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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 552 / 20.8.2010

Neoliberaler Paradigmenwandel

20 Jahre Ökonomisierungs- und Individualisierungsprozesse im Gesundheitswesen

Die Gründe von Ökonomisierungs- und Individualisierungsprozessen im Gesundheitswesen liegen keineswegs ausschließlich in einer "neoliberalen" (staatlichen) Gesundheitspolitik begründet. Sie sind ebenso ein Ergebnis der Dialektik aus gesellschaftlichen Transformationsprozessen und neuer kapitalistischer Landnahme der "Gesundheitswirtschaft". Das Ergebnis dieser Wandlungsprozesse sind ein an neoliberalen Steuerungsprinzipien orientierter Paradigmenwandel der Gesundheitspolitik und die Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung.

Um die Bedeutung von Ökonomisierungs- und Individualisierungsprozessen abschätzen zu können, ist es hilfreich, sich das Gesundheitssystem als Ensemble dreier Teilmärkte vorzustellen: erstens Versicherungsmarkt (zwischen Finanzierungsträgern und Versicherten/PatientInnen); zweitens Leistungsmarkt (zwischen Finanzierungsträgern und Leistungserbringern); drittens Behandlungsmarkt (zwischen Leistungserbringern und Versicherten/PatientInnen).

Die seit den 1990er Jahren zunehmende Wettbewerbsorientierung in der Gesundheitspolitik stellt einen gesundheitspolitischen Paradigmenwandel dar, der im Vergleich zu den 1980er Jahren neue staatliche Steuerungsinstrumente im Gesundheitssystem etabliert. Doch der politisch hegemoniale Diskurs um "mehr Wettbewerb" im Gesundheitswesen bedeutet keineswegs, dass dieser von den beteiligten Akteuren in denselben Bereichen gewünscht, noch dass Wettbewerb gleich Wettbewerb ist. Dennoch wird "mehr Wettbewerb" zur hegemonial-regulativen Idee sowohl christlich-liberaler und marktsozialdemokratischer Gesundheitspolitik als auch legitimatorischer Ideologien organisierter Kollektivakteure im Gesundheitswesen.

"Mehr Wettbewerb" als hegemoniale Idee

Im Mittelpunkt des neuen gesundheitspolitischen Paradigmas stehen die Gewinn- und Kostenkalküle der beteiligten Akteure des Gesundheitswesens: Rationale Kosten- und Gewinnkalkulationen sollen zu einer effizienteren Gesundheitsversorgung führen, Überkapazitäten abbauen und einen Qualitätswettbewerb entfachen. Der Wettbewerb als Regulationsprinzip wird gestärkt, indem der öffentliche, bislang korporatistisch und konsensual gesteuerte Gesundheitssektor am Vorbild der Organisationsprinzipien der privaten Kapitalwirtschaft ausgerichtet wird. Dies zeigt sich nicht nur in zunehmenden Privatisierungen von Krankenhäusern und der expliziten Förderung privater Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen - wie im Langzeitpflegesektor - , sondern auch in der "Verbetriebswirtschaftlichung" (Oskar Negt) von Entscheidungs- und Repräsentationsstrukturen von Finanzierungsträger- und Leistungserbringer-Organisationen. Zugleich werden jedoch - zumindest im öffentlich finanzierten Sektor - die Budgetierungsregeln beibehalten, die selbst noch die Wettbewerbsintensität bzw. regionale Mangelversorgung verschärfen. Das zugrunde liegende gesundheitspolitische Staatsprojekt kann als "wettbewerbsbasierte Kostendämpfung" bezeichnet werden.

Auf dem Versicherungsmarkt - lässt man die Private Krankenversicherung außer Betracht - war die Einführung des Krankenkassenwettbewerbs zum 1.1. 1997 durch die große Gesundheitskoalition die entscheidende Wegscheide. Seitdem können alle Versicherten (d.h. die Mitglieder) ihre Krankenkasse frei wählen; bis dahin war das nur einem Teil der Versicherten - den Angestellten - möglich. Die Einführung des Krankenkassenwettbewerbs war so gesehen auch eine Maßnahme zur formalen Gleichberechtigung aller Versicherten im bis dahin als konservativ und statusorientiert kritisierten deutschen Krankenversicherungssystem.

Allerdings hatte der konzipierte Krankenkassenwettbewerb einen Pferdefuß. Die unterschiedliche Versichertenstruktur und der mögliche Krankenkassenwechsel würden - so waren sich die Befürworter einig - zu einem "cream skimming" ("Rahm abschöpfen", "Rosinen picken") der Krankenkassen mit "günstigerer Versichertenstruktur" und niedrigeren Beitragssätzen führen. Daher wurde parallel ein Risikostrukturausgleich (RSA) eingeführt, der die unterschiedliche Belastung der gesetzlichen Krankenkassen mit Leistungsausgaben und Beitragseinnahmen ausgleichen sollte. Allerdings war und ist der Ausgleichsmechanismus des - mittlerweile vielfach reformierten - RSA nicht perfekt, so dass das "cream skimming" der reicheren Krankenkassen weiter ging. Ironischerweise ist erst mit der Einführung des Gesundheitsfonds und eines einheitlichen Beitragssatzes sowie der Errichtung eines besser funktionierenden (morbiditätsorientierten) RSA durch die schwarz-rote Bundesregierung diesem Tatbestand ein (allerdings schlecht schließender) Riegel vorgeschoben worden.

