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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 554 / 15.10.2010

Eine Geschichte von Energiekämpfen

Den zivilen Ungehorsam radikalisieren: Castor schottern

Der Castor rollt und überall im Land gibt es Urlaubssperre für die Polizei, damit die Prätorianergarden der Stromkonzerne und ihrer Büttel in der Regierung auch ja nicht auf Mallorca weilen, während im Wendland mit Gewalt der Atommüll durchgeprügelt werden soll. Die radikale Linke, die BIs und die Umweltverbände mobilisieren ins Wendland. Doch eines soll dieses Mal anders werden. Eine nicht allzu neue Aktionsform soll kollektiv und angekündigt den Castor-Transport unmöglich machen: das Schottern.

Kein Zweifel ist der Widerstand gegen den Castor (neben der antifaschistischen Bewegung) eine der wichtigsten Schulen des kollektiven Widerstandes hierzulande. Abertausende Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten haben im Wendland gelernt, wie hart der Staat zuschlägt, wenn kapitalistische Profitinteressen im Gegensatz zu demokratischen Mehrheiten stehen.

Schon lange ist die Strategie des Widerstands gegen den Castor gut durchdacht: Die Kosten der Transporte durch unsere Aktionen in exorbitante Höhen treiben, um die Regierungen dazu zu zwingen, Teile dieser Kosten auf die mit ohnehin schmalen Profitmargen operierende Atomindustrie abzuwälzen. So soll die Lagerung des Atommülls, mithin die ganze Atomkraft, unrentabel gemacht werden.

The same procedure as every year: Schule des Widerstands

Leider hat sich herausgestellt, dass der Schutz der Stromkonzerne durch die Regierungen ziemlich "widerstandsunelastisch" ist, also nicht direkt vom Ausmaß der Proteste und Aktionen gegen den Castor abhängt. Mit anderen Worten: Der Castor, getrieben von Profitinteressen und Staatsraison, scheint zu rollen, egal, was wir tun, egal, wie viele wir sind. Sind die Proteste gegen den Castor also - wenn die polemische Frage erlaubt ist - nur spannendere und kältere Ostermärsche, Rituale, die ihres strategischen Sinnes lange beraubt, nunmehr nur noch zur Reproduktion immer archaischerer politischer Identitäten taugen?

Nicht ganz. Relativ unabhängig vom ewigen Hin und Her der Parteipolitik gibt es dieses Jahr zwei Faktoren, die die politische Situation und Ausgangslage deutlich verändern. (1) Erstens die immer schärfer geführte Debatte um die energiepolitische Zukunft der BRD. Anders ausgedrückt: die angesichts des Zusammentreffens von Wirtschafts-, sozialer, ökologischer und Ressourcenkrise immer härter werdenden sozialen Kämpfe um Kontrolle über, Zugang zu und den Preis von Energie. Kurz: Energiekämpfe.

Sie erschöpfen sich nicht in den öffentlich weithin bekannten Auseinandersetzungen um die Laufzeiten für Atomkraftwerke und die Atommüllkippen in Gorleben und der Asse. Zu erwähnen wären da auch noch die Pläne der Stromkonzerne und Regierung, 30 neue Kohlekraftwerke zu bauen. Zehn davon sind bereits im Bau, zehn konnten verhindert werden, der Bau weiterer zehn Kraftwerke steht noch in der Schwebe.

Im Zusammenhang mit dem - über das Konzept der Energiesicherheit begründeten - Ausbau der Kohlekraft hierzulande steht der Versuch, in mehreren, vor allem nördlichen (sprich: ärmeren) Bundesländern Pilotprojekte für CCS-, d.h. Kohlenstoffverpressungstechnologie durchzusetzen. Gegen dieses technologische Münchhausenprojekt regt sich, vor allem in Schleswig-Holstein und Brandenburg, mittlerweile entschlossener Widerstand. Vor allem Bäuerinnen und Bauern wollen nicht, dass ihre Felder zu Endlagern für eventuell irgendwann mal aussickerndes Kohlendioxid gemacht werden.

Auch im wachsenden Feld der erneuerbaren Energien entstehen soziale Kämpfe. In einem Sektor, dessen gewerkschaftlicher Organisierungsgrad drastisch unter dem anderer Energieformen liegt, hat sich die IG Metall nun entschieden, eine Organizingkampagne zu starten, um die arbeitsrechtlich sowie gesundheitlich oft sehr prekäre Lage der ArbeiterInnen zu verbessern. Ziel ist es, einen Fuß in die Tür dieses Kernsektors zu bekommen. Dabei zeigt gerade dieser Sektor die Komplexität der Idee von Energiekämpfen: Vor allem in wohlhabenden Landesteilen bildet sich Widerstand gegen den Bau von Windrädern in typisch-bürgerlicher Sankt-Florian-Manier.

Soziale Kämpfe auf dem Feld erneuerbarer Energie

Energiekämpfe sind nicht notwendigerweise progressiv oder gar emanzipatorisch. Sie sind jedoch Teil der momentan stattfindenden Umstrukturierung des Energiesektors. Und: Sie bieten den sozialen Bewegungen die Eingriffschance, auf die wir seit Langem warten. Dies auch, weil wir im Moment an einem energiepolitischen Scheidepunkt stehen.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, eingesetzt von der Bundesregierung, also nicht des Ökoradikalismus verdächtig, hat klar gemacht: Eine vollständige Umstellung der Energiewirtschaft auf erneuerbare Energie bis 2050 kann nur funktionieren, wenn jetzt der Ausstieg aus Atom und Kohle forciert und von Grundlastung auf flexiblere Systeme umgestellt wird. "Für die Übergangszeit sind weder Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke noch neue Kohlekraftwerke erforderlich. Die Brücke zu den erneuerbaren Energien steht bereits." Die Wahl ist einfach: entweder jetzt raus aus Kohle und Atom - oder der Absprung ist für die nahe Zukunft erst einmal verbaut.

