Politisch profitable Geschichtspolitik
Anmerkungen zur Debatte um die NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amts
Die Debatte um die Studie "Das Amt und die Vergangenheit" dokumentiert den Wandel deutscher Vergangenheitspolitik zum Instrument moralischer Selbstlegitimation. Seit ihrem Erscheinen wurde über das Buch zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes (AA) mit großem öffentlichen Echo diskutiert. Die Rahmenbedingungen für eine Historiographie politischer Großinstitutionen in Deutschland sind andere als vor zwei Jahrzehnten: Die damaligen Täter sind tot. Und je kontrastreicher der Schatten der Vergangenheit gezeichnet wird, in umso hellerem Lichte erscheint die Gegenwart.
"Das Auswärtige Amt war eine verbrecherische Organisation." Dieser Satz war Ende Oktober gleich mehrfach in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zu lesen - jenem Blatt, in dem die alte Garde der deutschen Diplomaten vor Jahren in Anzeigen und Leserbriefen für die Ehre ihrer ehemaligen Nazikollegen fochten. Selbst FAZ-Autor Volker Zastrow gestand, dass, wer diesen Satz vor wenigen Jahren ausgesprochen hätte, sich selbst isoliert habe. Im Jahr 2005 hatte der Erlass des damaligen Außenministers Fischer, alten Nazis keinen ehrenden Nachruf namens des Amtes mehr zu gewähren einen Sturm der Entrüstung unter ehemaligen Diplomaten ausgelöst, der sich in einer großen Todesanzeige für den ehemaligen SS-Untersturmführer und nachmaligen Botschafter der Bundesrepublik in Japan, Franz Krapf, niederschlug.
Ausweislich eines FAZ-Artikels vom 5. Februar 2005 erbitterte die ehemaligen Diplomaten besonders die Pauschalität, mit welcher Fischers Erlass eine NSDAP-Mitgliedschaft bewertete. Mit dem Verweis auf die von den Nazis hingerichteten AA-Mitarbeiter und nationalkonservativen Widerständler Adam von Trott zu Solz und Ulrich von Hassel konnten die ehemaligen Diplomaten ihre Empörung moralisch rechtfertigen.
Als im Zuge der öffentlichen Debatte um die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern zum Ende der 1990er Jahre die Rolle deutscher Firmen ins Rampenlicht des Medieninteresses trat, taten deren Chefetagen, was sie knapp ein Jahrzehnt zuvor noch rigoros abgelehnt hatten. Im Jahr 1989 hatte das Hamburger Institut für Sozialforschung jene Firmen mit einer Bitte um Geld für den Erhalt von KZ-Gedenkstätten angeschrieben, die von der Sklavenarbeit der Häftlinge profitiert hatten. Die Zeitschrift konkret dokumentierte damals die Ablehnungschreiben solcher Firmen wie Degussa.
Die Legende vom "mäßigenden Einfluss"
Nun ließen Thyssen und die Deutsche Bank, Kirchen und kommunale Betriebe sukzessive ihre NS-Vergangenheit durch Historikerkommissionen aufarbeiten. Diese bekamen Zugang zu jenen Firmenarchiven, in welche Einsicht zu nehmen zuvor jahrzehntelang linken Historikern wie Karl Heinz Roth, Hans G. Helms oder Eberhard Czichon verwehrt worden war. Am Ende der Forschungsarbeit stand zumeist ein als Buch publizierter Bericht, der einen recht ungeschminkten Einblick in die Verstrickung der Firmen in das System der NS-Zwangsarbeit bot.
Die Enthüllungen wurden nicht schamhaft in abgelegenen Fachzeitschriften publiziert, sondern von den Chefetagen öffentlichkeitswirksam auf Pressekonferenzen vermarktet. Aus dem vormaligen Malus der NS-Verstrickung deutscher Firmen war so binnen weniger Jahre ein moralischer Bonus geworden, auf welchen man in der strategischen Kommunikation der Firmenphilosophie stolz verwies. Der Grund für die Offenheit der Firmen im Umgang mit ihrer NS-Vergangenheit liegt auf der Hand. Zum Zeitpunkt der Inauftraggabe der Forschungsberichte waren alle relevanten handelnden Akteure der NS-Zeit tot, so dass sich aus deren tragender Rolle in der Firmengeschichte in der NS Zeit kein Konfliktpotenzial mit heutigen Geschäftsinteressen mehr ergab.
Im Falle des Auswärtigen Amts nahmen die Dinge einen anderen Lauf. Über Jahrzehnte hatte sich die von der Verteidigung im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess gestrickte Legende gehalten, das AA habe sich um eine Mäßigung der NS-Außenpolitik bemüht. Gegenstand des Verfahrens war die Frage gewesen, in welchem Maße der Staatssekretär des AA, Ernst von Weizsäcker, in die Verbrechen des NS-Regime verstrickt war. Zum Erhalt der Legende, die distinguierten Diplomaten des AA hätten mit dem schmutzigen Geschäft des Judenmordes nichts zu tun gehabt, trug die in der Nachkriegsgesellschaft auf breiten Zuspruch stoßende Metapher bei, die Nazis seien immer die anderen gewesen.
