Gegen Juden, Roma und Linke
Ungarn nach dem Wahlsieg der extremen Rechten
Die ungarische Bevölkerung hat im März 2010 zu zwei Dritteln völkisch-rechtsextrem gewählt. Über 80 Prozent der Sitze im Budapester Parlament entfielen auf die FIDESZ, die rechtspopulistische Partei Viktor Orbáns, und die Jobbik, Nazi-Partei unter ihrem Gründer Gábor Vona. Das ideologische Programm: gegen Juden, gegen Kommunisten, gegen Roma, gegen Liberale, gegen "Fremde", gegen "Landesverräter", gegen alles außer gegen das "Magyarentum", das ein "Groß-Ungarn" braucht, um sich zu befreien vom "jüdischen Bolschewismus" der "Multis". Wie ist das Leben in einem von offenen und verdeckten Nazis regierten Land?
"Budapest ist nicht Ungarn", sagt Milan, Professor an einer der neun Budapester Universitäten, Sozialist und Mitte 60, "viel schlimmer noch" sei es auf dem Land. Ungarn, das mal als eine Art "Paradies" galt im Ostblock, in dem der Westen, von Osten aus gesehen, auch schon vor 1989 immer näher war als anderswo, und wo, vom Westen aus betrachtet, der Osten gar nicht so trostlos schien. Es sei ein "besserer Platz" in der sozialistischen Welt gewesen, erzählt Milan. Eine vor allem ökonomische Verbesserung, wie sie in den meisten Nachbarländern herbeigesehnt wurde, sei dem Großteil der Menschen gar nicht notwendig erschienen. Vor allem der Tourismus war, so wie heute auch, eine der Haupteinnahmequellen.
Zwar hat auch die Tourismus-Romantik nie ohne Anleihen am Völkischen in der ungarischen Kultur funktioniert, aber sie ist in den letzten Jahren rechtsaußen überholt worden. Nicht mehr der ländliche Frieden naturbelassener Gebiete, in denen Pferderennen und Forellenzucht betrieben werden und in denen Salami, Tokajer und Paprika regieren, bestimmt das Bild von Ungarn. Stattdessen versucht der Nationalismus der FIDESZ und der Jobbik krudeste Ur-Mythen wiederzubeleben, in denen u.a. das gesamte Weltgeschehen als ständiger Kampf zwischen "Hell und Dunkel" erscheint. Kultur als ein Ausdruck von modernem Leben, als Austausch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren und Milieus ist darin nicht vorgesehen.
Krude Ur-Mythen werden wiederbelebt
Wie und vor allem seit wann sich der tiefgreifende ideologisch-politische Wandel in Ungarn vollzieht, darüber herrscht keine Einigkeit unter den Liberalen, den linken Intellektuellen, den Sozialisten im In- und Ausland. Auch wenn im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im März immer wieder von einer "Wende" oder einer "Revolution" die Rede ist, ist allen klar, dass der Siegeszug der Koalition aus ultrakonservativen und ultranationalistischen Kräften - zusammengehalten durch Antisemitismus, Antiziganismus, Homophobie und "Magyarentum" - nicht erst im Jahr 2010 begonnen hat. Er begann nicht 2006, als die nationalistischen Unruhen halfen, den Weg der Rechtspopulisten und Nazis ins Parlament zu ebnen, nicht 1989 und auch nicht 1956.
Sowenig wie der deutsche hat auch der ungarische Nationalismus zu keinem genauer bestimmbaren Zeitpunkt jüngeren Datums "begonnen"; vielmehr hat er seine Form immer wieder verändert. Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts büßten ihre Anschlussfähigkeit nie nennenswert ein, auch nicht in den Jahrzehnten, in denen Ungarn als Staat galt, der Nazi-Deutschland Widerstand geleistet hatte. Bis nach 1989 unerwähnt blieben die 440.000 vernichteten ungarischen Juden und Jüdinnen und mehrere tausend ermordeten Roma.
