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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 553 / 17.9.2010

Aufgeblättert

Klassistische Unterdrückung

Kemper und Weinbach verstehen Klassismus als eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform analog zu anderen Ismen. Diese äußert sich auf institutioneller, kultureller und individueller Ebene. Klassismusanalysen hinterfragen die Herabsetzungen und Stereotypen, die mit dem sozialpolitischen Status einhergehen und dadurch gleichzeitig legitimiert werden. Die AutorInnen referieren die Herkunft dieses in Deutschland bislang kaum benutzten Begriffes aus den USA, wo er aus den Kritiken der feministischen und der People-of-color-Bewegung entstanden ist. Im dritten Kapitel stellen sie ArbeiterInnenkulturen und Klassenbewusstsein vor. Die ArbeiterInnen oder, weiter gefasst, alle die gesellschaftlich "unten" gehalten werden und/oder renitent sind, waren schon immer Ausschlüssen und Disziplinierungen ausgesetzt. Nach einem kurzen Streifzug in den Bereich der Psychotherapie, der zeigt, dass diese vor allem für die "oberen" Schichten gedacht ist und auch vorrangig diese sie wahrnehmen, widmen sie sich konkreten Beispielen: Bildung, Arbeit, Wohnen, Familie und (sexuelle) Beziehungen. Hierzulande am dominantesten ist die Begabungsideologie, medial präsent ist die "Bildungsbenachteiligung". Aber auch der Elitenreproduktion, der Verteilung der Wohnorte oder dem Heiratsverhalten ist der Klassismus eingeschrieben. Nur angedeutet wird, wie bessere Bedingungen für die dringend notwendige Selbstermächtigung der klassistisch Unterdrückten geschaffen werden können, wenn ihnen die Selbstanerkennung und die Kompetenzen für Selbstorganisation systematisch vorenthalten werden. Kemper und Weinbach haben ein lesenswertes Buch vorgelegt, aus dem viel über die Gesellschaft wie auch über die eigene Biographie gelernt werden kann.

Bernd Hüttner

Andreas Kemper/Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung, Unrast Verlag, Münster 2009. 186 Seiten, 13 EUR

Faschismen im Vergleich

Der Titel des Buches von Maurizio Bach und Stefan Breuer weckt Erwartungen: "Faschismus als Bewegung und Regime. Deutschland und Italien im Vergleich". Befriedigt werden sie nur zum Teil. Bachs und Breuers Instrumentarium ist das auf Max Weber zurückgehende Konzept der charismatischen Herrschaft, das auch Hans-Ulrich Wehlers Interpretation des Nationalsozialismus zugrunde liegt. Charismatisch bzw. charismatisch qualifiziert oder legitimiert wird laut Bach/Breuer alles und jedes, was die Herrschaftsstrukturen der beiden Regime ausmacht: nicht nur die Diktatoren, sondern auch Führungsstäbe, sekundäre Führer, Gefolgsleute, Stabsorganisationen, Strukturen und Prozesse. Der Hauptunterschied der Herrschaftsstrukturen in Italien und Deutschland laut Bach/Breuer: Es sei "das Dritte Reich als eine charismatisch qualifizierte Diktatur mit charismatisierten Verwaltungsstäben zu bezeichnen; das Regierungssystem des italienischen Faschismus unterscheidet sich davon durch die Entwicklung einer charismatischen Diktatur mit bürokratischen Verwaltungsstäben." (Hervorhebungen durch den Verfasser) So werden die Unterschiede eher im Formalen als im Inhaltlichen festgemacht. Auch Stefan Breuers Versuch, im Anschluss an Weber ein "faschistisches Minimum" (vgl. ak 522) bzw. einen "Idealtyp des Faschismus" zu definieren, hält sich "mehr an Formen als an Inhalte", wie der Autor selbst einräumt.

Js.

