Die verstreute Verschwörung
Serpica Naro und die Open-Source-Organisierung
Vor fünf Jahren lancierten Mailänder Aktivistinnen eine Modenschau auf der Mailänder Modewoche und machten damit auf prekäre Arbeitsbedingungen von DesignerInnen aufmerksam. Grundlage der erfolgreichen Aktion war eine weit verzweigte Community aus politischen AktivistInnen und prekär Beschäftigten. Gerade weil der hiesige Aktivismus immer noch viel zu stark durch die Trennung von politischem Handeln und prekärem Alltag geprägt ist, ist dieses Organisationsmodell weiterhin aktuell.
"Die junge englisch-japanische Serpica Naro wohnt in Japan und hat sich einen guten Ruf als Designerin erarbeitet, die fortwährend die Grenze des Modedesigns erweitert. Sie ist international bekannt für ihren innovativen Gebrauch von High-Tech-Stoffen und ihre ungewöhnlichen Schnittmuster." Mit dieser Kurzbiografie, einer Mappe von Kreationen sowie einer Liste von ReferenzkundInnen und Showrooms bewarb sich Serpica Naro bei der Mailänder Modewoche 2005. Doch hinter dem Namen Serpica Naro verbarg sich keine aufstrebende Modedesignerin aus Tokio, sondern eine Gruppe von Aktivistinnen aus Mailand. Die Chainworkers hatten die Modedesignerin Serpica Naro erfunden, um auf die prekären Arbeitsbedingungen in der Modeindustrie aufmerksam zu machen. Trotz des Fakes war die Bewerbung erfolgreich. Die Modenschau des Labels Serpica Naro wurde in das offizielle Programm der Mailänder Modewoche aufgenommen.
Am 25. Februar 2005 fand die Modenschau von Serpica Naro schließlich statt. Zahlreiche JournalistInnen versammelten sich im Veranstaltungszelt. Noch vor den ersten Models trat der Pressesprecher von Serpica Naro auf den Laufsteg und enthüllte vor der Presse und dem restlichen Publikum den Schwindel. Gleichzeitig strömten zahlreiche AktivistInnen in das Veranstaltungszelt. Unter Beifallsrufen und dem Blitzlichtgewitter der Kameras kamen nun die Models auf den Laufsteg. Sie präsentierten ironische Kleidungsstücke, die auf die Bedingungen der Prekarität zugeschnitten waren. Ein Kleid mit Mausefallen für all diejenigen, die sich gegen Übergriffe am Arbeitsplatz wehren müssen. Eine Wendekombination aus Pyjama und Arbeitshose für all diejenigen, die so viel arbeiten, dass sie an ihrem Arbeitsplatz schlafen müssen. Ein Kombidress für diejenigen, die mehrere Jobs haben, um über die Runden zu kommen, und die deshalb verschiedene Arbeitsbekleidungen brauchen. Die Mailänder Modewoche reagierte verärgert. Die Presse hingegen war begeistert. In zahlreichen Artikeln wurde über die Marke Serpica Naro und die Prekarität in der Modeindustrie berichtet.
Kleider mit Mausefallen und Arbeits-Pyjamas
Den verschiedenen Aktivitäten der Chainworkers liegt das Konzept der media sociali zugrunde. Die media sociali sind ein Gegenentwurf zu den Massenmedien und stellen sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrer Form eine Alternative dar. Zum einen schaffen sie neue Bilder jenseits der Klischees von Zeitungen und Fernsehsendern. Zum anderen ermächtigen sie die Prekären, diese Bilder selbst zu produzieren und zu verbreiten. Dies gilt insbesondere für Serpica Naro. Am Anfang stand die Idee der Chainworkers. Ausgehend von dieser Kerngruppe sprach sie sich unter FreundInnen und den FreundInnen der FreundInnen herum. Die Idee begeisterte; viele waren bereit, zu dem Gelingen der Modenschau beizutragen. Eine verstreute Verschwörung entstand.
Um die 200 Leute arbeiteten auf der Grundlage von Geheimhaltung und Vertrauen zusammen. Unter ihnen viele Insider der Modeindustrie, aber auch Prekäre aus anderen Bereichen. Ausgehend von den Chainworkers hatte sich ein Netzwerk aus AktivistInnen und Prekären gebildet, in dem sich unterschiedlichste Fertigkeiten und Wissensformen miteinander verbanden. Vor diesem Hintergrund macht der Aktivist Lorenzo deutlich: "Serpica Naro ist die fortgeschrittenste Antwort auf die Frage der Selbstorganisation von Kommunikation und der Selbstorganisation des Kampfes. In diesem Sinne sind die media sociali per se ein Mechanismus des Konflikts. Nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern ein Mittel des Konflikts."