Im Vordergrund kollektiver Erinnerungsprozesse behauptet sich hingegen der Aufstand von 1956. In den Jahren nach Stalins Tod verbreiteten sich Forderungen nach Neutralität des Landes und nach Demokratisierung. Am 23. Oktober 1956 fand eine Großdemonstration statt, an deren Ende die Regierung auf die hauptsächlich aus Studenten bestehende Menge schießen ließ. Daraufhin stürmten große Menschenmengen mit Unterstützung der ungarischen Armee sozialistische Denkmäler, besetzten die staatlichen Rundfunk- und andere Amtsgebäude. Der gewaltsame Kampf begann, am nächsten Tag wurde der landesweite Generalstreik ausgerufen. Nachdem Imre Nagy, Reformpolitiker der Sozialisten und zwischen 1953 und 1955 bereits um Demokratisierung bemühter Ministerpräsident, am 28. Oktober die Anerkennung des Aufstands als Revolution und eine neue Regierung bekannt gegeben hatte und am 1. November den Austritt aus dem Warschauer Pakt erklärte, schritten die Sowjettruppen ein und begannen mit der militärischen Niederschlagung der reformistischen Bewegung.
Schon knapp fünf Jahre später habe sich die Stimmung allerdings wieder entspannt, erklärt Milan. Mit den kleinen Freiheiten und dem berühmten "Gulaschkommunismus" habe sich János Kádár, nach dem Aufstand eingesetzter Machthaber von 1956 bis 1988, innerhalb von nur wenigen Jahren beim Großteil der ungarischen Bevölkerung eine Art "Beruhigung" erkauft. Die Präsenz der sowjetischen Armee habe man ohne größere Emotionen ertragen; die sowjetischen Soldaten waren streng kaserniert und erschienen fast nie auf den Straßen. Es waren auch nicht die Sowjets, die den Reformsozialisten Imre Nagy am 16. Juni 1958 hinrichteten.
Nagy ist seit 1956 ein Held geblieben, sowohl für viele der KommunistInnen im Land als auch für die ExilungarInnen. Seit 1989 erklären ihn nun die Nationalisten und Rechtspopulisten zum Märtyrer im Kampf gegen die sowjetischen und kommunistischen Eroberer. Mit der erneuten Beisetzung von Nagys Leichnam am 16. Juni 1989 beginnt die Karriere Viktor Orbáns. Als der damals 28-Jährige anlässlich dieser Feier eine wutentbrannte Rede gegen die versammelte Runde der anwesenden Vertreter der kommunistischen Partei richtet und den sofortigen Abzug der noch immer stationierten Sowjettruppen fordert, fliegen ihm die Herzen zu. Orbáns politischer Aufstieg ist steil, in weniger als zehn Jahren wird er jüngster Ministerpräsident Europas. Seine Partei, die FIDESZ, regiert zum ersten Mal ab 1998. Orbán hat seit der Rede auf dem Budapester "Heldenplatz" deutlich mehr "Feinde Ungarns" als nur die Kommunisten ausgemacht und bedient spätestens seit dem Beginn seiner ersten Regierungszeit 1998 das gesamte Repertoire rechtspopulistischer Feindbilder.
Viktor Orbán sieht überall "Feinde Ungarns"
Während sich die antisemitische Hetze der Nationalisten zwar kaum noch übertreffen lasse, sei es vor allem die unmittelbare Gewalt gegen Roma, die immer noch weiter ausufere, sagt Milan, selbst jüdischer Herkunft, 1944 im Budapester Ghetto geboren und als Säugling Überlebender der Monate der Pfeilkreuzlerherrschaft. Begünstigt werde die antiziganistische Ideologie durch die Zunahme einer "modernen Ghettoisierung", die an einer großen Gruppe der Bevölkerung des Landes durchexerziert wird. Inzwischen hat sich die Vorstellung von den Roma als einer "den Ungarn feindlich gesinnten Minderheit" verfestigt. Seit November 2008 wurden neun Roma von Nazis ermordet, es gab ungezählte Brandanschläge, von Nazis durchgeführte "Umsiedlungen", Aufmärsche der Ungarischen Garde und ihrer Nachfolgeorganisation in von Roma bewohnten Siedlungen, die permanente Androhung von Gewalt und "Ausrottung".
