Die neue S-Klasse
Revival der Bürgerproteste?
Wer hätte das gedacht: Die neue Generation politischen Protests ist bürgerlich und kommt aus Stuttgart. Die Proteste entzünden sich an einem Bahnhofsumbau, nicht am Afghanistankrieg. Die Bewegung setzt sich für Bäume, Schlossgärten und Thermalquellen ein, nicht für höhere Hartz-IV-Regelsätze oder gegen die Zwei-Klassen-Medizin. Muss man sich wundern? Eigentlich nicht.
Stuttgarts BürgerInnen entrüsten sich - und das mit Recht. Das bürgerliche Partizipationsversprechen wird mit Füßen getreten. Der Konflikt um den Bahnhof ist nicht neu. 2004 wurde Bürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) im Amt bestätigt, weil er einen Volksentscheid zum Bahnhofsbau in Aussicht stellte. Nach der Wahl konnte er sich daran nicht mehr erinnern. Diese Kaltschnäuzigkeit politischer Herrschaft zeigt sich derzeit erneut. Und man staunt, wie unverdrossen die Verantwortlichen Öl ins Feuer gießen. Bahnchef Rüdiger Grube sprach den KritikerInnen das Recht zum Protest ab, Landesjustizminister Ulrich Goll (FDP) nannte sie "wohlstandsverwöhnt". Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) erklärte sich zwar zu Gesprächen, nicht aber zu Änderungen bereit. "Es bedarf keines Strategiewechsels, sondern eines Dialogs", sagt er.
Gern dürfen sich die BürgerInnen ehrenamtlich engagieren und Nachhilfeunterricht für Kinder aus "bildungsfernen Schichten" geben, aber zu politischen Entscheidungen möchten sie doch bitte die Klappe halten. Das bekommen die StuttgarterInnen nun von der Polizei eingebläut. Der Bahnhofsbau ist ein Fallbeispiel für den autoritären Regierungsstil, der sich in den letzten Jahren durchgesetzt hat. Durch die Proteste fällt er plötzlich auf.
Nun drängen sich ein paar Fragen auf. Sind die Stuttgarter Proteste ein Modell - gewissermaßen die Modelleisenbahn - für den Bund? Die Antwort ist ja. Zum einen, was die Themen und Anlässe angeht. Am 18. September umzingelten 100.000 Menschen den Bundestag aus Protest gegen die Atompolitik der Regierung. Am 29. September gingen in Berlin nicht einmal 5.000 gegen Sparpolitik und Sozialabbau auf die Straße. Dabei ist der Anlass nicht weniger drängend.
In Stuttgart wie beim Castor protestieren jene, die (noch) dazu gehören. Sie empören sich, weil "durchregiert" wird - ohne Rücksicht auf Verluste. Viele BürgerInnen wehren sich auch, weil es "ihre" Regierungen sind, die sie derart vor den Kopf stoßen. Insofern kann man durchaus von einer neuen S-Klasse der Proteste sprechen.
Das macht sie nicht schlechter.
Doch wer seit Jahren Hartz IV bezieht, wer von den Regierungen - und zwar egal, ob Rot-Grün, Rot-Schwarz oder Schwarz-Gelb - systematisch als arbeitsscheu, integrationsunwillig oder dumm bezeichnet wird, hat keine Hoffnungen in die demokratischen Entscheidungsprozesse. Wer seit langem ausgeschlossen und desillusioniert ist, von Politik (und Gewerkschaften) verlassen, wird sich auch kaum zu Bürgerbegehren und Demonstration mobilisieren lassen. "Die Unterschicht" geht nicht zum Volksbegehren. Das hat die Abstimmung über die Hamburger Schulreform im Sommer gezeigt.
Linke sollten sich in die neuen Bürgerproteste einmischen, aber die Probleme der Klassengesellschaft nicht aus den Augen verlieren. Auch für die stumme Wut der Ausgeschlossenen braucht es Formen der Artikulation und Organisation. Sonst blühen autoritäre Konzepte, Privatheit, Familie, Religiosität. Und davon profitiert die Rechte. Ungarn, Schweden oder Holland haben das gezeigt.