Maurizio Bach und Stefan Breuer: Faschismus als Bewegung und Regime. Deutschland und Italien im Vergleich. VS-Verlag, Wiesbaden 2010. 419 Seiten, 34,95 EUR

Neoliberale Verwertungswut

Sebastian Horvath ist ein linker Jungakademiker in Wien und mit allen Wassern des Marxismus und der kritischen Analytik gewaschen. Er befindet sich in einer Krise, derweil seine Freundin Anna an der Universität als Dozentin im Fach Philosophie Karriere macht. Sie veröffentlicht kluge Essays zu Philosophie und Gender, die in der Wissenschaftsszene diskutiert werden, und behandelt mit ihren Studierenden Adorno, Agamben und Foucault. Während des ersten gemeinsamen Urlaubs der Verliebten praktiziert Sebastian seine Streicheltechnik an Anna, die ihm ein außerordentliches Talent attestiert: "Du könntest reich werden Sebastian, sehr reich." Die Idee ist in der Welt, und Anna fantasiert weiter von einem Streichelinstitut. Ein bahnbrechendes Geschäftskonzept, das besonders angesichts eines die Gesellschaft atomisierenden und die Menschen in Einsamkeit stürzenden Neoliberalismus erfolgversprechend scheint. Die bedürftige Klientel wird von Sebastian als desillusionierte Mittelschicht und als "Lumpenbourgeoisie" definiert. Er begreift sein Talent als Chance der Stunde und schreitet zur Geschäftsgründung. Seine Dienstleistungen kommen bei Männern wie Frauen gut an. Sie verlassen das Institut in bester Stimmung, die allerdings nicht lange anhält und eine Fortsetzung der Therapie verlangt. Clemens Berger heißt der 1979 in Österreich geborene Autor, der sich dieses Szenario für seinen glänzend geschriebenen Roman erdachte. Berger liefert ein wunderbares Beispiel für die Verwertungswut, die aus jedem Spleen ein Business macht. Das schildert er mit ironischem Blick auf den Zeitgeist und die Opportunismen, die ehemals radikale Linke zu systemstabilisierenden Akteuren werden lässt. Es geht in Bergers Roman nicht um schlüpfrigen Sex, sondern um die Verwirrung von Gefühlen angesichts einer inflationären Lebenshilfepraxis in einer Gesellschaft, die alle Beziehungen ökonomisiert. Die Trennung zwischen Privatsphäre und Arbeit, zwischen den Geschlechtern, alles gerät ins Wanken. Berger gelingen hinreißende Passagen über die Gesellschaft und ihren Zeitgeist.

Matthias Reichelt

Clemens Berger: Das Streichelinstitut. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 356 Seiten, 19,90 EUR

Marktversagen

Das Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (ISW) veröffentlicht seit Jahren kritische Studien zur kapitalistischen Wirklichkeit. Die gegenwärtige Krise bot Material für mehr als nur eine Studie. Die neueste Publikation widmet sich der Software neoliberaler Ideologie und der zentralen Institution des Kapitalismus - dem Markt. Er gilt als die schützenswerteste Einrichtung nach dem Privateigentum, der immer für einen effizienten Einsatz von "Produktionsfaktoren" sorgt. Der Autor, Franz Garnreiter, hat sich zur Aufgabe gemacht, den Mythos Markt auseinanderzunehmen. Dafür beschäftigt er sich mit der Grundlage der Wirtschaftstheorie - der Grenznutzentheorie -, konfrontiert deren Versprechen mit der Wirklichkeit und stellt den stabilisierenden Effekt der Markt-Ideologie für die kapitalistische Herrschaft und deren destruktives Potenzial für Mensch und Natur heraus. Die Broschüre räumt auf mit vielen irrsinnigen Grundannahmen neoklassischer Wirtschaftstheorie und deren Konzeption von "Markt". Garnreiter zeigt den intellektuellen Beitrag der Wirtschaftswissenschaften zur Krise und zur Alltagsvorstellung über die "soziale Marktwirtschaft". Was in der Studie zu kurz kommt, ist eine Kritik der politischen Ökonomie im Sinne von Marx. Der verstand darunter keine moralische Kritik und auch nicht die Benennung des Widerspruchs von theoretischer Konzeption und Wirklichkeit. Vielmehr wollte er zeigen, dass die bürgerlichen Ideale von Gleichheit und Freiheit die Form sind, in der sich unter kapitalistischen Verhältnissen Herrschaft, Ausbeutung und Ungleichheit reproduzieren.

Ingo Stützle

Franz Garnreiter: Der Markt. Theorie - Ideologie - Wirklichkeit. Eine Kritik der herrschenden Wirtschaftsideologie. ISW Forschungsheft 4, München 2010. 46 Seiten, 4 EUR. Bestelladresse:
www.isw-muenchen.de