40 Prozent Migrationshintergrund - denkt mal drüber nach
Mark Terkessidis über die Integrationsdebatte
"Deutschland schafft sich ab" (Sarrazin), "Multikulti ist tot" (Seehofer), "absolut gescheitert" (Merkel). In der "Integrations"-Debatte der letzten Wochen wurde kein billiges Klischee über MigrantInnen und Muslime ausgelassen. Also alles wie immer in Deutschland? Oder ist doch etwas anders als früher? Ein Gespräch mit Mark Terkessidis über Multikulti-Kritik, mediale Bedrohungsdiskurse und einen adäquaten Umgang mit der Realität der Einwanderungsgesellschaft.
ak: Das Konzept Multikulti ist in den letzten Wochen mal wieder für gescheitert erklärt worden. Das müsste dich doch freuen.
Mark Terkessidis: 15 Jahre zu spät. Es gab ja schon in den 1990ern eine linke Kritik, die dem Multikulturalismus vorgeworfen hat, eine Mehrheitsperspektive zu formulieren und ein instrumentelles Verhältnis zu Leuten mit Migrationshintergrund zu haben. Böse gesagt: Leute sind willkommen, wenn sie essbare Differenzen produzieren. Zudem hat das Konzept Menschen oft auf ihre klischeehaft betrachtete Herkunft reduziert. "Bitte bringen Sie sich als Chinese mit Ihrer spezifisch chinesischen Sichtweise ein" - nicht als Individuum mit eigenen Wünschen und Problemen. Aber dass sich Horst Seehofer und Angela Merkel jetzt hinstellen und sagen, Multikulti ist gescheitert, hat damit nichts zu tun. Das ist reine Affektmodulation, Feel-Good für die Konservativen in der Partei kurz vor den Parteitagen.
Siehst du Unterschiede zu früheren Debatten?
Ja und nein. Thematisch gesehen ist es immer das Gleiche. Seit den 1970ern reden wir über Sprachprobleme, patriarchale Familienverhältnisse, Gettobildung - oder wie es heute heißt: Parallelgesellschaft. Aber es gibt schon Unterschiede. Manche Dinge, die Thilo Sarrazin formuliert hat, werden im politischen Spektrum nicht mehr toleriert. Die Bundesbank wirft ihn raus, was historisch noch nicht vorgekommen ist, der Bundespräsident sagt Nein, die Bundeskanzlerin sagt Nein. Das ist neu.
Früher gehörte es quasi zur Staatsräson der Bundesrepublik, dass die Union den rechten Rand integriert. Da hat Edmund Stoiber gesagt: "Die doppelte Staatsbürgerschaft bedeutet für Deutschland ein größeres Sicherheitsproblem als die RAF" - und die zehn Prozent am rechten Rand haben jubiliert. Das funktioniert nicht mehr, diese Leute glauben der Union nicht mehr.
Aus persönlicher Erfahrung kann ich aber sagen, dass vor 15 Jahren die Dinge wie in Beton waren. Die Fiktion lautete: Der Ausländer geht irgendwann wieder nach Hause. Das hat sich seit 1998/2000 geändert. Heute ist schon klar, dass die Personen mit Migrationshintergrund zur deutschen Bevölkerung dazu gehören. Ist auch nicht mehr zu ignorieren, wenn man sich die Städte anschaut: Heilbronn 46 Prozent Migrationshintergrund, Stuttgart, Augsburg oder Frankfurt 40 Prozent, Köln 35. Darauf hat auch Christian Wulff reagiert. Er argumentiert nicht wie früher moralisch, nach dem Motto "wir müssen die armen Muslime tolerieren", sondern er sagt, dass der Islam inzwischen zu Deutschland gehört. Das löst Panik aus bei den Konservativen in der Republik.
Wenn das so ist: Warum wird trotzdem die rassistische Karte gespielt?
Wir haben eine Situation, wo ein Teil des traditionellen Bürgertums das Gefühl hat, an Kontrolle zu verlieren. Um es polemisch zu sagen: Morgen kommen Schwule, Kanaken und Frauen und nehmen mir Jobs, Privilegien und meine Deutungshoheit weg. Dieses traditionelle Milieu ist ganz besonders gegen Antidiskriminierungsregelungen, nicht etwa die oft prekär beschäftigten, soziokulturell modernen Gruppen. Das zeigt eine Untersuchung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Darüber hinaus ist es tatsächlich so, dass die Mittelschicht in Deutschland für alles bezahlen muss. Und es ist nichts Neues, dass die Wut nach unten kanalisiert wird: Der Ruf "Sarrazin hat doch recht" geht ja gegen die Unterschicht insgesamt - das kann Florida-Rolf sein, aber auch die "integrationsverweigernde" Migranten-Familie, die auf "unsere" Kosten "Kopftuchmädchen" produziert. Aber die materielle Grundlage muss man ernst nehmen, denn dass sie bezahlen, das stimmt.
