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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 554 / 15.10.2010

Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen

Der neue Regelsatz bringt die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Punkt

Eigentlich hat die geplante Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes um obszön lächerliche fünf Euro niemanden wirklich überrascht. Zu offensichtlich hatte die Bundesregierung bereits ihren politischen Willen dokumentiert, die sozialpolitischen Daumenschrauben, die die rot-grüne Agenda 2010 den Erwerbslosen und ihren Familien angelegt hatte, noch anzuziehen. Zu offensichtlich sind bereits im Vorfeld die Milliardenlöcher in den öffentlichen Haushalten bemüht worden, um "soziale Wohltaten" abzuwehren. Zu schwach sind die politischen Basisbewegungen in diesem Land, um eine andere sozialpolitische Orientierung auf der Straße durchzusetzen. Und zu bequem waren die Schlupflöcher, die das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung gelassen hat.

Dabei haben Frau von der Leyen und ihre Rechenkünstler mit einer geradezu unglaublichen Schamlosigkeit und Unverfrorenheit das Existenzminimum in diesem Land klein geheckselt. Schon die alten Regelsätze waren politisch gesetzte Werte. Und auch jetzt haben die Hofstatistiker des Bundesarbeitsministeriums so gerechnet, dass das herauskam, was herauskommen sollte. Statt der bisherigen unteren 20 Prozent der Einkommenspyramide wurden kurzerhand die ärmsten 15 Prozent als Referenzgröße genommen. Bei einer einigermaßen verfassungsgerichtskonformen Rechnerei mit den bisherigen 20 Prozent wäre man bei ca. 415 Euro im Monat gelandet - wahrlich auch kein Quell des Reichtums, aber offenkundig zuviel für die schwarz-gelben Moralwächter in Berlin. Die haben nämlich Erwerbslosen in einem Aufwasch gleich auch das Geld für Zigaretten und Bier gestrichen. Beides gehört zwar immer noch zu den - völlig legalen - Konsumgütern (nicht nur) ärmerer Bevölkerungsschichten, aber wer Staatsknete bezieht, soll offenbar im Gegenzug mindestens abstinent leben.

Überhaupt hat - wie bisher nahezu jede Regelsatzdiskussion - auch die gegenwärtige Inszenierung viel mit (Zwangs-)Moral zu tun. Von der Leyen und Co werden nicht müde zu betonen, dass die Regelsätze ja auch deswegen nicht steigen brauchen, weil Erwerbslose nicht alimentiert werden sollen. Sie sollen gefälligst arbeiten gehen. In Zeiten, wo selbst Mittelschicht und Facharbeiterschaft permanent mit einem Bein über dem Hartz IV Abgrund schweben, kommt das alte Schröder-Diktum von den Faulenzern eher selten über staatstragende Politikerlippen.

Wer arm ist, braucht Disziplin und nicht etwa mehr Geld

Aber dass Hartz IV irgendwie die falsche Lebens- und Grundeinstellung zu Staat und Gesellschaft ist, wird dennoch immer wieder bemüht. "Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erreicht man nicht durch mehr Geld, sondern durch Aufgaben und Pflichten - auch für Schwache", schreibt Marcus Heilhecker am 27. September in Welt-online und bringt damit den Mainstream in Politik und Gesellschaft auf den Punkt: Wer arm ist, braucht nicht mehr Geld, sondern mehr Disziplin, mehr Leistungsbereitschaft, mehr "selbst bestimmtes Leben mit Arbeit".

In der notorisch grün-tabubrecherischen taz wird darüber debattiert, ob der Staat bestimmen darf, wie Arbeitslose leben. (taz, 2./3.10.10) Dabei ist der staatliche Durchgriff auf die individuelle Lebensplanung und -gestaltung gerade der Sinn und Zweck von Hartz IV, der wahre Kern von "fördern und fordern". Der aktivierende Staat ist von seinem Wesen her ein autoritärer Staat, aktivierende Sozialpolitik eine "Politik der Lebensführung", wie es ihr Vordenker Anthony Giddens ausgedrückt hat. Dass Erwerbslose sich nicht um ihre Kinder kümmern und statt dessen die wenigen Hartz-IV-Kröten lieber versaufen oder in Junk Food stecken, das ist ja spätestens seit der Unterschichtsdiskussion Allgemeingut beim verunsicherten Bürgertum. In der Konsequenz soll der Staat am besten ganz auf Geldleistung verzichten und die Mindestsicherung auf Care-Pakete in Form von Bildungsgutscheinen, Essensmarken und Ähnlichem umstellen. "Der Sozialstaat ist kein dolce vita auf Dauer", weiß einer der taz-Diskutanten und kennt auch die Alternative: "Pobacken zusammenkneifen und 300 Stunden jeden Monat im Außendienst ackern und nur alle zwei Wochen Sonntag frei".

Langzeiterwerbslose werden ausgemustert

Das ist der Standpunkt der produktiven Arbeit in seiner Stammtischversion: Wer den gesellschaftlichen Reichtum schafft, bestimmt über seine Verteilung. Wer hart arbeitet, hat ein Recht auf soziale Sicherheit, wer nicht arbeitet, nicht. Keine Leistung ohne Gegenleistung, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Dass es so etwas wie ein unabdingbares und unbedingtes Grundrecht auf existenzielle Absicherung geben könnte, ist dem Bürgertum genauso fern wie dem Mainstream der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen - auch ein Grund dafür, dass sich SPD und Gewerkschaften angesichts des Hartz IV Skandals so still verhalten. Solidarität mit Erwerbslosen ist ihre Sache genauso wenig wie die von Grünen, FDP und CDU.

Dabei hatten und haben SGB II und Hartz IV nichts mit Arbeitsmarktintegration im Sinne existenzsichernder Arbeitsverhältnisse zu tun. Arbeitsmarkt ist für die allermeisten Hartz-IV-EmpfängerInnen nichts anderes als eine Mischung aus Minijobs, Leiharbeit, befristeten Niedriglohnjobs, Trainingsmaßnahmen und unbezahlter Pflichtarbeit in Form von 1-Euro-Jobs oder Bürgerarbeit. Und das bisschen, was es jetzt noch an aktiver Arbeitsmarktpolitik gibt, wird parallel zu dem offiziellen Verweis auf die Segnungen des Arbeitsmarktes rigoros eingestampft. Von 6 auf 4,7 Mrd. Euro werden die Mittel für konkrete arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im nächsten Jahr gekürzt. Von jetzt insgesamt 68.000 Maßnahmeplätzen in der größten ARGE der Republik, in Hamburg, bleiben Ende 2011 nur noch 41.000 übrig.

Erwerbslose werden zur Zeit zweifach verhöhnt - mit den fünf Euro mehr in den Regelsätzen und dem heuchlerisch-pathetischen Verweis auf ein "selbst bestimmtes Leben in Arbeit", das es schlichtweg nicht gibt. Die eigentliche Botschaft der fünf Euro mehr im Regelsatz ist demnach genauso simpel wie autoritär: Langzeiterwerbslose werden ausgemustert. Aber in Ruhe lassen will man sie auch nicht: Sie sollen nichts kosten und sich anständig benehmen. Nicht trinken, nicht rauchen, fleißig Bücher lesen, statt fernzusehen, lecker biologisch und ausgewogen kochen und die Kinder anständig kleiden und frisieren. Moderne Mittelschichtsidylle, nur ohne Job und mit 364 Euro im Monat - na, wenn das keine Aufgabe ist.

Heiko Lanig