Günstige Versichertenstruktur verspricht Profit

Dies ist jedoch nur die halbe Geschichte. Denn diese auf Universalisierung und Vereinheitlichung setzenden gesundheitspolitischen Maßnahmen wurden vor allem von der SPD, den Grünen und den sozialen Flügeln von CDU und CSU getragen. Seit Beginn der Kostendämpfungspolitik - und noch während der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP - wurden nämlich auf der Versicherungsseite auch die Zuzahlungen in ihrer Bedeutung ausgeweitet und sukzessive erhöht. Dies hat sich durchgesetzt bis in die große Gesundheitsreform des Jahres 2003 von SPD, Grünen sowie CDU/CSU, als mit der Praxisgebühr und der Neuordnung der Zuzahlungen sowie der Streichung nicht-versicherungspflichtiger Arzneimittel aus der Erstattungsfähigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) die monetären Belastungen der Versichertenhaushalte massiv anstiegen.

Einen (vorläufigen) Höhepunkt erreichte diese Gesundheitspolitik mit der Einführung des sog. Zusatzbeitrages durch die schwarz-rote Bundesregierung. Formal handelt es sich zwar um einen Zusatzbeitrag für finanzschwache Krankenkassen, faktisch ist es jedoch eine deutliche Ausweitung der Privatisierung von Krankheitsrisiken durch die Gesundheitspolitik, die im merkwürdigen Gegensatz zum gleichzeitig eingeführten einheitlichen Beitragssatz steht. Diese Politik wurde nicht nur von CDU und CSU befördert, sondern hat auch unter den wirtschafts- und finanzpolitischen Flügeln des Mitte-Links-Lagers im Bundestag an Akzeptanz gewonnen.

Auf dem Leistungsmarkt ist die Durchsetzung von Wettbewerb je nach Versorgungssektor äußerst unterschiedlich. Doch auch hier ist die politische Gemengelage weitgehend zweigeteilt. BefürworterInnen des Vertragswettbewerbs im Umfeld der Krankenkassen, des Mitte-Links-Lagers und der Gewerkschaften befürworten einen stark regulierten Krankenkassenwettbewerb, würden jedoch die Leistungserbringer viel lieber in einen intensiven Qualitätswettbewerb zwingen, der durch Krankenkassen gesteuert wird. Diese auch international als "interne Märkte" bekannte Wettbewerbskonzeption wird jedoch keineswegs von allen Krankenkassen gleichermaßen verfolgt, denn die Konzeption der "internen Märkte" bricht sich am Krankenkassenwettbewerb, solange über "cream skimming" Verbesserungen der Marktposition der einzelnen Krankenkassen möglich sind.

Die politische Förderung des Vertragswettbewerbs hat zudem auf der Seite der Leistungserbringer bereits zu einer Infragestellung des Alleinvertretungsmonopols der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) in der ambulanten Versorgung geführt. Hausarztverbände, die in zahlreichen Bundesländern bereits Versorgungsverträge mit Krankenkassen eingegangen sind, wurden zu starken Konkurrenten der hausärztlichen Interessen in den KVen. Die Förderung des Vertragswettbewerbs eröffnet natürlich vor allem jenen Akteuren vermehrt Zutritt zum jeweiligen Markt, die bislang von den Strukturen des Kollektivsystems ausgeschlossen waren.

Der Vertragswettbewerb baut auf der Idee auf, dass die Krankenkassen über Direktverträge mit Ärzten und Krankenhäusern eine günstigere und bessere Versorgung bereitstellen und hierdurch das System der (korporatistisch ausgehandelten) Kollektivverträge zwischen Krankenkassenverbänden und Kassenarztverbänden aufsprengen. Dieses international auch als "Managed Care" bzw. "Managed Competition" bezeichnete Versorgungsmodell orientiert sich letztlich an den Ideen, die der (gescheiterten) Clintonschen US-Gesundheitsreform in den 1990er Jahren zugrunde lagen. Die rot-grüne Bundesregierung hat mit dem Modell der integrierten Versorgung Ansätze des Vertragswettbewerbs erstmals in den GKV-Regularien verankert.