Falsch wäre es anzunehmen, dass die Gewalt gegen Homosexuelle, Roma, Juden und Jüdinnen nur von denjenigen der ungarischen Nazis ausgeht, die in der Presse als einige wenige "grölende Glatzköpfe" abgetan werden. Ob auf dem Land oder in den größeren Orten, oft wird tatkräftige Unterstützung bei den Aufmärschen und den Angriffen geleistet, die Grenzen sind fließend zwischen Ausführenden und Mitläufern. Das ideologische Zentrum dieser Gewalt liegt in der Hauptstadt, hier regieren FIDESZ und Jobbik, hier werden die parlamentarischen Brandreden gehalten, hier wurde auch das direkt unterhalb des Parlaments liegende Mahnmal am Ufer der Donau, das an die antisemitischen Pogrome in Ungarn im II. Weltkrieg erinnert, im Juni 2009 geschändet.
Die Ermordung fast einer halben Million Juden und Jüdinnen und Tausender ungarischer Roma ist es auch, die FIDESZ und Jobbik vollständig aus dem erinnerungspolitischen Diskurs verdrängen wollen. Neben der Selbstviktimisierung als Opfer totalitärer Gewalt ist es vor allem die Re-Inszenierung von völkischen Ur-Mythen, mit der sich die FIDESZ ihres Machtbereichs in der ungarischen Gesellschaft rückversichert. Sie knüpft dabei an die Idee einer "völkischen Homogenisierung" an, wie sie bereits Miklós Horthy als Ideologie in den Jahren des Bündnisses mit Nazi-Deutschland vertrat.
Der "Reichsverweser" Horthy dient als personelle Vorlage für die Selbstinszenierungen Viktor Orbáns. Dies lässt die Vermutung zu, dass sich auch Orbán als Oberhaupt einer semi-präsidentialen Demokratie etablieren will, die ihn zum unanfechtbaren Oberhaupt des ungarischen Staates macht, mit einem Aufgebot an Vasallen, die von dieser Konstellation profitieren werden, ohne dass das Wort Korruption überhaupt in den Mund genommen werden muss. Bereits in dieser ersten Regierungsperiode der FIDESZ von 1998 bis 2002 haben Orbán und seine ParteigängerInnen angedeutet, dass sie mit allem Mitteln versuchen wollen, die Machtfrage zu stellen, bis hin zur Möglichkeit, die Verfassung zu ändern.
Das neueste Produkt der Orbán-Regierung, die "Deklaration der nationalen Zusammenarbeit", zehn platte pathetische Sätze, gerahmt vom königlichen Wappen und den Nationalfarben, die mit der Order der Zurschaustellung an alle öffentlichen Einrichtungen verteilt wurden und hundertfach an den Plakatwänden der Stadt kleben, sind die lobhudelnde Bestätigung in ihre Richtung und eine Kampfansage nach außen: "Hier ist Ungarn."
