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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 555 / 19.11.2010

Es ist ein Junge

Interview über Geschlechterverhältnisse im Internet und feministisches Bloggen

Aus feministischen Perspektiven wurden inzwischen viele gesellschaftliche Institutionen und Verhältnisse kritisiert. Nichts, was Gesellschaft ausmacht, ist geschlechtsneutral - auch nicht das Internet und die dort stattfindende Praxis. Auch dort existieren und reproduzieren sich Herrschaftsverhältnisse und ein ungleicher Zugang zu Ressourcen und Öffentlichkeit. Während das Web 2.0 langsam in die Jahre kommt, beginnen FeministInnen seit kurzem verstärkt genau das zum Thema zu machen. Über Geschlechterverhältnisse im Netz und feministische Praxis sprach ak mit Silke Meyer, Linux-Aktivistin, Bloggerin, die derzeit im Rahmen von reflect! eine Veranstaltungsreihe zum Thema Überwachung mitorganisiert.

ak: Ist das Internet nur Abbild der herrschenden Geschlechterverhältnisse?

Silke Meyer: Die Frage ist schwer zu beantworten. Bereits die Wahrnehmungen der herrschenden Geschlechterverhältnisse gehen sehr weit auseinander. Viele Menschen sehen gar nicht, dass Geschlecht die Gesellschaft mitstrukturiert. Das kann z.B. mit Privilegien zusammenhängen, die dazu führen, dass Menschen Diskriminierungen nicht wahrnehmen, die sie selbst nicht erfahren. Und auch bei der Frage nach Geschlechterverhältnissen im Internet spielt die eigene Position eine große Rolle. Und "das" Internet, über das ich sprechen kann, ist ein Ausschnitt von deutschsprachigen Websites, Foren etc. Zudem lassen sich das Internet und die "reale Welt" nicht streng voneinander trennen - sie sind eine Welt. Am deutlichsten ist das vielleicht in technikaffinen Zusammenhängen wie der Piratenpartei zu sehen, die sich ja in diesem Jahr einen zweifelhaften Ruf erarbeitet hat.

Was sind Deine Erfahrungen im Netz?

Wenn ich Blogs oder Diskussionen in Foren lese, dann fällt mir vor allem der Umgangston auf, der viel rabiater als bei face-to-face-Begegnungen zwischen unbekannten Menschen ist. Doch wenn es in irgendeiner Form um das Thema Geschlecht geht, dann potenzieren sich Ton und Wortwahl. In den Kommentaren feministischer Blogs kommt es ständig zu verbalen Übergriffen. Unsachliche Kommentare sind eine Form von Belästigung, Cyber-Stalking in Form von anonymisierten Bedrohungsmails oder gezielte Identitätsdiebstähle eine andere.

Wenn ich Derartiges lese oder höre, dann bin ich nicht nur fassungslos, sondern es verfestigt sich das Bild, dass viele dort als Männer auftretende Personen im Netz keine Hemmungen davor haben, menschenverachtend aufzutreten und ihren Sex- und Gewaltphantasien freien Lauf zu lassen. Sie setzen dies auch gezielt gegen feministische Bloggerinnen ein, um sie einzuschüchtern. Dass diese besonders verachtenden Interaktionen nicht von Angesicht zu Angesicht stattfinden, sondern eben durch Technologien übermittelt werden, senkt bei vielen die Hemmschwelle.

Auch Homophobie gibt es im Internet: Die hat sich bereits in Seitenlöschungen bei Myspace gezeigt. In Wikipedia gab es Diskussionen zur "Relevanz" bestimmter Seiten zum Thema Gender, die sich auch so lesen lassen, dass "Abweichendes" als irrelevant wegzensiert werden könnte. Engagierte Leute haben das schließlich verhindern können. (1) Daran zeigt sich aber, dass es aufgrund des herben Gegenwinds nicht nur schwer ist, bestimmte Inhalte im Internet zu veröffentlichen, sondern auch, sie dort zu erhalten.

Also ist die gern verbreitete Vorstellung, im Netz würden Geschlechtsidentitäten liquide, nicht weniger als ein schlechter Scherz?

Ich schätze, es gibt auch Bereiche im Netz, wo diese Vorstellung stimmen kann, z.B. bei Online-Rollenspielen. Und klar: Ich weiß nicht sicher, wer diejenigen sind, die sich durch aggressive sexistische oder homophobe Äußerungen hervortun. Aber in vielen Blogs, in denen Politik und gesellschaftliche Machtverhältnisse aus feministischen Perspektiven thematisiert werden, greifen Kommentierende auf Geschlechterkategorien und -stereotype zurück. So wird es mühsam, beim Thema zu bleiben und für viele einfach, sich nicht selbst zu hinterfragen.

