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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 555 / 19.11.2010

Aufgeblättert

Arbeitssoziologie

Die Rezeption der aktuellen Proteste in Frankreich in der kritischen deutschen Öffentlichkeit und Wissenschaft verdeutlicht die nach wie vor großen Lücken in der Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen des Nachbarlandes. Alexander Neumann gelingt zweierlei mit seinem lesenswerten einführenden Büchlein: Am Beispiel der kritischen Arbeitssoziologie - die "gesellschaftliche Organisationsprinzipien des globalen Kapitalismus begreift, aber nicht begleitet" - demonstriert er das Potenzial der Kritischen Theorie als Grundlage einer Analyse von Lohnarbeit und anderer Arbeitsformen im gegenwärtigen Kapitalismus; und er skizziert vor diesem Hintergrund die Entwicklungslinien kritischer Ansätze der Arbeitsforschung in Frankreich seit der Befreiung von der Naziherrschaft. Diese Skizze ist so knapp wie aufschlussreich und lädt zum Lesen der Originaltexte ein: Pierre Naville, Cornelius Castoriadis, Edgar Morin oder Jean-Marie Vincent - alle randständige Figuren im deutschen kritischen Diskurs, die, hier erschlossen, auf weitere Entdeckung warten. Deutlich wird im historischen Verlauf auch, wie das französische intellektuelle Feld strukturiert ist. Die Entwicklung kritischen Denkens in Frankreich kann nur verstanden werden in ihrer sozialen Einbettung in Parteien, Gewerkschaften, verschiedene marxistische Strömungen und ihre Dissidenten, persönliche Eitelkeiten, soziale Bewegungen und Proteste - vom Mai 68 bis zu den Massendemos 2010. In einem Abriss kommt manches zu kurz: Feministische Ansätze werden nicht ausreichend diskutiert, und der Exkurs "Französische Zuständen heute" kann vieles nur andeuten. Zuletzt wird aus dem Titel des Buches leider nicht deutlich: Hier warten (er)kenntnisreiche Einblicke gerade in französische Entwicklungen.

Stefan Kerber-Clasen

Alexander Neumann: Kritische Arbeitssoziologie. Ein Abriss. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2010. 192 Seiten, 10 EUR

Nazis in der Provinz

Ein NS-Sympathisant, der sich für den Jugendfußball, beim Grundschulfest oder gegen eine Müllverbrennungsanlage in der Nachbarschaft einsetzt, wird zumeist erst in zweiter Linie als politischer Ideologe kategorisiert. Auch dadurch lässt sich erklären, dass sich die deutschen Kommunalparlamente nach und nach mit Neonazis füllen. Die NPD verfügt über eine Kommunalpolitische Vereinigung (KPV), der etwa 200 Abgeordnete angehören. Der Frage, wie Neonazis im lokalen Raum wirken, geht der Sammelband "Stadt-Land-Rechts" sehr sorgfältig nach. Zwar können nicht alle Regionen Deutschlands mit einer Analyse ihrer NS-Szene vertreten sein - schmerzlich fehlt Ostwestfalen-Lippe, wo die neue Rechte stark esoterisch auftritt -, aber die Beispiele aus Aachen, Hessen, Brandenburg etc. zeigen Verhältnisse, die sich auf andere Regionen übertragen lassen. Endemann/Dembowski beschreiben die Hegemonialbestrebungen der Rechten in Fußballvereinen - dieser Beitrag ist besonders empfehlenswert, da er anhand einiger Beispiele Verhältnisse aufzeigt, vor denen kein Fußballverein sicher ist: NPD-Funktionäre und andere Aktivisten der äußersten Rechten übernehmen Aufgaben und erweitern so ihre Reputation in der Kommunalpolitik. Oder aber sie gründen eigene Clubs und bemühen sich um eine Zulassung zum Spielbetrieb. In kleineren Orten genügt oft eine Handvoll Neonazis, um am Spielfeldrand als dominant wahrgenommen zu werden. Es fällt positiv auf, dass Herausgeber Friedrich Burschel von der Rosa-Luxemburg-Stiftung kritisch mit der Terminologie seines Gegenstands umgeht. Etliche Initiativen und Zusammenschlüsse bürgerlicher Organisationen, aber auch Antifas streiten noch gegen "Rechtsextremismus", ohne zu erkennen, dass der Begriff in die Totalitarismus-Falle führt. Burschel stellt Materialien bereit, die faktenreich unterfüttern, was jeder, der es wissen will, wissen kann: Kein deutscher Ort ist frei von der Bedrohung durch Neonazis.

