Vom Schnaps zum Bier
Eine Richtungsentscheidung in der deutschen Arbeiterbewegung
Diese ak-Ausgabe trägt die Nummer 555 - eine "Schnapszahl". Was andere zum willkommenen Vorwand für feucht-fröhliche Feierlichkeiten nutzen würden, ist für die ak-Redaktion Anlass zu einer historischen Betrachtung zum Thema Alkohol und Arbeiterbewegung. Unser Autor Ralf Hoffrogge blickt zurück in die Zeit des deutschen Kaiserreichs, als die SPD die "Branntweinpest" bekämpfte und zugleich die Parteikneipe verteidigte: als "Bollwerk der politischen Freiheit des (männlichen) Proletariers ..."
"Der Schnaps, das ist der Feind!" formulierte Karl Kautsky als führender Theoretiker des sozialdemokratischen Marxismus um 1890. Man könnte meinen, damit sei zum Thema Alkohol und Sozialismus alles gesagt. Jedoch liegen die Dinge nicht so einfach: Kautsky war alles andere als ein Unterstützer von Abstinenzforderungen. Er klagte den Schnaps an, verteidigte aber die Parteikneipe als unerlässliche Basis proletarischer Selbstbefreiung.
Dass die Bauernbefreiung im Preußen des Jahres 1811 eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Industrialisierung in Deutschland war, ist allgemein bekannt. Wenig bekannt ist hingegen, dass die Bauern sich mit hohen Summen freikaufen mussten. Dieses Kapital diente den Gutsbesitzern zum Aufbau einer der ersten Industrien auf dem flachen Lande: der Schnapsbrennerei.
Schnaps war also in Deutschland ein wesentliches Schmiermittel der ursprünglichen Akkumulation. Produziert wurde er von den ostelbischen Junkern, die sich von Feudalherren zu Agrarkapitalisten wandelten. Konsumiert wurde er vom Proletariat - vor Ort bei der Feldarbeit oder in der Manufaktur, später auch in den Industriebetrieben der Städte. Dort waren fast unbegrenzte Arbeitstage mit einer Dauer von bis zu 15 Stunden üblich - man fragt sich heute, wie Menschen so etwas überhaupt durchstehen konnten. Die Antwort war der Schnaps. Alkoholkonsum am Arbeitsplatz war Anfang des 19. Jahrhunderts nicht etwa verboten, sondern die Norm. Schnaps betäubte die Sinne und das Zeitgefühl, machte unempfindlich gegen brüllende Hitze beim Stahlkochen oder gegen beißende Kälte bei Außenarbeiten im Winter.
Die Wende: mit Bier gegen den Alkoholismus
Trunkenheit am Arbeitsplatz wurde deshalb von den Unternehmern ausdrücklich gefördert. Alkohol betäubte alle Warnsignale des Körpers und holte das letzte aus den Arbeitenden heraus. Allgemeiner Alkoholismus zerstörte gleichzeitig die proletarische Solidarität und war ein sicheres Verhütungsmittel gegen Streiks. Zudem wurde am Alkohol nicht schlecht verdient, nicht nur die junkerlichen Schnapsbrenner machten ihren Schnitt. Durch den Verkauf am Arbeitsplatz verdienten auch alle anderen Industriebranchen nicht schlecht. Oft wurde der Schnaps sogar direkt als Teil des Lohns ausgegeben oder mit diesem verrechnet.
Angesichts dieser Konstellationen wundert es kaum, dass Anfang des 19. Jahrhunderts über eine regelrechte "Branntweinpest" unter der arbeitenden Bevölkerung geklagt wurde. Ab 1830 entstand daher aus kirchlichen und bürgerlichen Kreisen eine erste Abstinenzbewegung. Deren Appelle richteten sich jedoch stets gegen die Konsumenten, nie gegen die Produzenten des Schnapses. Wegen ihres paternalistischen und staatstragenden Charakters war den ArbeiterInnen diese Bewegung suspekt - sie hatte wenig Wirkung und verlor sich mit der 1848er Revolution.
Erst der Wandel der Produktionsverhältnisse führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer langsamen Umwälzung des alkoholischen Überbaus. Die extensive, auf ungelernter Arbeitskraft basierende Akkumulationswelle hatte sich erschöpft. Eine verarbeitende Industrie fragte zunehmend Facharbeiter für komplexere Aufgaben nach. Die neue Unentbehrlichkeit dieser Facharbeiter erlaubte nicht nur wirksamere Streiks - sie änderte auch das Trinkverhalten. Denn mit dem versoffenen Proletariat alten Stils war die geforderte Produktion auf Weltmarktniveau nicht durchzuführen. Auch die Arbeiter selbst hatten Interesse an einer gewissen Mäßigung: ihre Gesundheit, der Erhalt ihrer eigenen Arbeitsfähigkeit und die politische Organisation verlangten ein Mindestmaß an Nüchternheit.