Ein anderes Beispiel für die Dominanz dieser Kategorien: In ziemlich vielen Portalen oder sozialen Netzwerken ist es nur möglich, unter Angabe des Geschlechtes einen Account anzulegen. Da stehen gewöhnlich nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung, womit der Realität nicht entsprochen wird. Ausschlüsse, die durch dieses Schema eh alltäglich produziert werden, spiegeln sich in der Software wieder. Die Antwort auf die Frage männlich oder weiblich wird so zur Teilnahmebedingung. Wozu?

Welche Initiativen gibt es, die Verhältnisse im Netz zu verändern?

Eine grundsätzliche Aufmerksamkeit für das Geschlechterthema gibt es seit Längerem. Zum Beispiel höre ich seit Jahren auf größeren Linux-Veranstaltungen die Feststellung, dass so wenig Frauen in den Communities aktiv sind. Es gab auch Vorträge, meist von Frauen, die sich mit Erklärungen dieses Ungleichgewichts befassten oder gezielt Frauen ermutigen wollten, sich mehr einzumischen. 2010 gab es mindestens zwei große Ereignisse, die letztlich zu mehr Vernetzung geführt haben: Die Piratenpartei hat versucht, eine Thematisierung von Geschlechterverhältnissen abzuschmettern, die von Lena Simon eingebracht wurde. Und bei der BloggerInnen-Konferenz re:publica im Sommer 2010 gab es ein Podium mit dem Titel "Das andere Geschlecht. Sexismus im Internet", das auch live im Netz übertragen wurde. Währenddessen haben Trolle (2) über den parallel laufenden Livechat eine sexistische Hasstirade losgelassen.

Zwei Initiatorinnen haben daraufhin im Juni ein Vernetzungstreffen "Frauen* im Net" organisiert. (3) Der * bei Frauen entstand bei der Suche nach einem Namen für das Netzwerk und ist ein Platzhalter. Er bedeutet, dass nicht ausschließlich Frauen eingeladen sind, sondern interessierte Frauen, Männer, Menschen, die sich diesen Kategorien nicht oder nicht eindeutig zuordnen, Frauenorganisationen und -netzwerke, FeministInnen und GenderaktivistInnen.

Es gibt auch wesentlich ältere online und offline vernetze Gruppen, die sich auf verschiedene Weise mit den Themen Internet und Gender bzw. Technik und Gender auseinandersetzen, z.B. die Mailinglisten der Technixen (4) oder die Facebook-Gruppe "Girls on Web Society" und etliche mehr.

Was waren die Themen des Vernetzungstreffens?

Zunächst stand der Erfahrungsaustausch im Vordergrund. Es ging sehr viel um den Umgang mit Trollen, es gab Austausch über moderierte oder unmoderierte Blogkommentare. Alle teilten den Wunsch nach mehr Vernetzung. Dabei geht es um die Sichtbarkeit von Sprecherpositionen, die im Netz vom oft androzentrischen und meist heteronormativen Mainstream abweichen. Anne Roth hat sich die "deutschen Blogcharts", also die am meisten verlinkten Blogs, daraufhin angesehen. (5) Die so genannten "Alphablogger" verlinken sich gegenseitig, und das machen auch die Beteiligten, um mehr Sichtbarkeit herzustellen.

Soweit ich die Diskussionen mitbekommen habe, ging es z.B. wenig um Strategien, die bei der Online-Allgemeinheit zu einer verbesserten Wahrnehmung führen könnten, zu einer anderen Netzkultur oder einem respektvollen Umgang miteinander. Aber das ist natürlich auch nicht so einfach zu bewerkstelligen.

Die gegenseitige Verlinkung erweckt aber auch den Eindruck, sich in einem selbstreferenziellen Mikrokosmos zu befinden...

Dem stimme ich zu. Das ist aber auch Ausdruck davon, wie schwer es ist, von "Anderen" erstens wahrgenommen und zweitens von ihnen für zitierenswert gehalten zu werden. Dazu müssen sie sich nämlich mit den inhaltlichen Anliegen auseinandersetzen.

Was sind die Themen der Blogerinnen?

Themen gibt es wie Sand am Meer, schon in der kleinen Auswahl an Blogs, die ich wahrnehme. Die Frage lässt sich hier kaum beantworten. Viele queere und feministische BloggerInnen schreiben über aktuelle politische Themen, und das aus vielen verschiedenen Perspektiven. Manche Beiträge sind sehr gesellschaftskritisch, andere sehr persönlich, manche schreiben Poesie. Manche bezeichnen ihre Blogs als "gendersensibel", andere nicht explizit.

