Kein Durchkommen
Frontex und die Europäisierung des Grenzregimes in Europa
Nach einem Hilferuf aus Athen im Oktober will die EU-Agentur Frontex bis Ende November 175 GrenzschützerInnen an die türkische Landesgrenze schicken. Spätestens seit diesem Vorfall wissen zumindest aufmerksame ZeitungsleserInnen, dass es die Ende 2004 vom Rat der Europäischen Union eingerichtete Grenzschutzagentur gibt. Der martialisch klingende Name bezieht sich auf den französischen Begriff für Außengrenze, frontières extérieures, und verweist auf die damalige Hysterie, Europa würde zum Ziel stetig größer werdender Flüchtlings- und Migrantengruppen werden. Andere Vorschläge waren zuvor gescheitert - so die Pläne des damaligen deutschen Innenministers Otto Schily (SPD), Auffanglager in Nordafrika zu errichten oder die Schaffung einer europäischen Grenzschutzpolizei.
Die Agentur mit dem Hauptquartier Warschau nahm 2005 ihre Arbeit auf. In Polens Hauptstadt arbeiten mittlerweile knapp 300 MitarbeiterInnen, die meistens aus dem Grenzschutzapparat eines der EU-Mitgliedsstaaten kommen. Die Agentur verfügt im Jahr 2010 über rund 90 Mio. Euro, die zu zwei Dritteln für operative Vorgänge ausgegeben werden.
Dank des Rechtsstatus als europäische Agentur handelt Frontex relativ autonom. Das Europäische Parlament verfügt im Wesentlichen nur en bloc über das Budget, die eigentliche Kontrolle wird vom "Management Board" ausgeübt, in der neben zwei VertreterInnen der Europäischen Kommission jeweils einE VertreterIn der EU-Mitgliedsstaaten sowie der Mitgliedsstaaten des Schengen-Abkommens (z.B. Schweiz, Norwegen) vertreten sind. Frontex ist als multilaterale Organisation somit weder eine europäische Institution, noch die eines einzelnen Mitgliedsstaates. Sie steht vielmehr für die schrittweise Europäisierung des Grenzregimes in Europa.
Frontex ist in die eigentliche Überwachung und Kontrolle der Grenze kaum involviert - worauf deren Öffentlichkeitsarbeit auch großen Wert legt. Die hoheitliche Aufgabe der Grenzsicherung verbleibt bei den Grenzschutzeinheiten der Mitgliedsstaaten. Frontex ist für die Koordinierung der Zusammenarbeit der Grenzschutzpolizeien der EU-Mitgliedsstaaten zuständig. Zu diesem Zweck sind die verschiedensten Aufgaben in der Agentur zusammengefasst.
Griechenland provoziert Europäisierung der Politik
Durch die Schengener Abkommen und ihre Überführung in EU-Recht im Rahmen des Amsterdamer Vertrags von 1997 wurde die gemeinsame europäische Außengrenze als zu regierender Raum "entdeckt". Frontex ist nun ein Kind dieser Entwicklung, die Agentur ist eine weitere Materialisierung dieser Grenze. In der "Risikoanalyse" sammelt und bewertet Frontex die Geschehnisse an der Außengrenze, um neue Entwicklungen im "border crossing" aufzuspüren und um die Entwicklung der irregulären Migration nach Europa zu prognostizieren. Weiter ist Frontex in der Forschung sowie in der Ausbildung von GrenzschützerInnen in Europa tätig. Vor allem letzteres Element wird in Zukunft verstärkt zu einer Harmonisierung europäischer Grenzschutzpraxis führen. Zu diesem Zweck entwickelt Frontex Lehrgänge und Curricula, die an nationalen und europäischen Polizeiakademien angeboten werden.
Die Hauptaktivität von Frontex liegt jedoch unbestritten im operativen Bereich. Zumeist von Frontex initiiert, finden an den verschiedensten Orten der Außengrenze "Gemeinsame Operationen" statt, in der Grenzschutzeinheiten der Mitgliedsstaaten gemeinsam patrouillieren. Das bekannteste Beispiel ist die Operation Hera, eine der ersten und mittlerweile umfangreichsten Operationen. Ihr Ziel ist es, die irreguläre Migration im Westatlantik, ausgehend von Mauretanien und Senegal, zu unterbinden. Die Operation startete auf den Kanarischen Inseln, wo Frontex durch Befragungen Migrationsrouten identifizierte. Schnell trat jedoch der operative Aspekt in den Vordergrund: Aufgrund bilateraler Abkommen Spaniens war es der Operation möglich, in den Küstengewässern der beiden afrikanischen Länder mit eigenen Schiffen zu patrouillieren und MigrantInnen abzufangen - mittlerweile das ganze Jahr über, was einer effektiven Blockade gleichkommt. Spanische Zeitungen berichten von einem massiven Zurückgang der Überfahrten.
