Eine Stadt versteht nur noch Bahnhof
Gegen das Projekt Stuttgart21 regt sich breiter Widerstand
In Stuttgart wehrt sich die Bevölkerung seit Jahren vehement gegen das Projekt Stuttgart21: Im größten Verkehrsprojekt Deutschlands sollen offiziell 4,1 Mrd. Euro verbaut werden, um den Kopfbahnhof samt kilometerlanger Zu- und Abfahrtsgleise unter die Erde zu legen. Aber warum denn eigentlich? Und wer demonstriert da eigentlich?
Stuttgart steht derzeit Kopf. Kaum einer in der Stadt, der nicht über Stuttgart21 redet. Seit Ende vergangenen Jahres versammeln sich jeden Montag tausende DemonstrantInnen vor dem Nordflügel des Hauptbahnhofes. In den letzten Jahren gab zahlreiche Demonstrationen, Menschenketten wurden um den Bahnhof gebildet, die Stadt mit Anti-Stuttgart21-Klebern überzogen. Das Logo ihres eigenen Konzeptes, "Kopfbahnhof 21", sieht man als Button an Hemdkragen oder Kapuzenpullis überall in der Stadt. Im Juli besetzten AktivistInnen den Nordflügel, um gegen seinen Abriss zu demonstrieren. Die Polizei räumte noch am selben Abend. Dieser Nordflügel ist zum Symbol des Protests geworden - hier wird zum ersten Mal augenscheinlich, was Stuttgart21, kurz S21, für die Stadt bedeutet.
Mit dem Rückbau zeigt die Bahn unmissverständlich, dass sie wider aller Bedenken und Proteste das Projekt durchziehen will: In offiziell geschätzten zehn Jahren Bauzeit soll die baden-württembergische Landeshauptstadt komplett umgestaltet werden. In 66 Kilometer langen Tunnelröhren soll die Bahn unter die Erde gelegt werden, vor den Toren der Stadt hinab bis in den Talkessel, auf der anderen Seite wieder hinauf bis auf die Schwäbische Alb. Die alten Gleise die in einer zum Teil dreistöckigen Konstruktion oberirdisch in den Talkessel der Innenstadt führen und in einem Kopfbahnhof enden, sollen ebenso verschwinden wie die Seitenflügel des alten Bahnhofes. Nur die Haupthalle des alten, denkmalgeschützten Baus soll in den neuen Bahnhof integriert werden.
Das Aktionsbündnis macht mobil
Heute wehrt sich ein breites Bündnis gegen das Projekt. Spätesten seit November 2007 sehen viele BürgerInnen auch demokratische Prinzipien mit Füßen getreten: Wochenlangen wurden in der Stadt Unterschriften für ein Bürgerbegehren gesammelt, 67.000 kamen zusammen. Der Gemeinderat lehnte den Antrag ab, über bestehende Verträge könne man nicht abstimmen, hieß es.
Zum organisatorischen Kern des Widerstandes gehören seit Jahren der BUND, die Grünen, die Initiative Leben in Stuttgart und das parteifreie Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial. Jüngst mischen auch radikalere Gruppierungen in den Protesten mit. Zu ihnen gehören seit Februar 2010 die Parkschützer. Sie sind über den Koordinierungskreis des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart21 in den Widerstand eingebunden. Der Austausch mit anderen gesellschaftlichen Gruppen reicht "von einer engen Zusammenarbeit mit Teilen der Bewegungsstiftung, die auch maßgeblich bei den G8-Protesten mitgewirkt hat, über gewerkschaftliche Gruppen, Parteien, Kirchen und Umweltgruppen bis hin zu Autonomen und radikaleren linken Gruppierungen", schreibt ein Sprecher. Alle Gruppen haben sich einem "Aktionskonsens" untergeordnet: "Bei unseren Aktionen des Zivilen Ungehorsams sind wir gewaltfrei und achten auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Unabhängig von Meinung und Funktion respektieren wir unser Gegenüber. Insbesondere ist die Polizei nicht unser Gegner. Bei polizeilichen Maßnahmen werden wir besonnen und ohne Gewalt handeln", heißt es darin.
Begann der Protest in einem eher bürgerlich geprägten Milieu, zieht der Protest heute immer mehr junge Menschen an. Es geht um konkrete Aktionen, die in Blockadetrainings und Bezugsgruppen vorbereitet werden. Die Parkschützer, zu denen sich bislang fast 19.000 Menschen bekannt haben, treffen dabei ein sehr emotionales Thema: Der Schlosspark, dessen belebtester Teil direkt neben dem Hauptbahnhof liegt, müsste durch S21 dem neuen Bahnhof weichen.
Um den Widerstand heute zu verstehen, ist ein Blick auf die lange Geschichte von Stuttgart21 nötig. Bereits 1988 gab es bei der Bahn erste Überlegungen für die Neuordnung des Stuttgart Bahnknotens. Die Landesregierung wollte auf jeden Fall eine Strecke über den Flughafen Stuttgart, alle anderen Alternativen wurden verworfen.