Natürlich reicht die bloße Existenz eines "Möglichkeitsfensters" noch nicht aus, um etwas bewirken zu können - es muss auch die richtigen Mittel geben. Und hier kommen wir zu einem wirklich inspirierenden, ermutigenden Lichtblick der letzten Jahre, ein Lichtblick, der vor allem mit den Ereignissen in Heiligendamm und in Dresden in Verbindung gebracht wird.

Zweierlei konnte in den Mobilisierungsprozessen zu diesen Aktionen beobachtet werden. Erstens, dass Einzelpersonen, Gruppen, ja ganze politische Spektren mehr und mehr bereit sind, neue Bündnisse zu schmieden: zwischen radikalen und bürgerlichen, zwischen gewaltfreien und militanten Milieus. Bündnisse, die auf gegenseitigem Vertrauen basieren, auf der Fähigkeit, aus der eigenen Komfortzone herauszugehen und gemeinsam Neues zu versuchen.

Zweitens wurde es geschafft, in und durch diese Bündnisse, zivilen Ungehorsam, kollektiven Regelbruch zu einer Aktionsform zu machen, die auf immer breitere gesellschaftliche Akzeptanz stößt. Das ist neu. Der Verweis auf den überraschenden und ermutigenden Erfolg der Proteste gegen Stuttgart 21 ist offensichtlich.

Ohne Gefahr zu laufen, allzu sehr des Fabulierens beschuldigt zu werden, könnte also eine Geschichte erzählt werden, in der der Eskalation der sozialen Auseinandersetzung von oben, eine langsame Eskalation von unten entgegensteht - von Heiligendamm über Dresden nach Stuttgart. In diesem Sinne hat der Bewegungsforscher Dieter Rucht, mit Sicherheit kein Linksradikaler, eher ein in bürgerlichen Spektren respektierter Beobachter sozialer Kämpfe, kürzlich formuliert: "Die Sitzblockade ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen."

Wenn aber der zivile Ungehorsam tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, dann darf sich eine radikale Linke damit nicht zufriedengeben. Sie muss aktiv daran arbeiten, die Grenzen dieser Aktionsform zu verschieben. Sie muss dafür sorgen, dass entschlossenere und weitergehende Eingriffe in die Regeln des kapitalistischen Alltagswahnsinns gesellschaftlich akzeptiert werden. Die tief im Alltagsverstand der bundesdeutschen Gesellschaft verankerte Anti-Atombewegung ist für dieses Ausweiten von Grenzen der richtige Ort, was uns zur Kampagne Castor? Schottern! bringt.

Mittel und Möglichkeiten den Castor zu verhindern

Zunächst einmal ist das "Schottern", also das Untergraben des Gleisbettes, mitnichten eine neue Aktionsform - sie wird schon seit Jahrzehnten vor allem von autonomen Kleingruppen im Wendland praktiziert und erfreut sich dort eines hohen Beliebtheits- und Legitimitätsgrades. Neu an der diesjährigen Kampagne ist, dass wir ganz offen zu diesem kollektiven Regelbruch aufrufen, weil wir ihn für notwendig, legitim und - das ist der Knackpunkt - dieses Jahr für möglich halten.

Angesichts der eskalierenden Energiekämpfe, der vergrößerten Erfahrung mit massenhaftem zivilem Ungehorsam sowie der offensichtlichen politischen Korruption der Bundesregierung ist dieses Jahr der Moment, an dem wir als soziale Bewegungen en masse vom "einfachen" Hinsetzen zum aktiven Eingriff in die Infrastruktur des Atomwahnsinns übergehen sollten. Wenn alles gut läuft, dann werden wir an den Aktionstagen mehrere tausend Menschen sein, die gemeinsam versuchen werden, um die Absperrungen herum auf die Schienenwege zu kommen, um dort die Gleise zu schottern - ohne dass von uns eine Eskalation ausgeht und ohne dass wir auf Eskalationen der Polizei reagieren. Wenn wir es schaffen, mehrere zehn Meter Gleis zu unterhöhlen, kann der Castor dort nicht fahren, bis sie repariert sind. Und das kann dauern.

Bleibt die nicht unwichtige Frage der Repression. Mit Sicherheit wird der Staat sich nicht so einfach das Heft aus der Hand nehmen lassen. Die Kampagne muss möglicherweise im Vorfeld, während der Aktion oder danach mit Repression rechnen. Schon jetzt werden vonseiten der Bundespolizei Drohgebärden gemacht, wird mit möglichen Anklagen wegen "Schweren Eingriffs in den Schienenverkehr" gedroht. Wir wissen ehrlich gesagt nicht, wie die Polizei und die Justiz genau reagieren werden - aber wir wissen auf jeden Fall, dass die Frage der Repression eine politische Frage ist.

Je mehr wir bei der Aktion sind, je mehr UnterstützerInnen die Absichtserklärung von Castor? Schottern! unterschreiben, je mehr Menschen auf allen Ebenen Druck ausüben, desto weniger verwundbar sind wir alle. In diesem Sinne: im November auf ins Wendland - Castor? Schottern!

Tadzio Müller

Weitere Informationen: www.castor-schottern.org

Anmerkung:

1) Ohne BewegungssympathisantInnen in verschiedenen Parteien allzu sehr auf die Füße treten zu wollen: Was würdet ihr als Regierung machen? Ernst zu nehmende Antworten, die nicht die Jahre 1998-2005 oder Regierungsbeteiligungen in Brandenburg und Berlin ignorieren, bitte an mail-an-castor-schottern@riseup.net