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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 552 / 20.8.2010

Aufgeblättert

Ökonomie anders denken

Der Soziologe Niklas Luhmann antwortete einst auf die Frage, was Soziologie ist: das, was SoziologInnen machen. Ähnliches hört man über die Wirtschaftswissenschaften, die im Zuge der Krise zwar in Verruf geraten sind, deren Expertise aber dennoch überall gefragt ist. Die Krise hat aber auch ein Bedürfnis hervorgerufen, die Ökonomie "anders" zu denken. John M. Keynes und Karl Marx waren hierbei die wohl am häufigsten zitierten Kritiker des Kapitalismus. Dass ökonomische Theorie durchaus heterodox, d.h. anderer Meinung sein kann, zeigt der Sammelband "Heterodoxe Ökonomie". Acht AutorInnen führen in kurzen Aufsätzen in postkeynesianische und marxsche Theorie ein, skizzieren die sogenannte Regulationstheorie, deren bekanntestes Kind wohl der Begriff "Fordismus" ist, sowie soziologische und medientheoretische Zugänge. Was fehlt, ist ein Aufsatz zu feministischer Ökonomiekritik. Ansonsten repräsentiert der Sammelband die relevantesten Stränge heterodoxer Ökonomie. Alle Beiträge grenzen sich von der Software des Neoliberalismus ab, der Neoklassik. Sie zeigen, dass gegen den Mainstream Zeit und Raum sowie (Macht-)Institutionen im Rahmen einer ökonomischen Theorie mitgedacht werden müssen. Sonst geht eine Theorie an dem vorbei, was Kapitalismus wesentlich ausmacht. Nicht alle Beiträge sind lesenswert. Während es Joachim Becker sehr gut gelingt, die Regulationstheorie in ihrer Pluralität und zentralen Fragen darzustellen, ist der Beitrag zur marxschen Theorie unzumutbar. Die Autoren suggerieren, die Debatte auf der Höhe der Zeit zu reproduzieren, nennen auch Michael Heinrich und Robert Kurz, sind aber nicht in der Lage, die interessanten Punkte herauszuarbeiten (monetäre Werttheorie, fiktives Kapital und Krise). Stattdessen breiten sie schwierige, wenn auch relevante Probleme aus, die in einem einführenden Aufsatz nichts zu suchen haben.

Ingo Stützle

Joachim Becker u.a.: Heterodoxe Ökonomie. Metropolis, Marburg 2009. 266 Seiten, 19,80 EUR

Überleben in Russland

Den Titel zum neuen Buch hat Kai Ehlers von einem Moskauer Taxifahrer. Auf die Frage, wie es denn so um die Dinge bestellt sei, antwortete dieser: "Na ja, Kartoffeln haben wir jedenfalls immer". Ehlers braucht nicht viele Zahlen, um zu zeigen, was Russlands neoliberale Wirtschaftspolitik in Verbindung mit der Finanzkrise für die Menschen konkret bedeutet: eine immer weiter auseinander gehende Schere zwischen Reichen und Armen, den Wegfall von angeblich "überflüssigen" Arbeitsplätzen, Lohnkürzungen, verspätete Lohnzahlungen, steigende Kosten für Strom, Gas, Wasser, etc. Wer sein ganzes Leben als Arzt, Lehrerin oder auch in handwerklichen Berufen gearbeitet hat, erhält in Moskau eine Rente zwischen 75 und 150 Euro. Bei einem Preisniveau wie in Deutschland leben RentnerInnen, die nicht von ihren Kindern unterstützt werden, am Existenzminimum. Im Moskauer Supermarkt "Aschan" kostet ein kleiner Kopf Salat umgerechnet einen Euro, ein Minikäse drei Euro. In der Provinz kostet ein Kilo Fleisch sieben Euro, ein paar Schuhe 100 Euro. Die Gesundheitsversorgung ist zwar nach wie vor kostenlos, so weit es um lebenserhaltende Erste Hilfe geht; Operationen, Zahnersatz, Prothesen und die Versorgung im Krankenhaus müssen dagegen aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Der nun schon 25 Jahre andauernde Transformationsprozess und die Finanzkrise haben die Menschen der sozialen Sicherheiten beraubt. Doch Russlands natürliche Ressourcen und die Fähigkeit der Bevölkerung zur Eigenversorgung könnten Russland in die Lage versetzen, weitgehend unabhängig von globaler Fremdversorgung zu existieren, so Ehlers.