Für illegale Rückschiebungen im Mittelmeer nach Libyen ist Frontext trotz aller Gerüchte nicht verantwortlich. Zwar gab es in exakt diesem Bereich eine Operation von Frontex ("Nautilus"), diese war jedoch wegen der mangelnden Kooperation Libyens und Streitigkeiten zwischen Malta und Italien, wer die abgefangenen MigrantInnen aufzunehmen habe, nicht erfolgreich. Italien kopierte und praktizierte schließlich im Alleingang das westatlantische Modell von Frontex, die Grenzkontrolle vorzuverlagern.
Auch in der Ägäis ist Frontex vermehrt aktiv. Denn Griechenland ist für Flüchtlinge wie MigrantInnen derzeit das Tor gen Europa. 2009 wurden 75 Prozent aller irregulärer MigrantInnen in Griechenland aufgegriffen. Schon Anfang 2010 hatte die Agentur daher die größte Operation in ihrer kurzen Geschichte ausgerufen. Faktisch hat aber auch Frontex keine Änderung der Lage bewirken können. Die Routen der MigrantInnen haben sich lediglich gen Norden, an die griechisch-türkische Landgrenze verlagert. Dort kam es in den letzten Wochen zu massiven irregulären Grenzübertritten, welche das Internierungsregime Griechenlands endgültig zum Zusammenbruch brachte.
Ende Oktober aktivierte dann die Regierung Griechenlands den eingerichteten Krisenmechanismus und forderte Frontext-Schnelleingreiftruppen an, die RABITs (Rapid Border Intervention Teams), um die Überwachung der griechischen Grenzen zu unterstützen. Die RABITs wurden 2007 durch eine EU-Verordnung geschaffen. Sie stellen einen Pool von GrenzschützerInnen, die für "Krisen" zur Verfügung stehen sollen und in kürzester Zeit mobilisierbar sind. Ihnen sind auch Hoheitsrechte übertragen: In RABIT-Operationen eingesetzte GrenzschützerInnen dürfen Schusswaffen tragen und Verhaftungen vornehmen - selbst wenn sie nicht aus dem Einsatzland kommen.
Abschottungspolitik ohne gemeinsame Asylpolitik
Von Seiten der griechischen Regierung hieß es, die RABITs wären notwendig, um die Situation an der Grenze wieder unter Kontrolle zu kriegen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich weniger um eine halb-offizielle Kapitulation vor der Faktizität der Migration handelte, sondern vielmehr um einen Versuch, eine Europäisierung der Situation herbeizuführen. Denn Griechenland steht seit geraumer Zeit eben wegen der geschilderten Umstände in der europäischen Kritik. Doch dabei geht es weniger um humanitäre Standards. Vielmehr hat die faktische Abwesenheit eines Asylwesens das europäische Dublin-II-System an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. (1) Damit kollabiert eine für die zentraleuropäischen Staaten durchaus komfortable Lösung der "Flüchtlingsproblematik", die nun nicht mehr an den geographischen Rand Europas delegiert werden kann. Griechenland drängt seit geraumer Zeit auf eine Reform des Dublin-II-Systems, konnte sich aber nicht gegen die mächtigeren Staaten wie etwa Deutschland, England und die Niederlande durchsetzen. Mit der Aktivierung der RABITs erhöht Griechenland den Druck, eine europäische Flüchtlingspolitik zu formulieren.
Auch an der Landgrenze wird Frontex keinen großen Unterschied machen können. Aufgrund der geographischen und politischen Lage in Griechenland vis-a-vis der Türkei ist die Vorverlagerung der Grenze technisch nicht möglich. Auch weigert sich die Türkei, im Gegensatz zum Senegal und Libyen, Teil des europäischen Systems der Migrationsabschottung zu werden. Aber auch in der "zweiten Linie", so der Grenzschutzjargon für Aktivitäten hinter der Grenze, ist Frontex aktiv und befragt, wie auf den Kanarischen Inseln, inhaftierte MigrantInnen und Flüchtlinge nach deren Herkunft und den benutzten Routen. Bei diesen Befragungen geht es jedoch keineswegs um die Feststellung einer besonderen Schutzbedürftigkeit, vielmehr geht es um die Feststellung von Nationalität, um die Abschiebung vorzubereiten. Auch in diesem Bereich ist Frontex aktiv. Das Mandat der Agentur sieht die Organisation gemeinsamer Abschiebeflüge vor.
