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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 551 / 18.6.2010

Per Autopilot auf Kollisionskurs

Die "einzige Demokratie im Nahen Osten" zerstört sich selbst

Die Ereignisse im Zusammenhang mit der am 31. Mai von Israel in internationalen Gewässern gekaperten "Gaza-Flotille" haben die internationale Aufmerksamkeit auf das bis dahin weitgehend vergessene Elend der BewohnerInnen des Gazastreifens gelenkt. Der israelische Umgang mit dem Schiffskonvoi und das Beharren der Regierung Netanjahu auf der Rechtmäßigkeit und Alternativlosigkeit ihrer Embargo-Politik gegenüber Gaza haben weltweit Kopfschütteln ausgelöst. Die Isolation des Gazastreifens droht zu einem Bumerang für Israel zu werden und zu seiner eigenen Isolation zu führen.

Den InitiatorInnen des Schiffskonvois ging es um das Durchbrechen des Embargos, mit Hilfe dessen Israel den Gazastreifen seit Jahren ins Elend zwingt. Dies ist ihnen auch tatsächlich gelungen. Die ägyptische Regierung hat daraufhin beschlossen, den Grenzübergang Rafah zum Gazastreifen für den Warenverkehr permanent zu öffnen, nachdem Ägypten zuvor lange gemeinsame Sache mit der israelischen Regierung gegen die beiden feindlich gesonnene Hamas gemacht und sich an dem Embargo beteiligt hatte. Infolge der israelischen Militäraktion vor der Küste Gazas ist es für den ägyptischen Präsidenten Mubarak jedoch unmöglich geworden, diese Politik gegen die öffentliche Meinung in Ägypten und in der gesamten arabischen Welt fortzusetzen. Auch Israel sieht sich angesichts anhaltender internationaler Proteste gegen die Fortsetzung des Embargos gezwungen, mehr Waren als bisher durch den Grenzübergang Erez in den Gazastreifen zu lassen.

Doch bedeutet dies alles noch lange keine Aufhebung des Embargos, dessen katastrophale Folgen noch lange spürbar sein werden. Die 1,5 Millionen Menschen im größten Freiluftgefängnis der Welt leben weiterhin in einer von den Zerstörungen des israelischen Angriffs im Winter 2008/09 gezeichneten Umwelt. Dringende Reparaturen oder gar ein Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur sind infolge des Embargos unmöglich. Die Stromversorgung ist so schlecht, dass tägliche Stromausfälle von acht bis zwölf Stunden für die meisten Haushalte normal sind. Die Trinkwasseraufbereitungsanlagen sind so erodiert, dass mittlerweile etwa 90% des Leitungswassers für den Verzehr ungeeignet ist. Selbst das in Plastikflaschen verkaufte Mineralwasser ist nach UN-Angaben oft kontaminiert, da im Gazastreifen kein adäquates Recycling von Plastik möglich ist.

Es gibt heute praktisch keine industrielle Produktion mehr im Gazastreifen, dasselbe gilt für das Baugewerbe. Nach UN-Angaben ist die Nahrungsmittelversorgung von 60% der Haushalte im Gazastreifen ungesichert, chronische Unterernährung nimmt zu, was besonders für Kinder dramatische Folgen hat. Die Gesundheitsversorgung ist gänzlich unzureichend, viele Medikamente und medizinische Gerätschaften sind nicht mehr verfügbar. (1)

Das Embargo schwächt die Bevölkerung, nicht die Hamas

Darüber hinaus sind die psychologischen Folgen der jahrelangen Isolation und der permanenten Bedrohung durch das israelische Militär zu bedenken. Offiziell sollte das Embargo zu einer Schwächung der Hamas führen und letztlich die Bevölkerung zu einem Aufstand gegen sie veranlassen. Doch es hat lediglich zu einer Schwächung der Bevölkerung und einer relativen Stärkung der Hamas geführt, seinen offiziell genannten Zweck also komplett verfehlt. Israel wird für diese grausame kollektive Bestrafung einer weitgehend wehrlosen Zivilbevölkerung zu Recht verurteilt. Das Embargo muss umgehend aufgehoben werden.

Doch darüber hinaus muss auch die seit den 1990er Jahren perfektionierte israelische Politik des Teilens und Herrschens beendet werden, d.h. in diesem Fall die Politik der hermetischen Trennung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland, welche die heutige politische Fragmentierung der palästinensischen Gebiete in Fatah-Land und Hamastan vorweggenommen hat. Eine für PalästinenserInnen frei nutzbare Transitverbindung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland war bereits in den Oslo-Verträgen vereinbart worden; Israel hat diese ebenso wie viele andere Vereinbarungen jedoch nie umgesetzt. Stattdessen hat die israelische Militärverwaltung im Westjordanland vor kurzem entschieden, dass nicht offiziell dort gemeldete Personen als Illegale gelten und bei Festnahme durch das Militär hohe Geldstrafen bzw. Gefängnisstrafen und anschließende Abschiebung riskieren.

