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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 552 / 20.8.2010

Spießig wie ein Gartenzwerg

In der neuen Kultur der Gesundheit zählt Eigenverantwortung. Ein Interview mit Regina Brunnett

In Marx' "Kapital" heißt es noch: "Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen!" Die gegenwärtige "Kultur der Gesundheit" rekurriert demgegenüber weniger auf das Medizinsystem, sondern zielt auf Eigenverantwortung ab. So die These von Regina Brunnett in ihrer Studie "Die Hegemonie symbolischer Gesundheit". Mit ihr sprach ak über diese Veränderung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel.

ak: Sie sprechen in Ihrer Studie von einer neuen Kultur der Gesundheit. Was meinen Sie damit?

Regina Brunnett: Während lange Zeit der Körper im Zentrum einer "gesunden" Lebensführung stand, ist im letzten Jahrzehnt die Psyche zunehmend zum Objekt der Gesundheitsgestaltung geworden. Die "neue Kultur von Gesundheit" unterscheidet sich von der alten dadurch, dass sie sich nicht mehr auf die Autorität der Medizin stützt, sondern auf die Konzepte von Eigenverantwortung und (Selbst-)Veränderung. Gesundheit ist zum Motor einer ständigen, individuell zu verantwortenden Selbstmodellierung der Psyche und des Körpers geworden. Optimierungswahn gehört für weite Teile der Mittelklassen zum Alltag. Bei Unlust, Müdigkeit oder Schnupfen setzt sofort die psycho-soziale Deutungsmühle ein: Habe ich zu viel Stress? Was macht mir Probleme?

Was haben die Krise des Fordismus, die Veränderungen in der Produktion und neue Anforderungen an die Arbeitskraft mit der neuen Kultur von Gesundheit zu tun?

Weite Teile der Bevölkerung vernutzen nach wie vor ihre körperliche Arbeitskraft in der Arbeit. Gegenwärtig erfolgt die kapitalistische Wertschöpfung jedoch primär über die Verwertung subjektiver Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Kreativität oder die Fähigkeit, im Gegenüber positive Emotionen hervorzurufen.

Affektivität spielt auch in Bezug auf Gesundheit eine besondere Rolle. Entspannung, Wohlbefinden und Lebensqualität gehören zum symbolischen Wert von Gesundheit, der produziert und angeeignet werden kann.

Zugleich haben die Entgrenzung zwischen Freizeit und Arbeit, Dauerdruck, überlange Arbeitszeiten und fehlende Handlungsspielräume in Verbindung mit Arbeitsplatzunsicherheit zum eklatanten Anstieg psychischer Probleme wie Depressionen, Angsterkrankungen und Burn-Out geführt. Die neue Kultur von Gesundheit antwortet darauf, indem sie Entlastung und Entspannung anbietet und - scheinbar bruchlos - mit der Steigerung von Effizienz und Arbeitsfähigkeit verknüpft. "Gesunde" Kleidung, Vitaminpillen, Aromatherapie, Bachblüten, Fitnessstudios oder functional food - der Gesundheitsmarkt boomt.

Welchen Anteil hat der Widerstand der neuen sozialen Bewegungen an der neuen Kultur von Gesundheit?

Die neue Kultur von Gesundheit wurde wesentlich durch die aufstrebenden Mitteklassen der 1970er und 1980er Jahre angestoßen. Diese setzten Praktiken und Sichtweisen im Umgang mit sich selbst durch, die ihrer eigenen Existenzweise entsprachen. Dabei wendeten sie sich gegen die bis dato herrschende Vormachtstellung der Medizin und eine technizistische Sicht auf das Selbst und den Körper. In diesem Zusammenhang spielten die neuen sozialen Bewegungen, hier die Gesundheitsbewegung, eine sehr wichtige Rolle. Diese war in den 1970ern ein Sammelbecken aus Vertreterinnen der Frauenbewegung, marxistischen Strömungen in und außerhalb der Ärzteschaft, Selbsthilfegruppen, Teilen der Friedensbewegung, Gewerkschaften und Wissenschaft. Schon am Ende des Jahrzehnts setzten sich jedoch Gruppierungen durch, die auf das Individuum bezogen agierten.

Doch dass aus Alternativentwürfen, in diesem Fall aus der Gesundheitsbewegung, neue Formen von Herrschaft entstehen können, ist ja keine neue Erkenntnis.

Was hat das alles mit Herrschaftsverhältnissen und den Verwertungsinteressen des Kapitals zu tun?

Symbolische Gesundheit verbindet das Selbst, seine Wertschätzung und seinen Selbstwert mit seiner Verwertbarkeit und mit sozial- und gesundheitspolitischen Maßnahmen. Dass dieser Prozess nicht nur "von oben" ausgeht, wird nirgendwo deutlicher als im Feld der Arbeit. Je stärker Arbeitskräfte verheizt werden, desto größer ist häufig die Identifikation der Arbeitenden mit ihrer Arbeit. In den Wissensberufen wird der Wunsch nach regelmäßigen freien Wochenenden und Ausgleich zur Arbeit vielfach schon als ebenso spießig angesehen wie Gartenzwerge.

In der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik wird der "Wille zur Gesundheit" zunehmend mit Leistungs- und Arbeitsmoral gleichgesetzt. Umgekehrt erscheint dort, wo der "Wille" zur Gesundheit scheinbar fehlt, sozialer und ökonomischer Ausschluss als gerechtfertigt.

Die Psyche ist ein zentrales Terrain, auf dem die Strukturkonflikte der postfordistischen Regulationsweise ausgetragen werden. Psychische Erkrankungen sind Symptome einer neuen Befindlichkeit des Subjekts in postfordistischen Arbeitsverhältnissen.

Viele Wissensarbeiter und Wissensarbeiterinnen schlagen sich mit prekären Arbeitsverhältnissen, einer hohen Arbeitsdichte und einer hohen Identifikation mit Arbeit herum. Wenn wir darüber sprechen, Gesundheit zu re-politisieren, dann geht es auch darum, Widersprüche zwischen Arbeit und Kapital, Gesundheit und Arbeit auch in Bezug auf die eigenen Lebensverhältnisse sichtbar zu machen. Und by the way würden dann - vielleicht - Viren als Auslöser von Krankheit wieder salonfähig.

Interview: Ingo Stützle

Zum Weiterlesen: Regina Brunnett: Die Hegemonie symbolischer Gesundheit. Eine Studie zum Mehrwert von Gesundheit im Postfordismus. transcript Verlag, Bielefeld 2009