Wenn man die Debatten des Jahres Revue passieren lässt, geben sich die Sündenböcke die Klinke in die Hand. Erst waren es die Hartz-IV-Bezieher, dann die Griechen, nun wieder die Muslime.
Das hängt auch mit der Funktionsweise der Medien zusammen. Gerade in Zeiten, in denen die alten Medien an Bedeutung verlieren, leben sie zunehmend von Angst. Man konzentriert sich auf Gefühle von Bedrohung, da ist es fast egal, wer einen bedroht. Ich bin mir allerdings nicht im Klaren darüber, was es für eine Wirkung hat, wenn man die Angst so inflationär einsetzt. Der ständige Wechsel von Feindbildern entwertet sie gleichzeitig.
Wenn wir es ohnehin nur mit kurzlebigen Angst-Konjunkturen zu tun haben - erübrigt sich dann eine Intervention in die Debatte?
Auf die Medien kannst du nur einwirken, wenn du an diesen Affektspielchen teilnimmst. Du musst dir überlegen, welche Emotionen will ich erzeugen - da geht es doch nicht um Vernunft oder Aufklärung. Wenn man gehört werden will, darf man nicht den Diskurs dekonstruieren wollen, sondern muss auf taktische Weise bösartig sein. Ich bin aber ohnehin der Meinung, dass es beim Thema Migration sinnvoller ist, auf der Ebene der institutionellen Öffnung aktiv zu werden.
Es gab dazu eine interessante Untersuchung: Bei der Tagespresse arbeiten derzeit tatsächlich ein Prozent Journalisten mit Migrationshintergrund. Bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sind es 3-4 Prozent. Das bedeutet auch, dass diese Leute unwidersprochen eine ganz bestimmte Problemsicht haben können. Sie leben in einem total homogenen Umfeld in Berlin-Charlottenburg oder Köln-Junkersdorf, sie haben im Alltag keinen Kontakt zu Leuten mit Migrationshintergrund. Eigentlich sind diese Leute die Parallelgesellschaft. Die leben in einem Bereich, in dem das Bedrohungsszenario - wie in Bayern auf dem Land - genau deswegen so gut wirkt, weil es eine Imagination ist.
Du schlägst eine Politik der "interkulturellen Öffnung" vor. Kannst du das erklären?
Ich glaube, entscheidend ist folgendes: Das herrschende Modell der Integration geht immer davon aus, dass bestimmte Gruppen Defizite haben und dass man diese Defizite kompensatorisch beseitigen muss. Interkultur geht davon aus, dass man nicht Gruppen, sondern Individuen vor sich hat, dass diese Individuen Potenziale haben, und dass Institutionen so beschaffen sein müssen, dass diese Individuen ihre Potenziale ausschöpfen können.
Das sind zwei völlig unterschiedliche Modelle. Das Denken der Integration erfindet jede Menge Zusatzeinrichtungen, um die Defizite zu bearbeiten. Sie etabliert eine Helferindustrie, die sich verselbstständigt. Wenn ich eine Sonderschule habe, dann brauche ich auch Leute, die auf die Sonderschule gehen.
Interkultur dagegen zielt darauf ab, den Regelbetrieb zu verändern. Die Schule ist ein gutes Beispiel. Man kann eine Sprachstandsfeststellung machen, die nur Defizite misst, und eine Sonderklasse einrichten, in der diese Defizite kompensiert werden. Oder man sagt, alle Kinder haben unterschiedliche Voraussetzungen, was Sprache betrifft - das betrifft ja keineswegs nur die Kinder mit nichtdeutscher Herkunft - und integriert eine individuelle Förderung in den Regelbetrieb. Das ist pädagogisch kein Problem, wenn ich nicht auf Frontalunterricht setze.
Wer könnte ein solches Projekt einfordern oder durchsetzen?