Bernhard Clasen

Kai Ehlers: Kartoffeln haben wir immer. Überleben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha. Horlemann Verlag, Bad Honnef 2010. 254 Seiten, 14,90 EUR

Linke Basisprozesse in Lateinamerika

Der Hamburger Politikwissenschaftler Helge Buttkereit analysiert in seinem Buch "Utopische Realpolitik - Die Neue Linke in Lateinamerika" die Entwicklungen in Bolivien, Venezuela, Ecuador und die zapatistische Bewegung in Südmexiko. Dabei stellt er vor allem die Gemeinsamkeiten heraus und versucht, diese Entwicklungen auf die hiesigen Verhältnisse rückzukoppeln. Seine Auswahl begründet der Autor schlüssig: Er wolle einen "Schwerpunkt auf die Bewegungen legen, die konkret über das derzeit möglich erscheinende hinaus orientiert sind, die also eine mehrheitsfähige utopische Realpolitik betreiben." Anders als in Brasilien, Chile und Uruguay erkennt er in den von ihm behandelten Ländern grundlegende Transformationsprozesse. Als Beispiel nennt er die Einberufung von Verfassungsgebenden Versammlungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela, die bisher ausgeschlossene Bevölkerungsteile wie die Indigenen oder die BarriobewohnerInnen einbeziehen. Dabei setzt er sich im Fall Venezuela durchaus kritisch mit dem Chavez-Kult auseinander, ohne die eigenständige Organisierung an der Basis zu vernachlässigen. Anders als andere linke Lateinamerikaspezialisten sieht Buttkereit in der zapatistischen Bewegung keinen fundamentalen Gegensatz zu den Entwicklungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador. Im ersten Kapitel versucht er, über das Konzept der revolutionären Realpolitik einen Brückenschlag zwischen der Linken in Lateinamerika und den sozialen Bewegungen in Europa herzustellen. Allerdings bleibt sein Konzept einer Neuen Linken, das er von einer Realpolitik wie bei der Linkspartei abgrenzt, recht vage. Die Stärken des Buches liegen da, wo Buttkereit politische und soziale Prozesse in Lateinamerika mit Sympathie analysiert, ohne die kritischen Punkte auszublenden.

Peter Nowak

Helge Buttkereit: Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika. Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2010, 162 Seiten, 16,90 EUR

Arbeiterklasse und Klassenbewusstsein

Köln-Kalk, überregional bekannt geworden durch Tom Gerhardt ("Voll normaaal", "Hausmeister Krause"), ist mittlerweile auch zum Gegenstand politischer Wissenschaft geworden - als "Stadtteil, in dem die Arbeiterklasse zu Hause ist". So der allerdings mit Fragezeichen versehene Titel einer Untersuchung über "Klassenbewusstsein und Klassensolidarität in sozial-räumlichen Milieus" (Untertitel). Der Autor Günter Bell, Sprecher der Linkspartei in Köln, ist in Kalk aufgewachsen, das Buch ist seine Dissertation. An deren Anfang stand "das Staunen über die Menschen, die wirtschaftliche Entscheidungen scheinbar widerstandslos hinnehmen". In Interviews mit BewohnerInnen ist der Autor den Ursachen für die Passivität nachgegangen. Deutlich wird die Bedeutung räumlicher Faktoren für Klassenmilieus und Klassenbewusstsein. Anders als früher spielen betriebliche Kämpfe dabei kaum noch eine Rolle. Dennoch gibt es Erinnerungen an diese und andere Kämpfe, so dass "die neuen Klassenbildungsprozesse nicht auf einem leeren Feld stattfinden", wie der Autor resümiert. Die Existenz von Klassen wird von allen seinen GesprächspartnerInnen vorausgesetzt. Dem empirischen Teil vorangestellt sind theoretische Bezüge u.a. auf die Klassenbegriffe von Marx und Edward P. Thompson und auf Untersuchungen zu Geschlecht und Ethnie als "Zuweisungsmerkmale in der Klassenstruktur". Günter Bell hat eine zwar nicht repräsentative, aber doch exemplarische und gut zu lesende Einzelfallstudie vorgelegt, die - wie der Verlag (und mit ihm der Rezensent) hofft - "zu vergleichenden Analysen in anderen Großstädten" anregt.

Js.

Günter Bell: "Ein Stadtteil, in dem die Arbeiterklasse zu Hause ist"? Klassenbewusstsein und Klassensolidarität in sozial-räumlichen Milieus. VSA-Verlag, Hamburg 2009. 206 Seiten, 16,80 EUR