Eine solche Politik torpediert effektiv die Gründung eines palästinensischen Nationalstaates in Westbank, Gazastreifen und Ostjerusalem und entlarvt so das Gerede israelischer PolitikerInnen von einer angeblich angestrebten Zweistaatenlösung als propagandistische Nebelkerzen. Dieser entscheidende Aspekt von Israels Politik wurde von der internationalen Hilfskampagne Free Gaza bislang außer acht gelassen. Ihre berechtigte Forderung nach einer Aufhebung des Embargos greift zu kurz, solange dies nicht im Kontext der israelischen Strategie einer Verhinderung der Zweistaatenlösung thematisiert wird.

Doch immerhin: Die InitiatorInnen des Schiffskonvois haben es geschafft, dass die israelischen Spin Doctors zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten ihre Lesart der Ereignisse nicht mehr ohne Probleme in westlichen Öffentlichkeiten durchsetzen können. Durch ihre Politik der militärischen Stärke manövriert sie das Land zunehmend ins Abseits. Es scheint, als ob die politische Führung des Landes die Lehren aus der eigenen Vergangenheit vergessen habe. Dabei durchbrach die Jewish Agency in den späten 1940er Jahren die britische Seeblockade Palästinas gegenüber jüdischen Flüchtlingen mit ganz ähnlichen Mitteln, wie sie die Initiative Free Gaza heute anwendet, nämlich mit Hilfe einer effektiven PR-Kampagne und unterstützt durch dramatische Bilder, welche die globale Öffentlichkeit für ihre Anliegen gewinnen konnten. (2)

Israels gute Beziehungen zur Türkei sind erstmal zerstört

Infolge der gewaltsamen Kaperung des unter türkischer Flagge fahrenden Schiffes Mavi Marmara durch Spezialkommandos der israelischen Marine, die dabei neun türkische Staatsbürger im Handgemenge erschoss, haben sich die strategischen Rahmenbedingungen in der Region verändert. Israel befindet sich in einer isolierten Lage, sowohl in der Region als auch international. (3) Dies schwächt die israelische Position in der Auseinandersetzung mit Iran. Die guten Beziehungen zur Türkei waren über Jahrzehnte ein Fixpunkt der außenpolitischen Strategie Israels. Nun sind sie bis auf weiteres zerstört. Dabei mausert sich die Türkei gerade zu einer neo-osmanisch auftretenden Mittelmacht, die über gute Beziehungen zu allen Ländern der Region verfügt und sich auch gegenüber Europa und den USA als selbstbewusster Akteur präsentiert, wie am türkischen Nein zu erneuten Sanktionen gegen den Iran im UN-Sicherheitsrat jüngst abzulesen war.

Die Regierung Erdogan wird sich die Mavi-Marmara-Affäre von Israel bezahlen lassen, und Netanjahu wäre gut beraten, darauf einzugehen und sich um eine Aussöhnung mit der Türkei zu bemühen. Denn unter seiner Regierung entwickelt sich Israel zu einem Pariah der internationalen Politik, was für ein kleines Land, das keine Freunde unter seinen Nachbarn hat, gefährliche Auswirkungen haben kann.

Jenseits von PR-Charmeoffensiven bräuchte es dafür allerdings konkrete politische Veränderungen. Dazu aber scheint die gegenwärtige israelische Regierung weder willens noch in der Lage. Die Vorfälle im Zusammenhang mit dem Schiffskonvoi sind kein Einzelfall in den vergangenen Monaten und zeugen von einer bemerkenswerten israelischen Gleichgültigkeit, was den diplomatisch korrekten Umgang mit Verbündeten angeht. Für die Ermordung des Hamas-Waffenkäufers Mabhuh in Dubai etwa versorgte der Mossad seine Leute offenbar mit europäischen und australischen Pässen real existierender Personen. Um gegen israelkritische Äußerungen Erdogans zu protestieren, setzte das israelische Außenministerium den türkischen Botschafter in Tel Aviv willentlich und unter Missachtung jeder Etikette einer erniedrigenden Behandlung aus. Und ausgerechnet während des Besuchs von US-Vizepräsident Joe Biden in Jerusalem kündigte die israelische Regierung den Bau neuer jüdischer Siedlungen in Ost-Jerusalem an. (vgl. ak 550)