Momentan fordert sich dieses Projekt gewissermaßen selbst ein. Eine Bewegung in Sachen Migration haben wir leider nicht zur Verfügung. Das macht die Sache nicht ganz einfach. Es bleibt letzten Endes nicht viel mehr, als an die Entscheidungsträger zu appellieren. So traurig es ist, aber im Grunde sagt man denen die ganze Zeit: "40 Prozent Migrationshintergrund. Denkt mal drüber nach."
Auf der anderen Seite merken die das ja auch. Das Deutsche Rote Kreuz zum Beispiel hat kürzlich eine Plakatkampagne gemacht, die explizit Gesichter abbildet, die nicht der deutschen Norm entsprechen. Die haben festgestellt: Im ehrenamtlichen Bereich wird es sonst bald schwierig. Auch die Kommunen sind in Zeiten allgemeiner Finanzknappheit sehr viel stärker auf die Partizipation der Bürger angewiesen. Deshalb vertreten viele Bürgermeister inzwischen eher chancenorientierte Positionen, was Einwanderung betrifft.
Du argumentierst viel mit Innovationspotenzialen, ungenutzten Ressourcen etc. Läufst du da nicht Gefahr, einem Denken in die Hände zu spielen, das Migranten nur da fördert, wo sie "uns" nützen?
Möglicherweise ja. Das nehme ich aber in Kauf. Ein Problem ist doch, dass es in Deutschland eine wahnsinnige Schere gibt zwischen einer Linken, die den Neoliberalismus an jeder Ecke sieht, und den tatsächlichen Strukturen, die eher neofeudal sind. In Deutschland funktioniert alles über soziale und ethnische Herkunft und über das Verbindungsnetzwerk, in das du dadurch eingebettet bist.
Ich bin der Nützlichkeitslogik in dem Moment aufgeschlossen, wo sie tatsächlich dazu führt, Potenziale freizusetzen und nicht bestehende Ausschlüsse festzuschreiben. Selbst dort, wo über Nützlichkeit in Bezug auf Einwanderung diskutiert wird, würde ich sagen: Ja bitte, macht ein transparentes System, das auf Nützlichkeit abzielt. Das ist immer noch besser als ein intransparentes System, das zugleich permanent kleine Türchen öffnet und wieder schließt.
Du sagst, die Institutionen müssen sich ein neues Selbstverständnis geben, das alle einbezieht. Meinst du auch, es bräuchte ein neues Selbstverständnis des Deutschseins?
Ich habe kein besonders enges Verhältnis zum nationalstaatlichen Rahmen, und ich habe auch nicht vor, den Begriff des Deutschseins neu zu definieren. Allerdings lebe ich in Deutschland, und da ist es mir lieber, es gibt ein inklusives Verständnis vom Deutschsein als ein exklusives, wo ich jedes Mal, wenn jemand "wir" sagt, das Gefühl habe, dass ich nicht gemeint bin.
Dem Deutschsein aufgrund der Geschichte einen Sonderstatus zu geben, bestätigt in meinen Augen ex negativo eine ethnische Besonderheit. Diese endlose Beschäftigung mit der Vergangenheit ist ja auch eine Flucht vor der konkreten Gestaltung der Zukunft. Im deutschen linken Antirassismus gab und gibt es ein interessantes Manöver: Viele Aktivisten tun so, als seien sie eigentlich gar keine Deutschen. Sie rechnen sich raus, um Deutschland von außen, aus unbefleckter Position, kritisieren zu können. Das ist in anderen Ländern anders. Die Aufsätze von Jean-Paul Sartre über den Kolonialismus haben mich deshalb so beeindruckt, weil er sich nicht ausgenommen hat. Über einem wichtigen Aufsatz stand etwa: "Wir sind widerlich"; Sartre sagte, "ich als Franzose will nicht, dass wir Teil des kolonialen Geschehens sind". Da stehst du in einer ganz anderen Verantwortung als wenn du einfach so tust, als seiest du eigentlich auch Ausländer oder am Ende noch Jude.
Interview: Jan Ole Arps, Eva Völpel
Mark Terkessidis ist Migrationsforscher, Autor und Journalist. 2006 schrieb er mit Yasemin Karakasoglu einen offenen Brief, der sich mit den antimuslimischen Thesen Necla Keleks auseinandersetzte. (www.zeit.de/2006/06/Petition) Sein dieses Jahr im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch "Interkultur" ist inzwischen auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.