An diesem Bild von den dem Nazismus ablehnend bis widerständig gegenüberstehenden nationalkonservativen Eliten hatten AkteurInnen des "preußisch-protestantisch-publizistischen Komplexes" (Volker Zastrow in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung/FAS vom 31.10.2010) wie die spätere Zeit-Herausgeberin, Marion Gräfin Dönhoff wesentlichen Anteil. Der Vorhang dieses Entlastungsdiskurses zerriss nur stückenweise. War es zunächst der Frankfurter Auschwitz-Prozess der die Mär von den Nazis einerseits und der Gesellschaft andererseits hinterfragte, so folgten in den nächsten Jahrzehnten immer wieder Diskurswellen, welche die Verstrickung aller gesellschaftlichen Sphären in die Praxis des NS-Staates belegten.
Was die NS-Vergangenheit des AA betrifft, so war es keineswegs so, dass diese zuvor nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung gewesen wäre. Hatte Hans Rothfels bereits in den 1960er Jahre eine Sammlung von Dokumenten zur sogenannten Judenpolitik des AA publiziert, folgte der Historiker Hans Jürgen Döscher 1987 mit einer Untersuchung über das Auswärtige Amt in den Jahren 1933 bis 1945. Dass diese ebenso wie sein 2005 erschienenes Buch "Seilschaften - Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amts" nicht auf einer allumfassenden Auswertung der Archivquellen des AA basierte, ist nicht dem Autor, sondern dem politischen Archiv des AA anzulasten, das Personalakten als "nicht vorlagefähig" deklarierte und somit unter Verschluss hielt. Mit Fug und Recht kann man Döschers Arbeiten als gewichtige Vorlagen für die jetzt erschienene Studie bezeichnen.
"... aus dem Zwielicht herausgearbeitet." (Fischer)
Dass die Studie jene biographisch an die Geschehnisse gebundenen Zeitzeugen wie Richard von Weizsäcker in ihrer Apologie der damaligen Vorgänge im AA nicht zu erschüttern vermag, ist verständlich. Indes mehren sich aber jene Stimmen, die den Autoren der Studie vorwerfen, ihre Analyse mangele es an einer Binnendifferenzierung der Handlungsspielräume der Akteure des Auswärtigen Amtes in der NS Zeit.
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk warf der Bochumer Historiker Hans Mommsen den Autoren Ignoranz gegenüber den von Hans Rothfels erarbeiteten Quellen vor. Neben eklatanten inhaltlichen Fehlern bemängelt Mommsen: "An die Stelle einer sorgfältigen und schrittweisen Analyse der (...) verschiedenen Formen der Verstrickung eine eher pauschale, ideologiegeschichtliche Vorabbewertung vorgenommen wird." (www.dradio.de, 30.11.10) Mommsen konstatiert, die Autoren hätten es nicht für nötig befunden, ihren Text Vertretern der internationalen Holocaustforschung vorzulegen. Mommsens Fazit: Der Band präsentiere keine neuen Materialien und liefere daher keinen substanziellen Erkenntniszugewinn. Mommsens Kritik mag treffen, doch tritt darin wohl ebenso die gekränkte Eitelkeit des Großhistorikers zu Tage, nicht zur Mitwirkung an der Studie gebeten worden zu sein.
Einen Schritt weiter in seiner Kritik geht der Historiker Daniel Koerfer. Der am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin lehrende Enkel des während der NS-Zeit in Ungarn eingesetzten Diplomaten Gerhart Feine kommt im Gespräch mit der FAS zu der Auffassung: "Das ,Amt` ist aber kein Buch der Erklärung und kein Buch der Versöhnung. (...) Es ist ein Buch der Rache. Und die Kommission hat sich dafür instrumentalisieren lassen." (FAS, 28.11.10) Das Subthema des Buches sei die Auslöschung von Biographien auch jener Diplomaten, "die versuchten gegenzusteuern." Dass die Legende von der vorgeblichen Hegemonie jener im AA, die gegengesteuert hätten, über Jahrzehnte das Narrativ des Traditionsverständnisses des Auswärtigen Amtes war, erwähnt Koerfer indes mit keinem Wort.
Anlässlich der Veröffentlichung der Studie im Oktober 2010 hatte Ex-Außenminister Fischer in einem FAS-Interview die Intention der von ihm verordneten kritischen Selbstbefragung des AA in knappen Sätzen skizziert. Auf die entlastende Behauptung des Interviewers, FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher: "Wir müssen also sagen: Es gab eine Kontinuität, aber sie war eben keine ideologische", antwortet Fischer: "Nein. (...) Die Bundesrepublik Deutschland hat sich aus diesem Zwielicht erfolgreich herausgearbeitet." (FAS, 24.10.10)
Fischer variiert hier ein Motiv des Umgangs mit der NS-Vergangenheit, welches während der rot-grünen Ära zur dominierenden Sichtweise aufstieg: Aus der als erfolgreich angesehenen Bewältigung der NS-Vergangenheit leitete das politische Establishment der Bundesrepublik die Berechtigung ab, nicht nur im Konzert der Großmächte an maßgeblicher Stelle mitzuspielen, sondern zugleich anderen Ländern Lektionen im Umgang mit ihrer Vergangenheit zu erteilen. Dass Fischer um eine Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit aus Anlass der deutschen Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien nicht verlegen war, ist bekannt. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich jene Bußfertigkeit, die sein Nachfolger Westerwelle anlässlich der Vorstellung der Studie an den Tag legte, in einen moralischen Triumphalismus verwandelt, aus welchem sich politisch Kapital schlagen lässt.
Redaktion Antifaschistisches Infoblatt
Der Text erscheint in einer überarbeiteten Fassung in Nummer 89 des Antifaschistisches Infoblatts Berlin.