Bundesverkehrsminister war der Ludwigsburger Matthias Wissmann, der Chef der deutschen Staatseisenbahn der Stuttgarter Heinz Dürr. Dazu gesellen sich der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU). Zusammen mit dem damaligen Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel wurde 1994 eine fertige Vision vorgelegt - von der "Maultaschen-Connection", wie sie Spötter damals nannten. Die Finanzierung war unklar, politisch aber hatte sich die schwäbische Allianz bereits festgelegt. Fast zeitgleich begann der Widerstand.
Die Kosten stiegen von 4,9 Mrd. D-Mark im November 1995 auf 2,8 Mrd. im Jahr. Schließlich unterzeichneten Bund, Land und Bahn im April 2009 eine Finanzierungsvereinbarung über 3,076 Mrd. Euro. Bereits im Dezember 2009 stieg die Summe abermals auf 4,088 Mrd. Euro. Über die Jahre stand das Projekt wegen unklarer Finanzierung mehrere Male vor dem Aus.
Das Alternativkonzept K21 wird immer konkreter
Immer wieder waren es persönliche Interventionen und Hinterzimmer-Gespräche, die das Projekt erneut in Gang brachten. So z.B. als 2007 Günther Oettinger dringend einen politischen Erfolg brauchte - er hatte den Nazi-Richter und ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsident Hans Filbinger bei dessen Beerdigung als "Gegner des NS-Regimes " bezeichnet hatte. Er schaffte es, Bahnchef Mehdorn und dem Bund ein "Memorandum of Understanding" über die Finanzierung abzuringen. Oder aber als die Stadt Stuttgart 2001 der Bahn die durch Verlegung der Bahngleise frei werdenden Flächen abkaufte: 459 Mio. Euro überwies die Stadt, ab 2010 sollte das Land nutzbar sein. Der Zeitpunkt verzögert sich um mindestens zehn Jahre, auf die eigentlich entstehenden Zinsen verzichtet die Stadt jedoch, um die Finanzierung von S21 zu sichern.
Zugleich wird das Konzept "Kopfbahnhof 21" (K21) immer konkreter. Kernstück ist, den alten, denkmalgeschützten Bahnhof zu modernisieren, statt ihn teilweise abzureißen. Ein neues Gleisvorfeld würde die Bauzeiten verkürzen und vereinfachen. Mit K21 könnte ein "integraler Taktfahrplan" verwirklicht werden, schreiben die BefürworterInnen, indem die Fahrzeiten so abgestimmt werden, dass beim Umsteigen möglichst geringe Wartezeiten entstehen. Moderne Triebzüge wie der ICE machen den Nachteil eines Kopfbahnhofes wett, weil vor der Abfahrt keine Lokomotiven mehr umgekoppelt werden müssen. Das führt dazu, dass mit einer Modernisierung des Kopfbahnhofes die Fahrzeiten sogar kürzer wären, als mit Stuttgart21.
Dazu kommen die durch das Projekt frei werdenden Flächen, auf ihnen soll es komplett neue Stadtteile geben. Auch bei K21 würden 75 Prozent der bebaubaren Flächen von S21 neu entstehen. Nachteil ist, dass die Alternative zu S21 noch komplett genehmigt werden müsste, auch ein Planfeststellungsverfahren gab es noch nicht. Allerdings könnte mit der Renovierung der Gleise am Hauptbahnhof relativ schnell begonnen werden - derzeit wird im Rahmen von S21 bereits das Vorfeld der Gleise umgebaut. Dies könnte man für K21 nutzen, sagen die BefürworterInnen.
Sie haben angekündigt, so lange gegen Stuttgart21 kämpfen zu wollen, bis die ersten Tunnel gebohrt werden, was Mitte 2011 der Fall sein dürfte. Bis dahin hoffen sie, dass das Projekt von ganz oben gestoppt wird - indem der Bund aus der Finanzierung aussteigt. Knackpunkt ist die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm. Ohne die wäre Stuttgart21 ein ziemlich schlechter Witz, da die Gleise in Wendlingen auf der Schwäbischen Alb auf einem Acker enden würden. Erst kürzlich stiegen die Planungskosten dafür um fast 900 Mio. Euro auf fast 2,9 Mrd. Formal müsste der Bund dafür zahlen, aus dem Verkehrsministerium hört man derzeit nur, man stehe mit Bahn und Baden-Württemberg in Verhandlungen. Möglicherweise ein Hinweis, dass die nächste Kostenexplosion das Ende des Milliardengrabens ist.
Ingo Arzt
Der Autor schreibt für die taz regelmäßig über Stuttgart21 und dankt den Parkschützern für ihre Unterstützung.