Im Rausch der Tiefsee
Sarah Zierul zeigt, wie eine weitere Naturgrenze niedergerissen wird
Im September berichtete die FAZ von der Konferenz "Die Arktis: Territorium des Dialogs". Dort versuchte Wladimir Putin die Sorgen zu zerstreuen, es könne bei der Ausbeutung der in der arktischen Tiefsee vermuteten Erdöl- und Gasvorkommen zu Konflikten zwischen den Anrainerstaaten kommen. Ganz im Gegenteil werde man im "gemeinsamen arktischen Haus" sämtliche Probleme partnerschaftlich mit Verhandlungen und unter Beachtung des Völkerrechts lösen. Hat die Menschheit etwa zu einer konfliktlosen Aktionsgesellschaft zur gemeinsamen und schonenden Ausbeutung der Natur zusammengefunden?
Gegen solch lupenreines Wortgeklingel erhebt die Journalistin Sarah Zierul mit ihrem neuen Buch über den "Kampf um die Tiefsee" Einspruch. Wahr an den Worten Putins ist immerhin, dass nicht allein am Boden der Arktis "riesige Vorräte an Erdöl und Gas liegen könnten" (S. 187). Wahr überdies ist, dass "die Tiefsee ... vermutlich die größte Schatzkammer der Erde" (S. 10) ist.
Neben fossilen Energieträgern findet man in den Meerestiefen unterhalb von 1.000 Metern zahlreiche Metalle, die an Land immer knapper und für die Produktion von Mobiltelefonen, Flachbildschirmen etc. dringend benötigt werden. Überdies veranlasst ein beeindruckender Bestand an Bakterien und Mikroben die Pharmaindustrie bereits zu abenteuerlichen Heilsversprechen. So ist "am Meeresboden ... ein Goldrausch ausgebrochen wie einst im Wilden Westen. Jeder greift sich, was er kriegen kann - ohne Rücksicht auf Regeln, Grenzen oder die Umwelt" (S. 11).
Die Weichen sind allseits auf Ausbeutung der Meere gestellt. Die Industrie legt dabei ein Tempo vor, dem die Erforschung der Tiefsee kaum nachkommen kann. Das ist insofern dramatisch, als das Wissen über die Region keineswegs langt, um verlässliche Aussagen über mögliche ökologische Konsequenzen der Eroberung treffen zu können. Es "gelten gerade einmal ein bis zwei Prozent der Tiefsee bisher als erforscht (...) Die Forscher können nur aufgrund von Hochrechnungen mutmaßen, was in den unbekannten Regionen noch auf sie wartet" (S. 21).
Im Unklaren bleibt, welche fremdartigen Lebewesen überhaupt wie auf die Eingriffe reagieren und wie sich die Ökosysteme wieder erholen würden. Dabei spielt das Meer eine zentrale Rolle: "Es speichert die Wärme der Sonne. Es nimmt Abfallstoffe und giftige Gase aus der Luft, den Flüssen und dem Regen auf. Es produziert Sauerstoff. Es ist das größte Wasserfilterungssystem des Planeten. Und es beeinflusst das Klima" (S. 92).
Auch mit einer in Aussicht gestellten partnerschaftlichen Ausbeutung der Meere ist es nicht allzu weit her. Denn seit in der Tiefsee mehr und mehr Rohstoffe entdeckt werden, stellt sich an immer neuen Orten die Frage, wem das bislang offene Meer eigentlich gehört. "Jahrhunderte lang galt auf See die ,Freiheit der Meere`. Keine Grenze oder Gesetze schränkten Seefahrer oder Fischer auf den Weltmeeren ein" (S. 191). Tempi passati.
Wohin die weithin offenen Eigentumsfragen führen, erläutert Zierul am Beispiel eines Konflikts zwischen Japan und Südkorea. 2006 nahm ein japanisches Forschungsschiff Kurs auf die Takeshina-Inselgruppe. Noch bevor die JapanerInnen ihre Untersuchungen der Erdgasvorkommen beginnen konnten, wurde ihr Schiff von koreanischen Küstenschutzbooten, mit Kanonen und Maschinengewehren aufgestattet, abgedrängt. Kurz drauf versetzte Japan seinen Küstenschutz in Alarm, da sich ein koreanisches Forschungsschiff der Inselgruppe näherte. Auch an Land führte der Vorfall zu eskalierendem Tumult.
Der Fall Japans ist nur einer von vielen, den Zierul diskutiert. Zwar wendet sie ein, dass es inzwischen Behörden gebe, die die Hoheitsrechte auf See klären sollen; indes sind diese heillos überfordert, was "angesichts der politischen Brisanz ihrer Aufgabe, der steigenden Zahl von Konfliktfällen und dramatischen Auseinandersetzungen auf See ... schon fast an Fahrlässigkeit grenzt" (S. 207). Kaum bekannt ist, dass auch die Bundesrepublik den Griff nach der Tiefsee übt. Seit Sommer 2006 soll im Pazifik im Auftrag der Bundesregierung nach wertvollen Rohstoffen gesucht werden.
Grenzenlos die Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende. Wie sehr bei der Verwirklichung dieses Traumes, dessen Vollendung mit der Eroberung der Tiefsee ein weiteres Stück näher rückt, der Planet und seine BewohnerInnen übergangen, ja zerstört wurden, darauf haben andere bereits hingewiesen. Zierul schließt daran an. Sie zeigt, wie gegenwärtig eine weitere Naturgrenze niedergerissen wird. Der Meeresboden wird "derzeit einer kleinen Gruppe von Entscheidern aus Industrie, Politik und Wissenschaft überlassen. Dabei muss sich eine breite Öffentlichkeit dieses Themas annehmen" (S. 335).
Damit aber ist zugleich eine Schwachstelle des Buchs benannt: Was die Arbeit trägt, ist ein kaum erschütterter Glaube an Bestand und Vorteil der freien Konkurrenz, in die sich jene kritische Öffentlichkeit einmischen möge, um das Zerstörungswerk der "Entscheider" abzuwenden. Eine grundsätzliche Kritik des nationalökonomischen Zustandes fehlt. Dessen ungeachtet hat Zierul ein überaus anschauliches und lehrreiches Buch über die spätkapitalistische Industriegesellschaft und die Beherrschung der Natur vorgelegt.
Dirk Lehmann
Sarah Zierul: Der Kampf um die Tiefsee. Wettlauf um die Rohstoffe der Erde. Hoffmann und Campe, Hamburg 2010. 352 S., 22 EUR