Große Wut und kleine Schritte
Eine Auseinandersetzung mit dem gewerkschaftlichen Organizing
Peter Birke erzählt von einer Aktion an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH): "Heutiges Ziel ist, ein Plakat aufzuhängen, mit möglichst vielen KollegInnen zu sprechen sowie eine Umfrage über die wichtigsten Probleme des Arbeitsalltags zu starten." In der Station, die er und ein anderer Teilnehmer der Aktion besuchen, kommt es schnell zum Gespräch. Die Kolleginnen machen ihrer Wut Luft: über den Personalmangel, die Arbeitsbelastung und darüber, dass die Klinik auf ihre Kosten spart. "Eine wenig diskutierte, aber nicht zu unterschätzende Chance, die alle Organizing-Projekte in sich bergen," schreibt Birke, "ist die Öffnung eines ansonsten diskreten Raums, in dem wir uns alle bewegen: der Alltag der Fabriken, Büros, Familien, Wohnanlagen, Arbeitsämter, Krankenhäuser."
Peter Birke hat sich in den letzten Jahren viel mit den sozialen Kämpfen in der Bundesrepublik (und Dänemark!) beschäftigt (1) und darin stets der Subjektivität der Beteiligten und dem daraus resultierenden "Eigensinn", der nicht vorhersehbaren Dynamik dieser Kämpfe, ein besonderes Interesse entgegen gebracht. Dieser Eigensinn gerät häufig in Konflikt mit den Interessen und Strategien institutioneller Akteure, die in diesen Konflikten (vereinheitlichend) wirken (wollen); es ist daher kein Wunder, dass Peter Birke auch den Gewerkschaften und ihren Organizing-Projekten mit Misstrauen begegnet.
Organizing ist ein Schlagwort aus den USA, das Projekte zur Mitgliedergewinnung beschreibt, bei dem ein oder mehrere professionelle gewerkschaftliche OrganizerInnen ein Projekt in einem meist mitgliederschwachen Bereich oder Unternehmen starten. Diese Projekte drehen sich meist um einen betrieblichen Konflikt, und nicht selten beginnen sie mit einem Gespräch mit den potenziellen neuen Mitgliedern, in deren Verlauf der entsprechende Konflikt erst ermittelt wird. In den letzten Jahren ist dieses Konzept auch von einigen deutschen Gewerkschaften aufgegriffen worden. (2)
Organizing ist eine Reaktion auf die gewerkschaftliche Mitgliederkrise. Aber es ist noch mehr damit verbunden: das Versprechen nach Selbstorganisierung und -vertretung durch die Beschäftigten. Das macht Organizing für viele Linke interessant.
Organisationsbemühungen und der Eigensinn der Kämpfe
Zu Beginn des Buchs schreibt Peter Birke, dass in den vergangenen Jahren "etliche Menschen aus meinem persönlichem Umfeld professionelle Organizer geworden sind". Mit diesen FreundInnen und Bekannten diskutiert er die Grenzen und Möglichkeiten der politischen Arbeit innerhalb der Gewerkschaft, er begleitet sie zu ihren Projekten, nimmt an Aktionstagen teil und berichtet von diesen Erfahrungen.
Die enge Verbundenheit mit und gleichzeitige Skepsis gegenüber den Projekten ist eine große Stärke des Buchs. Birke gelingt es, von diesen, von ihrer Vorgeschichte und ihren Fallstricken spannend und gut lesbar zu erzählen, zum Beispiel im Fall der eingangs erwähnten Aktion in Hannover. Die Erzählweise, bei der Birke immer wieder auf seine eigenen Eindrücke, Erlebnisse und Überlegungen zu sprechen kommt, macht das Buch zu einem echten Lesevergnügen.
Das Buch ist in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten führt Birke das Konzept des Organizing ein und ordnet es in die Debatten über Gewerkschaften und die Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik ein. Im zweiten Abschnitt wendet er sich der Vorgeschichte des Organizing zu. Er schlägt den Bogen über die verschiedenen Krisen der Gewerkschaften und deren Deutungen in unterschiedlichen Regionen der Welt hin zu den Debatten über die "Bewegungsgewerkschaft" als Ausweg aus dieser Krise. Auch das große Vorbild aller aktuellen Projekte, die US-Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, wird ausführlich vorgestellt - inklusive ihrer heftigen internen Konflikte, die kürzlich zur Spaltung führten. Birke konfrontiert die Begeisterung, die über das "neue Konzept" herrscht, mit diesen Schwierigkeiten und geht auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen ein, unter denen etwa die US- und die bundesdeutschen Projekte stattfinden. Der dritte Teil schließlich handelt von den Organizing-Erfahrungen bundesdeutscher Gewerkschaften und von den unterschiedlichen Strategien, die dabei zur Anwendung kamen: von der "Schlecker-Kampagne" zum Beispiel (als einer "Vorform" des Organizing), dem Projekt im Hamburger Sicherheitsgewerbe und schließlich dem eingangs erwähnten an der MHH. Abschließend stellt Birke eine Systematisierung der dabei beobachteten Konflikttypen vor und diskutiert, welche Potenziale in welcher Form des Konflikts liegen.
Am Anfang war das Wort - die Bedeutung des Gesprächs
Am Ende des Buches ist die anfängliche Skepsis nicht hinfällig, aber Birke weist auch auf die Chancen hin, die im Organizing liegen. Die OrganizierInnen haben, wie er betont, ein systematisches Interesse daran, Konflikte zuzuspitzen. Inwieweit die Selbstorganisierung im Rahmen der Projekte auch die Gewerkschaften verändern wird, ist offen. Sollen die Konflikte nicht allzu leicht wieder eingefangen werden können, wenn sie "außer Kontrolle" geraten, müssen sie sich mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen verbinden, so sein Fazit. Organizing kann helfen, Verbindungen zu schaffen. Die Chance des Organizing liegt im Gespräch, das es eröffnet. Peter Birke schreibt: "Wenn man fragt, wo der Schuh drückt, muss man mit überraschenden Antworten rechnen."
Es ist dem Buch zu wünschen, dass es zu diesem Gespräch beiträgt.
Jan Ole Arps
Peter Birke: Die große Wut und die kleinen Schritten. Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010, 192 Seiten, 12,80 EUR
Anmerkungen:
1) In dem Buch "Wilde Streiks im Wirtschaftswunder" mit den spontanen Arbeitskämpfen der 1950er und 1960er Jahre in der Bundesrepublik und Dänemark, im Buch "Besetze deine Stadt!" mit dem Kampf um das Ungdomshus in Kopenhagen
2) Vgl. den Schwerpunkt in ak 546