Diese außenpolitischen Fehltritte verweisen auf mindestens ebenso Besorgnis erregende innenpolitische Entwicklungen, nämlich auf eine zunehmende Erosion demokratischer Kultur, die auch vor jüdischen Israelis nicht Halt macht. In einer repräsentativen Umfrage der Universität Tel Aviv aus diesem Frühjahr gaben knapp 60% der Befragten an, dass Menschenrechtsorganisationen, die kriminelles Verhalten von Israelis an die Öffentlichkeit bringen, nicht das Recht haben sollten, frei im Land zu operieren. Über 80% der Befragten in dieser Studie befürworteten harte Strafen für "Whistleblower", die Fehlverhalten von Armeeangehörigen öffentlich machen, indem sie interne Informationen weitergeben. Einer der Initiatoren der Studie, der Erziehungswissenschaftler Daniel Bar Tal, äußerte sich dazu folgendermaßen: "Israelis haben eine verzerrte Wahrnehmung von Demokratie. Die Öffentlichkeit bejaht demokratische Werte, doch sobald es an deren praktische Umsetzung geht, stellt sich heraus, dass die meisten Leute geradezu anti-demokratisch eingestellt sind". (Ha'aretz, 29.4.10)

Anti-demokratische Einstellungen nehmen zu

In dieses Bild passt auch die Anfang Juni gefasste Entscheidung der Hebräischen Universität in Jerusalem, den südafrikanischen Richter Richard Goldstone aus dem Aufsichtsrat der Universität zu entlassen. Goldstone war durch den von ihm verfassten UN-Untersuchungsbericht zum Gazakrieg 2008/09 international bekannt geworden, in dem er der israelischen Armee und in geringerem Maße der Hamas Kriegsverbrechen vorwarf. Kurz zuvor hatte die israelische Armee Noam Chomsky mit Verweis auf dessen politische Ansichten die Einreise aus Jordanien ins Westjordanland verweigert, wo er an der palästinensischen Universität Birzeit einen Vortrag halten sollte.

Diese Entscheidung wurde zwar von der tapferen Tageszeitung Ha'aretz in einem Editorial (op-ed) entschieden verurteilt. (18.5.10) Doch aus israelischen Universitäten kam nicht der Hauch eines Protestes gegen diese Beschneidung akademischer Freiheit einer palästinensischen Universität. Palästinensische BürgerInnen Israels werden derweil von hohen RegierungsvertreterInnen als potenzielle VerräterInnen hingestellt; Innenminister Eli Yishai plädierte in einer denkwürdigen Sondersitzung der Knesset Anfang Juni gar dafür, der palästinensischen Abgeordneten Hanin Zuabi, die an dem Schiffskonvoi nach Gaza teilgenommen hatte, wegen Hochverrat die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Sollten derlei Ankündigungen jemals Realität werden, hätte die israelische Demokratie sich endgültig selbst abgeschafft.

Während also die politische Elite Israels per Autopilot in Richtung Abgrund zu steuern scheint, schaut die Obama-Administration zwar zunehmend entnervt auf den strategischen Brückenkopf der USA im Nahen Osten, der sich gerade zu einer Belastung für die US-Interessen in der Region entwickelt. Doch konkrete Maßnahmen zur Disziplinierung Israels sind von Obama zumindest bis zu den Kongress-Wahlen im September nicht zu erwarten.

Dabei könnte gerade in diesem Sommer ein Machtwort aus Washington entscheidend wichtig sein. Denn Krieg liegt in der Luft. Iran hat bereits angekündigt, einen eigenen Schiffskonvoi mit Hilfslieferungen nach Gaza zu entsenden. Wie zu beobachten war, reagiert die israelische Politik auf Provokationen nicht immer besonnen, zumal dann nicht, wenn sie sich in einer Bunkermentalität eingeigelt hat wie dieser Tage. Wer beschützt Israel vor sich selbst?

Achim Rohde

Anmerkungen:

1) Für Einzelheiten siehe http://mideast.foreignpolicy.com/posts/

2010/06/03/what_exactly_is_the_blockade_of_gaza

2) http://www.stratfor.com/weekly/

20100531_flotillas_and_wars_public_opinion

3) Die Autopsien der getöteten Aktivisten ergaben, dass sie fast ausschließlich aus nächster Nähe und von zahlreichen Schüssen getroffen wurden. Siehe http://www.guardian.co.uk/world/

2010/jun/04/gaza-flotilla-attack-autopsy-results