Im Kampf gegen Branntweinpest und Alkoholismus trat nun ein ungewöhnlicher Bündnispartner auf: das Bier. Die Einführung untergäriger Biere - etwa des bekannten "Pils" - hatten die Beliebtheit dieses Getränkes seit den 1870er Jahren erheblich gesteigert. Bier am Arbeitsplatz erlaubte langsameres Trinken und einen gepflegteren Rausch, der die Koordinationsfähigkeit nicht völlig beeinträchtigte. Biertrinken wurde daher auch vom Chef gern gesehen und der Gerstensaft in Großbetrieben direkt am Arbeitsplatz verkauft - als Alternative zum Schnaps.
Die Veränderung des Trinkverhaltens wurde begünstigt durch Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen. Diese machten es erst möglich, dass sich eine immer größere Schicht von Arbeitenden den langsamen aber teureren Bierrausch leisten konnten. Der billigere Schnapsrausch hielt sich jedoch hartnäckig bei schlecht bezahlten Arbeiten und besonders miesen Arbeitsbedingungen. In Ziegeleien etwa fand ein Potsdamer Gewerbeaufsichtsbeamter noch 1907 einen Schnapskonsum von bis zu zwei Litern am Tag vor.
Erst um 1900 setzten sich Unfallverhütungsvorschriften durch, die das Trinken am Arbeitsplatz untersagten und Schnaps wie Bier gleichermaßen ins Private verbannten. Aus dem Bier auf Arbeit wurde das Feierabendbier.
Kürzere Arbeitstage führten dazu, dass Lohnarbeit und körperliche Notwendigkeiten wie Schlaf und Mahlzeiten den Tag nicht mehr komplett ausfüllten. Erstmals entstand so etwas wie Freizeit - ein vorher völlig unbekanntes Konzept. Wo sollte man diese Zeit verbringen, was tun? Die engen proletarischen Wohnungen, oft mit nur einem Zimmer pro Familie, fielen als Freizeitort aus. Diese Wohnform basierte auf der Idee, dass sich mindestens die männlichen Familienmitglieder den Tag über woanders rumtrieben.
Einen Ort für die ungewohnte Freizeit und gleichzeitig eine Investitionsmöglichkeit für die errungenen Lohnerhöhungen fanden die Arbeiter in der Kneipe. Hier war das proletarische Wohnzimmer, das in den Mietskasernen fehlte. Kneipen dienten daher nicht nur zum Trinken, sondern auch als Versammlungs- und Kommunikationsort. In den "Parteikneipen" tagten Gewerkschaft und SPD, hier wurden Streiks geplant und auch Revolutionen: Die zentrale Vorbesprechung zur Novemberrevolution fand am 2.11.1918 im Hinterzimmer einer Neuköllner Kneipe statt.
Die Kneipe als Geheimbund gegen den Staat
Im Wirtshaus entwickelte sich auch die Gegenkultur der Arbeiter mit ihren zahlreichen Vereinen - sogar die Vereine der Alkoholgegner waren mangels Alternativen gezwungen, ihre Versammlungen hier abzuhalten. Nicht mehr Schnaps, sondern Bier war in der Arbeiterkneipe das Getränk der Wahl: es erlaubte gemütliches Trinken und gleichzeitiges Debattieren.
Die Kneipe war auch der zentrale Zufluchtsort der Arbeiterbewegung in der Zeit des Sozialistengesetzes von 1878 bis 1890, als der Staat sämtliche Arbeiterparteien und auch die Gewerkschaften für illegal erklärte. Die Bewegung überwinterte das Verbot relativ unbeschadet in den Hinterzimmern der Kneipen. Auch unpolitische Arbeiter wurden im Wirtshaus immer wieder in die Debatten mit einbezogen, mussten sich positionieren. Auf Repression folgte auch bei ihnen Radikalisierung. Als das Sozialistengesetz fiel, kehrte die sozialistische Bewegung gestärkt und entschlossen aus der Kneipe ins öffentliche Leben zurück: das Erfurter Programm von 1890 bekannte sich erstmals offen zum Marxismus.
Aufmerksame LeserInnen werden gemerkt haben, dass im vorherigen Abschnitt jedwede weibliche oder geschlechtsneutrale Formulierung fallengelassen wurde. In der Tat waren die Kneipen reine Männerwelten. Die klassische Arbeitsteilung mit dem Arbeiter als Ernährer und der Arbeiterin als Hausfrau hielt sich hartnäckig. Wirtshäuser waren für die Männer Fluchtorte vor der Familie und dem häuslichen Elend, denn trotz erster Lohnerhöhungen und Freizeit lebten viele ProletarierInnen auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch am Existenzminimum.
Obwohl auch Frauen arbeiteten, insbesondere in Krisen und wenn der Lohn des Mannes nicht ausreichte, obwohl auch die "Fabrikmädchen" den Stress am Arbeitsplatz mit Alkohol betäubten und die Branntweinpest nicht immer nur als Beobachterinnen wahrnahmen, blieb ihnen die Institutionalisierung eines gemäßigten Alkoholkonsums in der Kneipe verwehrt.