Gleichzeitig Unter-, Über- und Fehlversorgung

Allerdings wurde das Kollektivvertragssystem nicht abgeschafft, sondern lediglich geöffnet für sog. integrierte Versorgungsverträge, die über direkte Einzelverträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern realisiert wurden. Seitdem existiert in Deutschland eine duale Versorgungsstruktur, die auf der einen Seite ein korporatistisch organisiertes Kollektivvertragssystem für die ambulante und stationäre Versorgung und auf der anderen Seite über Einzelverträge ein stärker an Managed Care bzw. Managed Competition ausgerichtetes Wettbewerbssystem umfasst.

Zusätzlich zum von manchen Krankenkassen erwünschten Vertragswettbewerb existiert aus der Sicht der Leistungserbringer ein starker Wettbewerbsdruck über die kombinierte Wirkung sektoraler Ausgabenobergrenzen (Budgets) und marktförmiger Vergütungssysteme. Im ambulanten Sektor wurde in den 1990er Jahren eine Vergütungsreform begonnen, die mittlerweile zu einem Preissystem für einzelne Leistungen geführt hat ("Euro-Gebührenordnung").

Im stationären Sektor wurde ebenfalls in den 1990er Jahren ein Reformprozess in Gang gesetzt, der die Krankenhäusern nicht mehr nach Tagessätzen bezahlte, sondern analog dem ambulanten Sektor ein Preissystem installierte, wodurch die gleiche Leistung mit dem gleichen landesweiten Betrag vergütet wurde (diagnosebezogene Fallpauschalen, DRGs). Auch hier hat die rot-grüne Bundesregierung, allerdings in Zusammenarbeit mit der CDU/CSU, mit dem Fallpauschalengesetz 2002, das das DRG-System perspektivisch einführte, eine Schlüsselentscheidung vollzogen. Die aus den Vergütungssystemen entstehenden Wettbewerbsanreize, die Kosten zu senken und jene Leistungen zu produzieren, die einen Überschuss abwerfen, haben die Versorgungslandschaft im ambulanten wie stationären Sektor radikal verändert: Wettbewerbsformen werden endemisch.

Doch die Beibehaltung der sektoralen Ausgabenobergrenzen im Zuge der Orientierung an den Kosten- und Gewinnkalkülen der Akteure hat auf Seiten des Behandlungsmarktes problematische Wirkungen. Leistungserbringer - ÄrztInnen wie Krankenhäuser - suchen einerseits nach neuen Einkommenschancen jenseits des GKV-Leistungsspektrums, was sich im ambulanten Sektor beispielsweise in der Ausweitung medizinisch fragwürdiger individueller Gesundheitsleistungen (sog. IGeL) ausdrückt. Andererseits orientiert sich die Leistungserstellung und Kapazitätsplanung zunehmend an Kosten- und Gewinnkalkülen; das ist solange unproblematisch, wie sich beides an den Versorgungsbedarfen der Bevölkerung orientiert.

Es ist allerdings zu befürchten, dass die gesundheitspolitische Steuerung der Kosten- und Gewinnkalküle von Finanzierungsträgern und Leistungserbringern zu der Situation gleichzeitig bestehender Über-, Unter- und Fehlversorgung führen wird. Denn trotz aller nötigen und bereits realisierten Transparenz des Leistungsgeschehens für PatientInnen und Versicherte ist die strukturelle Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung bislang nicht aufgehoben. Immer noch konkretisiert der Arzt die unspezifische Nachfrage des Patienten in konkrete Leistungsnachfrage auf dem "Gesundheitsmarkt".

Die zunehmende gesundheitspolitische Orientierung an Kosten- und Gewinnkalkülen mag die (real existierende) Versorgung effizienter machen; ob sie sich an den (Versorgungs-)Bedarfen aller Patienten orientiert, ist höchst fragwürdig. Denn die Chancen auf Durchsetzung der eigenen Gesundheits- und Leistungswünsche sind nicht nur sozial ungleich verteilt. Ihre Realisierung bestimmt vielmehr zusammen mit den Finanzinteressen der korporativen Akteure wesentlich die Versorgungsstrukturen und vorgehaltenen Kapazitäten. In einer wettbewerbsorientierten Gesundheitsversorgung bedeutet dies, dass die medizinische Versorgung ungleicher werden wird und die Zahlungsfähigkeit des Einzelnen zum bestimmenden Faktor seiner Gesundheitsversorgung zu werden droht.

Kai Mosebach

Zum Weiterlesen: T. Gerlinger/K. Mosebach: Die Ökonomisierung des deutschen Gesundheitswesens: Ursachen, Ziele und Wirkungen wettbewerbsbasierter Kostendämpfungspolitik. In: N. Böhlke/T. Gerlinger/K. Mosebach/R. Schmucker/T. Schulten (Hrsg.): Privatisierung von Krankenhäusern. Erfahrungen und Perspektiven aus Sicht der Beschäftigten. VSA-Verlag, Hamburg 2009, Seite 10-42