In dem Maße, in dem sie das passive Publikum in eine aktive Community verwandeln, stellen die media sociali den grundlegenden Mechanismus der Massenmedien in Frage. Zugleich zeigt sich eine paradoxe Nähe zu den Communities des Internets. In besonderem Maße gilt dies für das Entwicklungsmodell von Open-Source-Software. Dieses Entwicklungsmodell hat der US-amerikanische Hacker Eric S. Raymond in seinem 1997 veröffentlichten Essay "Die Kathedrale und der Basar" grundlegend analysiert.
In diesem Text stellt Raymond zwei gegensätzliche Formen der Arbeitsorganisation gegenüber. Zum einen gebe es das Modell der Kathedrale, das lange Zeit die Softwareproduktion dominiert habe. Dieses Modell beruhe auf der Vorstellung, dass komplexe Software nur von kleinen Teams von Hohepriestern gebaut werden könne. Um Erfolg zu haben, seien ein zentralisierter Ansatz und eine sehr genaue Vorausplanung notwendig. Zugleich müsse das Expertenteam in weitgehender Abgeschiedenheit wirken und dürfe keine unfertigen und fehlerhaften Versionen veröffentlichen. Vor allem Microsoft arbeite auf diese Weise.
Zum anderen gebe es das Modell des Basars, das dem Open-Source-Betriebssystem Linux zugrunde liege. Dieses Modell beruhe auf einer weitgehenden Offenheit. Schon früh würden unfertige Versionen der neuen Software im Internet veröffentlicht. Diese frühen und häufigen Freigaben seien mit der Aufforderung verbunden, sich zu beteiligen. Alles, was möglich sei, werde delegiert. Jeder, der wolle, könne sich beteiligen. Der Einzelne ordne sich dabei nicht länger in eine Hierarchie ein, sondern sei freiwillig tätig. An die Stelle der zentralisierten Kontrolle trete eine dezentrale und lockere Kooperation. Durch die eng verwobenen Stränge des Internets seien Tausende von über die Welt verstreuten Nebenerwerbs-HackerInnen miteinander verbunden. Raymond schreibt: "Bei der Linux-Gemeinde handelt es sich nicht um den ehrfurchtsvollen und stillen Bau einer Kathedrale, sondern um einen wild durcheinander plappernden Basar mit verschiedenen Zielsetzungen und Ansätzen. Dennoch löste sich die Linux-Welt nicht in völlige Konfusion auf, sondern entwickelte eine Durchschlagskraft und Produktivität, die für die Erbauer einer Software-Kathedrale kaum vorstellbar gewesen ist."
Wenige Arbeit der Vielen oder viel Arbeit der Wenigen
Heute gibt es eine Vielzahl von erfolgreichen Open-Source-Projekten, die gemäß des Basarmodells arbeiten. Am Anfang stehen dabei meist ein persönliches Problem und das "plausible Versprechen", dieses Problem durch eine neue Software zu lösen. Schon kurz nachdem der Initiator oder die Initiatorin mit dem Programmieren begonnen hat, veröffentlicht er oder sie die Software im Internet und sucht dort nach anderen EntwicklerInnen und AnwenderInnen, die vor ähnlichen Hindernissen stehen. Schnell bildet sich eine Gruppe von MitstreiterInnen.
Die weltweit verteilten Entwickler-Communities kommunizieren über E-Mail-Verteiler, Internetforen und Chats. Zugleich wird die Arbeit über gemeinsame Webseiten koordiniert. Die Größe der verschiedenen Projekte reicht dabei von wenigen Dutzend bis hin zu mehreren Tausend. Wenn die Zahl der MitentwicklerInnen und AnwenderInnen eine bestimmte Größe überschreitet, bildet sich aus der Community heraus ein Core-Team, das die weitere Entwicklung des Projekts steuert.
Dieses Core-Team setzt sich aus den ProgrammiererInnen zusammen, die am längsten und am aktivsten an der jeweiligen Entwicklung beteiligt sind. Es entscheidet über die grundlegende Richtung des Projekts, über das Design und über interessante Probleme. Darüber hinaus besteht die Aufgabe des Core-Teams darin, die Arbeit voranzutreiben sowie die Community zu koordinieren, zu motivieren und zusammenzuhalten. Zugleich beteiligen sich viele nur sporadisch. Aber gerade diese sporadische Arbeit ist von enormer Bedeutung.
Entscheidend für die größere Effizienz des Basarmodells ist nicht der Unterschied zwischen den Expertenteams der Kathedralen und den Core-Teams der Open-Source-Projekte. Entscheidend ist die Beziehung zu den AnwenderInnen. Während Microsoft und andere vergleichbare Software-Unternehmen die AnwenderInnen auf bloße KonsumentInnen reduzieren, machen Open-Source-Projekte AnwenderInnen zu potenziellen Mit-EntwicklerInnen. Open-Source-Projekte greifen nicht nur auf die viele Arbeit der Wenigen, sondern auch auf die wenige Arbeit der Vielen zurück.