Frontex ist nahezu ausschließlich für irreguläre Migration zuständig. Auch in diesem Sinne ist die Agentur Kind der Schengener Abkommen, die sich bekanntermaßen lediglich mit der Personenfreizügigkeit befassen. Damit ist sie zugleich eine Migrationsverhinderungsagentur. Dies wird jedoch nicht ausgesprochen, kann sie sich doch immer auf die Tatsache berufen, dass sie eine Grenzschutzagentur und keine Migrations- oder Asylagentur sei. In dieser Konstellation der Verantwortungslosigkeit fallen zuallererst die Rechte der Schutzsuchenden unter den Tisch, denn genau die Frage nach der Schutzbedürftigkeit wird mit Verweis auf die Zuständigkeit anderer Stellen nie gestellt. Die Existenz von Frontex auf der einen und dem Nichtzustandekommen eines europäischen Asylsystems auf der anderen Seite, wie es seit 1997 mit dem Amsterdamer Vertrag versprochen wird, verweisen auf die Ungleichgewichtung im Prozess der Europäisierung der Migrationspolitik. (2) Diese zeigt sich vor allem in ihrem repressiven Gewand: Die oftmals beschworene Menschenrechtsorientierung europäischer Politik bleibt Rhetorik.
Rechte der Schutzsuchenden fallen unter den Tisch
Unter einer solchen Perspektive ist kaum Besserung zu erwarten, solange die EU-Kommission wie auch die nationalen Innenministerien Frontex einhellig als Erfolgsgeschichte preisen und die Ausweitung der Aktivitäten von Frontex fordern. So soll die Agentur langfristig die Supervision des Schengenprozesses übernehmen und damit quasi zur Aufsichtsbehörde nationaler Grenzschutzinstitutionen werden. Weiter soll die Agentur eigene Ressourcen erwerben können.
Währenddessen arbeitet die Forschungsabteilung von Frontex an einer weiteren Aufrüstung der Grenze. Ein aktueller Vorschlag ist der Einsatz von Drohnen, d.h. ferngesteuerten Flugzeugen, um eine bessere visuelle Überwachung zu garantieren, während mit dem auch von der Europäischen Kommission befürworteten "European Surveillance System" (EUROSUR) die Verknüpfung aller Informationsquellen (Satelliten, Drohnen, Radar etc.) zu einer panoptischen Maschine der Grenzkontrolle geplant wird. Forschungen zum Einsatz von Biometrie bei Grenzkontrollen verweisen auf eine grundlegende Neukonfiguration von Identität, die in Verbindung mit den neu zu erschaffenden Datenbanken (Visadatenbank VIS, 2. Schengener Informations Systems SIS) eine feinere und individualisierte Kontrolle von migrantischer Bevölkerung auch innerhalb des europäischen Territoriums erlauben werden. Auch wenn dies derzeitig größtenteils noch Pläne sind und die technische Umsetzbarkeit nicht alles möglich macht, was gedacht werden kann: Das notwendige Umdenken, welches die Rechte von Flüchtlingen wie MigrantInnen berücksichtigt, hat in der EU noch lange nicht stattgefunden.
Bernd Kasparek
Literatur:
Bernd Kasparek und Sabine Hess: Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Assoziation A, Berlin 2010
Informationsstelle Militarisierung: FRONTEX - Widersprüche im erweiterten Grenzraum. Tübingen 2009, online unter www.imi-online.de
Informationsstelle Militarisierung: Was ist FRONTEX? Tübingen 2008, online unter www.imi-online.de
Anmerkungen:
1) Die Dublin II-Verordnung sieht vor, dass das Land der ersten Einreise für die Durchführung eines Asylantrags zuständig ist. Die in diesem Rahmen durchgesetzten "Dublin II-Abschiebungen" wurden in den letzten Monaten oftmals von zuständigen nationalen wie europäischen Gerichten gestoppt. Siehe http://dublin2.info
2) Selbst solch zaghafte Schritte wie der Aufbau eines europäischen Asylunterstützungsbüros auf Malta scheinen nicht voranzukommen