Es war nicht zuletzt die Verbannung der Frauen aus der Kneipe, die ihnen über Generationen die gleichberechtigte Integration in die Arbeiterbewegung verwehrte. Denn auch wenn die SPD und später andere Arbeiterparteien die Gleichberechtigung in ihren Programmen verankerten und um Wählerinnen warben: Solange sie in der Parteikneipe als dem zentralen Organisationsort der Bewegung ein Fremdkörper waren, blieben Frauen notwendig von den wesentlichen Diskussionen ausgeschlossen. Die Kneipe war also etwas Ambivalentes: sie hielt die Bewegung zusammen, schloss jedoch gleichzeitig die Hälfte der Klasse aus.
Anhaltender und immer wieder aufblühender Elendsalkoholismus beim nachströmenden Landproletariat sowie bei Ungelernten und schlecht Bezahlten führte in den 1880er Jahren zu einer Renaissance der bürgerlichen Abstinenzbewegung. Neue medizinische Einsichten über die Folgen des Alkohols trugen dazu bei, dass sich mit dem "Züricher Aufruf" von 1890 erstmals auch prominente Sozialdemokraten den "Abstinenzlern" und "Temperenzlern" anschlossen. Eine der ersten und zentralen Debatten nach der erneuten Legalisierung der Sozialdemokratie war also die Alkoholfrage: Extremforderungen gingen so weit, nur abstinenten ArbeiterInnen die Mitgliedschaft zu gestatten.
Diese sektiererischen Ideen fanden jedoch den Widerspruch des SPD-Chefideologen Karl Kautsky. Er kritisierte zwar die desaströse Wirkung des Alkoholismus auf die proletarische Solidarität und prangerte insbesondere den Schnaps als Feind der Arbeiterklasse an. Vehement verteidigte er jedoch die Parteikneipe: "Das einzige Bollwerk der politischen Freiheit des Proletariers, das ihm so leicht nicht konfisziert werden kann ist - das Wirtshaus. (...) Gelänge es dagegen der Temperenzlerbewegung (...) die deutschen Arbeiter in Masse zu bewegen, das Wirtshaus zu meiden (...) dann hätten sie erreicht,was dem Sozialistengesetz niemals auch nur annähernd gelungen: der Zusammenhalt des Proletariats wäre gesprengt ..." (1)
Die Abstinenzler blieben eine Randerscheinung
Die Parteimehrheit und insbesondere die Basis in den Wirtshäusern schloss sich Kautsky an. Die Abstinenzler konnten ihre Forderungen nicht durchsetzen und waren gezwungen, sich in einem "Arbeiter-Abstinenten-Bund" gesondert zu organisieren. Den Abstinenzlern gelang es zwar, ihre Themen immer wieder in die sozialistische Bewegung einzubringen, ihre Agitation trug auch zu einer Mäßigung des Trinkverhaltens bei.
Die Forderung nach komplettem Alkoholverzicht als Voraussetzung des Sozialismus wurde jedoch von einer überwältigenden Mehrheit der Arbeiterklasse abgelehnt. Die Zeitschrift Der Abstinente Arbeiter als Zentralorgan der Alkoholgegner hatte um 1913 etwa 5.100 Abonnenten - während gleichzeitig das Fachblatt der sozialdemokratischen Wirte und Kneipenbesitzer Der freie Gastwirt von 11.000 Leuten gelesen wurde. Wenn man sich zu jedem Wirt noch eine volle Kneipe dazudenkt, sind die Mehrheiten klar.
Als die SPD im Jahre 1909 schließlich doch einen allgemeinen Schnapsboykott ausrief, richtete sich dieser nicht gegen Bier und zielte vor allem gegen die ostelbischen Junker und ihre politische Bevorzugung - etwa durch das von Bismarck geschaffene staatliche Branntweinmonopol, mit dem der Staat zum zentralen Schnapshändler wurde und die Preise stützte.
Spätestens hier waren die Fronten klar: Hinter dem Schnaps standen Agrarkapital und der Staat, das Bier hingegen wurde zum Schmiermittel für den rasanten Aufstieg der sozialistischen Bewegung seit den 1870ern. Ihre Krise ab 1914 konnte es jedoch nicht verhindern - hier waren trockenere Widersprüche im Spiel.
Ralf Hoffrogge
Anmerkung:
1) Karl Kautsky: Der Alkoholismus und seine Bekämpfung. In: Die Neue Zeit, Jahrgang 1890 Nr. 30, Seite 107f.
Zur weiteren Lektüre:
Manfred Hübner: Zwischen Alkohol und Abstinenz. Trinksitten und Alkoholfrage im deutschen Proletariat bis 1914. Dietz Verlag, Berlin/DDR 1988