Gerade weil die gelegentliche Arbeit der Vielen nicht von Bezahlung und Gehorsam abhängt, beruht der Erfolg des Basarmodells in hohem Maße darauf, dass die sozialen Beziehungen innerhalb der Community gepflegt werden. Immer wieder müssen die Beteiligten eingebunden und motiviert werden. Vor diesem Hintergrund hat sich eine Form der Entscheidungsfindung herausgebildet, die nicht zuletzt in dem Credo der Internet-Entwicklergemeinde deutlich wird: "Wir wollen keine Könige, Präsidenten und Wahlen. Wir glauben an einen groben Konsens und an einen ablauffähigen Code."
Dass Hierarchien abgelehnt werden, bedeutet jedoch nicht, dass alle Beteiligten vollkommen gleichberechtigt sind. Innerhalb der Open-Source-Projekte gibt es ein erhebliches Ungleichgewicht der Partizipation. Ein Core-Team, das durch keinerlei Wahl legitimiert ist, bestimmt die Richtung der Entwicklung. Aber gerade bei strittigen Entscheidungen kommt die enorme Bedeutung der Community ins Spiel. Eine grobe Missachtung der Wünsche eines relevanten Teils der Mit-EntwicklerInnen würde deren Beteiligung in Frage stellen und damit die Erfolgsaussichten des gesamten Projektes drastisch verdüstern.
Dieser sanfte Zwang zum Konsens wird durch das Recht sich abzuspalten, das right to fork, weiter verstärkt. Die in der GNU Public Licence festgeschriebene Freiheit, die entsprechende Software für jeden Zweck zu benutzen, schließt immer auch das Recht von ProgrammiererInnen ein, sich von einem bestehenden Projekt abzuspalten und die Software in einem neuen Projekt weiterzuentwickeln. Ausgehend von unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Konflikten haben sich Open-Source-Projekte deshalb immer wieder gespalten.
Von ProgrammiererInnen und russischen AnarchistInnen
Mindestens ebenso wichtig sind jedoch die Auswirkungen auf bestehende Projekte. Weil jede Spaltung eine geringere Zahl an EntwicklerInnen und damit eine Schwächung bedeutet, sind die EntscheidungsträgerInnen gezwungen, Rücksicht auf die Interessen der Community zu nehmen. Zusammen mit dem Basarmodell hat sich deshalb eine Form von Demokratie herausgebildet, die nicht auf Abstimmung, sondern auf einem groben Konsens beruht. Und genau an diesem Punkt trifft sich der Programmierer Eric S. Raymond mit dem russischen Anarchisten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin. Raymond schreibt: "Da das `Prinzip des Befehlens' unmöglich auf die Freiwilligen des Anarchistenparadieses anzuwenden ist, bietet die `ernst gemeinte Anstrengung übereinstimmender Willen' (Kropotkin) genau das, was ein Projekt wie Linux erfordert. Um effektiv zu kooperieren und zu wetteifern, müssen die Hacker, die ein kollaboratives Projekt leiten wollen, lernen, wie man effektive Gemeinden im Sinne von Kropotkins `Prinzip der Übereinkunft' rekrutiert und begeistert."
Doch nicht nur Raymond ist die Nähe zu anarchistischen Vorstellungen bewusst. Auch die Aktivistinnen der Chainworkers erkennen sich in den Arbeitsweisen der HackerInnen wieder. Nachdem sie die Modenschau organisiert hatten, verwandelten sie Serpica Naro in eine soziale Marke und initiierten eine Online-Community für ModeproduzentInnen aus der Off-Szene. Zu diesem Zweck wurde das Label im Jahr 2006 unter eine Creative Commons License gestellt. Jede Designerin, die ihrerseits ihre Schnittmuster freigibt, kann das Label frei verwenden. In diesem Sinne machen die Initiatorinnen deutlich: "Serpica Naro hat sich immer auf die Hacker-Community bezogen." Und weiter: "Der wirkliche Besitzer des sozialen Prozesses ist die Community. Eine Community, die es versteht, Wissen und Erfahrungen zu teilen, und die dadurch in der Lage ist, etwas an dem Zustand der Prekarität zu verändern."
Bürogemeinschaft 9to5
Von der Bürogemeinschaft 9to5 erschien zum Zusammenhang von Internetnutzung, Prekarität und neuen Formen der Organisierung der Text "Von der Weisheit der Vielen zur Organisierung der Unorganisierbaren" in der Reihe Standpunkte der Rosa-Luxemburg-Stiftung.