Was ich - aber auch aus persönlichem Interesse - viel wahrnehme, sind Auseinandersetzungen mit netzpolischen Themen und Überwachung. Die netzpolitischen Debatten der letzten Zeit sind nicht an der Szene vorbeigezogen, obwohl ja oft behauptet wird, "Frauen*" interessieren sich wenig für Netzpolitik. Im Gegenteil: Die BloggerInnen machen ihre eigenen Meinungen und Sprecherpositionen sehr stark. Es ist nicht ganz fair, hier jetzt einen Artikel zu nennen. Aber mir kommt gerade ein Artikel von Kathrin Ganz in den Sinn, der die Bedeutung netzpolitischer Entscheidungen für marginalisierte Gruppen aus queer-feministischer Perspektive aufzeigt. Kathrin Ganz diskutiert die Bedrohung, die die weitere Einschränkungen der Netzneutralität für marginalisierte Positionen im Internet bedeuten. (6) Sie zeigt, dass ein scheinbar allgemeinpolitisches Thema nicht gender-neutral ist.

Ist auch die männliche Dominanz hinter den Kulissen, d.h. bei der Programmierung, bei Internetdienstleitungen, System-Administration usw. Thema?

So wie ich gendersensible BloggerInnen-Szene mitbekomme, steht die publizistische Präsenz im Vordergrund: Inhalte vermitteln. Was hinter den Kulissen steht, ist vielschichtig: Viele der BloggerInnen entwickeln selbst das Layout ihres Blogs, etliche haben ihren eigenen Webspace irgendwo, eher wenige betreiben z.B. eigene Webserver. Das geht aus den Interviews hervor, die Annina Luzie Schmidt regelmäßig mit BloggerInnen führt. (7) Sie fragt immer auch nach dem Design und dem Hosting der Seiten. In der weiblichen Linux-Szene sieht das anders aus: Es gibt z.B. die Mailinglisten der Technixen, die einerseits Austausch von Adminen über technische Fragen ermöglichen, andererseits auch Raum für gesellschaftliche Themen wie Geschlechterverhältnisse in der IT haben. Vor Jahren waren das sehr aktive Listen, inzwischen ist es dort leider ruhig geworden.

Wie soll es nächstes Jahr weitergehen? Was steht an? Gibt es eine Agenda?

Es entstand die konkrete Idee, ein deutschsprachiges Online-Lexikon für Begriffe aus den Bereichen Gender und (Queer-)Feminismus zusammenzustellen. In den USA gibt es ein ähnliches Blog, das zur Orientierung dienen kann (8), auch das gender@wiki (9) ist schon da, an das sich vielleicht anknüpfen ließe. Ich finde das sehr sinnvoll, weil darin verschiedene Verständnisse von Begriffen wie Feminismus vorgestellt werden können. Oft scheinen Leute bereits zu wissen, wer/was/wie ich bin, wenn ich mich als Feministin bezeichne - dabei kann das doch ohne Nachfragen gar nicht sein! Bisher mangelt es aus meiner Perspektive an Zeit und an einer Person, die das Projekt anschiebt. Auf die Diskussionen, die sich dabei ergeben können, bin ich neugierig, denn bei dem offline-Treffen war zu wenig Zeit dafür. Es ist natürlich auch nicht so einfach, Selbstverständnisse oder Verständnisse von Begriffen online zu diskutieren - auch wenn wir diese Diskussion auf einer Mailingliste begonnen haben. Dort wurde schnell deutlich, wie heterogen die Gruppe ist, wie weit unsere politischen und feministischen Anliegen auseinandergehen. Insofern bin ich gespannt, wie es weitergeht und freue mich auch auf weitere offline-Begegnungen, die es auf jeden Fall geben wird.

Interview: Ingo Stützle

Anmerkungen:

1) www.feministisches-institut.de/web2

2) Trolle sind Personen, die im Netz mit absichtlich unsachlichen Beiträgen die KommunikationspartnerInnen provozieren.

3) Website des Treffens: www.frauenim.net. Ein Bericht findet sich auch unter www.emma.de

4) technixen.net

5) www.tinyurl.com/wichtige-blogs

6) www.feministisches-institut.de/netzpolitik

7) girlsblogtoo.blogspot.com

8) finallyfeminism101.wordpress.com

9) www.genderwiki.de