Christoph Horst

Friedrich Burschel (Hrsg.): Stadt - Land - Rechts. Brauner Alltag in der deutschen Provinz. Karl-Dietz-Verlag, Berlin 2010, 192 Seiten, 14,90 EUR

Rechtes Ungarn

Paul Lendvai beschäftigt sich in seinem wichtigen Buch "Mein verspieltes Land - Ungarn im Umbruch" mit dem politischen Rechtsruck 2009/2010, der sich Anfang Oktober bei den ungarischen Kommunalwahlen erneut bestätigt hat. Gekonnt verknüpft er die Porträts namhafter Personen der ungarischen Politik mit einzelnen historischen Hintergründen und veranschaulicht dadurch, wie sehr ungarische Politik und Geschichte bereits im 20. Jahrhundert von einzelnen Machtpolitikern bestimmt wurden. So wird deutlich, dass die Erfolge von politischen Führungspersonen wie Victor Orban von der Regierungspartei Fidesz und Gabor Vona von der Neonazi-Partei Jobbik ihre Ursprünge bereits lange vor 1989 haben. Der schon über 80 Jahre alte Lendvai verfügt als Ungarnexperte des Österreichischen Rundfunks und politischer Redakteur des Standard über jahrzehntelang gesammeltes Detailwissen und kann so die Komplexität verschiedener Epochen ungarischer Machtpolitik anschaulich erläutern. Er kannte und kennt die Riege der Ministerpräsidenten, die politischen Spitzenfunktionäre, die hinter ihnen stehen, und die wirtschaftlichen Eliten des Landes. Ebenso bekannt sind ihm die entscheidenden Affären, Skandale, Schlüsselereignisse und politischen Umbrüche. In Ungarn geboren und schon früh nach Österreich ausgewandert, bezeichnet Lendvai seinen Zugang als "doppelte Position" - er sieht sich als Eingeweihten und zugleich als außerhalb des Machtgefüges stehend. Woran es mangelt, ist eine analytische Perspektive, die sich systematisch und kritisch mit Nationalismus, Geschichtspolitik und völkischem Backlash beschäftigt. So kann Lendvai nicht allzu viel dazu beitragen, die von breiten Teilen der Gesellschaft getragenen Attacken gegen Juden, Roma und Linke in Ungarn politisch einzuschätzen und zu erklären.

Claudia Krieg

Robert Lendvai: Mein verspieltes Land - Ungarn im Umbruch. Ecowin Verlag, Salzburg 2010. 272 Seiten, 23,60 EUR

Antisemitismus in der Antike

Es ist in der Wissenschaft wie in der politischen Debatte gleichermaßen umstritten, ob der "traditionelle" Judenhass mit dem erst am Ende des 19. Jahrhunderts geprägten Begriff Antisemitismus sinnvoll zu bezeichnen ist oder nicht. Peter Schäfer, Professor für Judaistik an der Universität Princeton, legt sich hier eindeutig fest: Sein Buch "Judenhass und Judenfurcht" trägt den Untertitel "Die Entstehung des Antisemitismus in der Antike". Darin weist er nach, "dass in der Antike ein Phänomen existierte, das man als ,Judenhass`, , Judenfeindschaft`, ,Antisemitismus`, ,Antijudaismus` bezeichnen kann". Auch in einer anderen, immer wieder heftig umstrittenen Frage bezieht er klar Position: "Antisemitismus geschieht immer im Kopf des Antisemiten, aber er braucht sein Objekt, den Juden oder das Judentum." Bei der Verbreitung des Antisemitismus spielten schon damals Historiker eine wichtige Rolle, etwa der Römer Tacitus. Dessen Darstellung jüdischer Riten und Gebräuche war in einem "durchgehend feindseligen Ton" abgefasst; wie etliche seiner Vorgänger unterstellt Tacitus den Juden Hass auf Nicht-Juden - "treuen Zusammenhalt" würden sie nur untereinander kennen. Durch Tacitus wurden diese Stereotype zum "Allgemeingut der abendländischen ,Kultur`", schreibt Schäfer. Seine Studie mag auf den ersten Blick speziell erscheinen. Geschrieben hat er sie in der zweifellos zutreffenden "Überzeugung, dass wir die Erben der Antike sind, im guten wie im schlechten Sinne."

Js.

Peter Schäfer: Judenhass und Judenfurcht. Die Entstehung des Antisemitismus in der Antike. Verlag der Weltreligionen, Berlin 2010. 443 Seiten, 26,80 EUR