das mahnte schon Brecht an. "Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute." Er begründete das damit, dass die eigentliche Realität in "die Funktionale gerutscht" sei. Und diese Abstraktion hat in hohem Maße zugenommen. Sie ist sprachlich kaum nachzuvollziehen, wenn man beispielsweise über die Geldströme und die Geldmengen redet, die derzeitig in der Welt im Umlauf sind und die in hohem Maße diese Spekulationsblasen antreiben, inklusive des Glückspielmomentes der Wette, die ja schon bei der Aktienbörse von Anfang an mit angelegt ist.

Zum Schluss noch die Frage nach der Möglichkeit von Einspruch und Protest: Hat man als radikale Opposition bereits verloren, wenn man das Terrain Talkshow betritt?

Ich würde das nicht so kategorisch sehen. Das zeigt das Beispiel mit Rolf Becker. Man sollte sich aber über die Gefahr, dass man Teil des Spiels wird, im Klaren sein. Auch dass der Bann, der über einem ausgesprochen wird, wenn man die Regeln verletzt, massiv ist. Auch wenn wir als Zuschauer den Regelverstoß goutieren, sind die Fernsehleute an einem reibungslosen Ablauf meist mehr interessiert als an dem Thrill des besonderen Momentes. Übrigens zeigt sich hier, wie bedeutend das Show-Moment ist: Es ist die Ursache des Regelverstoßes.

Das war auch so, als Fritz Teufel den Sozialdemokraten Hans Matthöfer in der Talkshow "3 nach 9" Anfang der 1980er Jahre in einer Diskussion über gutes Benehmen mit einer Wasserpistole nass spritzte und dieser sich mit einem Glas Wein bei Teufel revanchierte. Oder auch bei der Sendung "ZAK" des WDR, als dort 1989 der damalige Bildungsminister Jürgen Möllemann zu Gast war und fluchtartig das Studio verließ, als ihm angedroht wurde, dass er gleich kritisch zu seiner Biografie befragt werden würde. Angekündigt war der Journalist Reimar Oltmanns, der ein Buch mit dem Titel "Die Möllemänner - oder die opportunistischen Liberalen" geschrieben hatte.

Diese Brüche und Regelverstöße zeigen deutlich, dass es diese Regeln gibt. Sie sind der Talkshow immanent, sie sind implizit und keine dem Format Äußerliches. Diesen Moment bemerkt man bereits, wenn jemand darauf besteht, einen Gedanken zu Ende zu sprechen und das nicht rhetorisch meint. Sofort gibt es eine ganz spezifische Unruhe.

Für eine oppositionelle Perspektive bedeutet das, dass man wissen muss, auf was man sich einlässt. Man muss genau erkennen, wo die Formatierung, die Regel anfängt, einen selbst zu deformieren. Daran anschließen muss die Frage, wie man sich dazu verhält und wie weit man sich deformieren lassen will.

Wichtiger scheint mir die grundsätzliche Frage: was ist mit dem Fernsehen als aufklärerisches Medium? Das öffentlich-rechtliche Projekt, das es seit Gründung der Bundesrepublik gibt, hat eigentlich auf die Aufklärung gesetzt, ist ihm aber gerade auf dem Feld der Politik immer weniger gefolgt. Dass es heute eine Reflexion des Politischen nicht mehr gibt, wie es - auch wenn es ein überstrapaziertes Beispiel ist - eben Günter Grass getan hat, zeigt den Niedergang des eigenen Anspruchs. Was bleibt, ist die Gegenproduktion eines Alexander Kluge, der in seinen Produktionen und Sendungen andere Regeln etabliert. Seinen Zugang müsste man aufgreifen, um sich einmal darüber zu verständigen, ob und wie es möglich sein könnte, vielleicht doch eines Tages in einer Talkshow einen klugen Gedanken zu artikulieren.

Das liegt aber nicht allein an den Öffentlich-Rechtlichen. Wenn sich die Gesellschaft wieder politisiert, sich mehr Bewegung auf den Straßen artikuliert, dann entsteht ein politischer Druck und ein Bedürfnis nach Diskussion, die auch die Öffentlich-Rechtlichen verändern wird.

Ja, da haben Sie vollkommen recht. Diese Dynamik ist bei den außerparlamentarischen Medien zu beobachten. Wenn was los ist, artikulieren sich die Menschen in filmischen Pamphleten, in Dokumentationen, Streitschriften und Büchern. Ich dachte gerade eher an den Selbstanspruch des öffentlich-rechtlichen Projektes, das immer wieder in der Kritik steht und von den Steuern zahlenden Bürgern horrend alimentiert wird.

Tatsächlich haben es soziale Bewegungen immer geschafft, neue Medien oder neue Formen in den Medien zu etablierten. Die taz hätte es ohne den Deutschen Herbst 1977 nicht gegeben. Auch Verlage oder ak sind aus dem Zerfallsprodukt der 1968er hervorgegangen. Oder denken Sie an Buchverlage, die sich um das Thema Feminismus gebildet haben. Das Primäre ist jedoch der Unmut über die Verhältnisse, dass dieser Ärger politisch reflektiert wird und sich dann in Aktion umgesetzt - dann wachsen auch mediale Formen nach.

Heute könnte man zudem vieles schneller und leichter artikulieren, da es mit dem Internet ein Medium gibt, das in Wort, Bild und bewegtem Bild ja ungeahnte Möglichkeiten bietet. Aber wie gesagt: Zunächst bedarf es des primären Anlasses, des Ärgers und der Wut über gesellschaftliche Verhältnisse. Sie müssen sich artikulieren und über sich selbst aufklären. Diese Aufklärung kann, will und muss sich schließlich in den Medien kundtun.

Interview: Ingo Stützle

Anmerkungen:

1) Günter Gaus (1929-2004) war u.a. Chefredakteur des Spiegels und Mitherausgeber des Freitag ab 1990. 1973 wechselte er als Staatssekretär ins Bundeskanzleramt, um die Ständige Vertretung der BRD in der DDR zu übernehmen. Bekannt wurde er durch seine Sendereihe "Zur Person", die ab 1963 im ZDF ausgestrahlt wurde und unter dem Namen "Zu Protokoll" ab 1965 bis 1980 lief. Berühmt sind vor allem seine Gespräche mit Hannah Arendt und Rudi Dutschke. 1992 bis 2003 wurde "Zur Person" nochmals aufgenommen. In diesem Rahmen entstand 2001 das Interview mit dem RAF-Mitglied Christian Klar

2) Leni Riefenstahl (1902-2003) ist vor allem für ihre NS-Propagandafilme zum Reichsparteitag der NSDAP 1934 ("Triumph des Willens") und zu den Olympischen Spielen 1938 in Deutschland bekannt

3) Harald Keller: Die Geschichte der Talkshow in Deutschland. Frankfurt am Main 2009