Die Opposition wird an den Rand gedrängt
Auch die Jobbik ("Jobbik Magyarországért Mozgalom", "Bewegung für ein besseres Ungarn") ist ein Produkt dieser Zeit. Gegründet wurde sie 1999 als "Rechte Jugendgemeinschaft" unter Gábor Vona, der sie auch heute noch führt und der einen guten Teil der frühen Mitglieder über sein Amt in der Studierendenschaft der Budapester Eötvös-Universität rekrutierte. Dies geschah laut seinen Aussagen vor allem durch die Verteilung von Freiexemplaren der vom rechtsextremen Schriftsteller István Csurka herausgegebenen antisemitischen und "antikapitalistischen" Zeitung Magyar Fórum. Die Jobbik organisierte bald ein Sammelsurium vor allem junger Männer aus verschiedenen rechten Splittergruppen, Jugendsektionen der MIÉP ("Ungarische Gerechtigkeits- und Lebenspartei"), Hooligans und Skinheads. Sie wurde von der FIDESZ von Anfang an unterstützt, selbst wenn sich seit dem Erfolg bei den EU-Parlamentswahlen im Juni 2009 erste, unter Machtparteien übliche Querelen eingestellt haben.
Auch die Jobbik ist ein System. Ein System, in dem es auffälligere und unauffälligere Elemente gibt. Zu den bekannteren zählt der paramilitärisch auftretende Straßenkampftrupp der Ungarischen Garde, die, nachdem sie offiziell im Herbst 2009 verboten wurde, unbehelligt marschiert und demonstriert. Neben den Angriffen auf die Parade des Budapest Pride Festivals in den letzten Jahren mit Pflastersteinen und Molotowcocktails und den Aufmärschen in Roma-Siedlungen wird auch schon mal vor der Deutschen Botschaft gegen die "Holocaust-Lüge" krakeelt. Neben den Nazi-Festen mit neoromantischem Bardentum und völkischem Gebrüll zu brachialem Sound erinnert auch die Situation in den Straßen Budapests an die frühen 1990er Jahre in Ostdeutschland. Der Omnipräsenz kurzgeschorener, breitschultriger Männer, deren aussagekräftige Tätowierungen und T-Shirts keinen Zweifel an ihrer Überzeugung lassen, kann man nicht ausweichen. Die Mainstream-Medienformate sind fest in der Hand der Rechten, sie bestimmen den nationalistischen Diskurs. Es gibt einige Antifa-Blogs und einige wenige kritische Internetseiten. Orte, die sich explizit einen linksliberalen Anstrich geben, gibt es ebenfalls nur wenige.
Es scheint, als habe die "Magyarisierung" und die Hetze gegen jede vermeintliche Gegenposition sowohl die Öffentlichkeit als auch die Institutionen innerhalb kürzester Zeit komplett erobert. Die "offene Verachtung für demokratische Institutionen und Verfahren", die Viktor Orbáns Politik kennzeichnen, trifft sich dabei mit einer weit verbreiteten Abneigung gegen Politik, vor allem gegen eine sozialistische oder sozialdemokratische, und mit der Angst vor sozialem Abstieg.
Auch wenn "Jobbik? Nem!" ("Jobbik? Nein!") hier und da im Straßenbild erscheint und es Gegendemonstrationen anlässlich von Jobbik-Kundgebungen gibt - oft sind die Gruppen, die diesen Protest tragen, zahlenmäßig kaum auszumachen. Jobbik rekrutiert seine neuen Mitglieder nach wie vor bevorzugt unter Studenten. Ihr Führungskern besteht aus Universitätsangehörigen und Intellektuellen. So wächst auch der Druck auf die HochschullehrerInnen, die sich noch mit dem Inhalt ihrer Lehrveranstaltungen gegen den Trend der nationalistischen, antisemitischen, homophoben und antiziganistischen Radikalisierung an den Universitäten stellen könnten.
Eine Analyse der sich als links/linksliberal verstehenden Kräfte sieht die Radikalisierung einer ganzen Gesellschaft als Ausdruck des Wunsches nach "Ordnung" und "Führung". Ein wenig beneidet man schon diejenigen, die es geschafft haben, mit einem Arbeitsplatz außerhalb Ungarns das Land zu verlassen.
Claudia Krieg
Eine Langfassung dieses Artikel ist nachzulesen bei
www.rosa-luxemburg.info/news/2010/ungarn_claudia_krieg/