Klassenspaltung im Protestverhalten
Die große Krise ist zwar in den Köpfen, nicht aber in den Beinen angekommen
Wieder ein "heißer Herbst", der keiner war. Die Gewerkschaften, sagt Linkenvize Katja Kipping, hätten die Proteste verschlafen. Im DGB fragen sich die Kritischen, wo bei den Demonstrationen eigentlich die Mitglieder der Linkspartei waren. Andere veranstalten jetzt Kongresse, auf denen man wieder einmal fragt, wie "radikale Kapitalismuskritik praktisch werden" könnte. Das Berliner Krisenbündnis geht mit der Aufforderung selbstkritischer Analyse in einen längeren politischen Winter. Und unter den AktivistInnen der Erwerbslosenbewegung macht sich Ratlosigkeit breit.
Man kennt das. Es hat auch in der Vergangenheit immer wieder Mobilisierungen gegeben, bei denen die Beteiligten nach dem großen Tag X enttäuscht vor den Trümmern ihrer Erwartungen standen. Aber Ende 2010 kommt noch einiges dazu: die verstörende Erinnerung daran, dass es in Heiligendamm gegen den G8-Gipfel doch auch besser geklappt hatte, die erklärungsbedürftige Tatsache, dass die große Krise seit 2008 vielleicht in den Köpfen, aber jedenfalls nicht in den Beinen angekommen ist, und nicht zuletzt die offenkundige Differenz zwischen all den Schlagzeilen über die "neuen Bürgerproteste" und die Leere auf dem Kundgebungsplatz vor dem Brandenburger Tor.
Dort sollte Ende November mit einer Aktion anlässlich der Verabschiedung des Sparhaushalts im Bundestag der "Höhepunkt der Sozialproteste" stattfinden. Das Krisenbündnis hatte aufgerufen, "den Plänen der Regierung einen Strich durch die Rechnung zu machen". Doch was eine Belagerung hatte sein wollen, geriet - gemessen an Castor-Blockade und baden-württembergischen Bahnhofsdemos - zum politischen Reinfall. "In Berlin gibt es Hunderttausende, die in Armut leben. Warum bleiben die zu Hause, wenn es um ihre Interessen geht?", fragte sich Martin Behrsing vom Erwerbslosen-Forum. "Und warum gehen so viele Menschen gegen Stuttgart 21 und die Atompolitik auf die Barrikaden?"
Krise des Kapitalismus ohne Krise neoliberaler Hegemonie
Die diesjährigen Proteste im Wendland gehören einerseits zu den gelungensten Massenaktionen der vergangenen Jahre - viele Leute, lange Blockade, positives Echo. Daran hatte der Schottern-Aufruf, eine Strategie der dosierten Radikalisierung, wichtigen Anteil. Aber es bestand eben auch eine "günstige Gelegenheit" zum Erfolg: der medial überpräsente Atomkonflikt, das Reden über eine neue Bewegungslust von jungen Leuten und Mittelschichten, erfolgreiche Vorläuferaktionen wie die bundesweite Menschenkette im Frühjahr, nicht zuletzt eine zumindest vorübergehend gewachsene Grundskepsis gegenüber Großeinsätzen der Polizei nach dem "blutigen Donnerstag" von Stuttgart. Dort hat es ebenfalls über einen längeren Zeitraum eine sich selbst beflügelnde Bewegung gegeben, die von einer weitgehend sympathisierenden medialen Begleitung profitieren konnte und in der es Leute gab, die eine Strategie der dosierten Radikalisierung verfolgten.
Andererseits ist die politische Bearbeitung von Laufzeitverlängerung und Bahnhofskonflikt inzwischen wieder weitgehend auf das parlamentarische Feld beschränkt. Eine Umkehr des schwarz-gelben Atomdeals erscheint auf eine mögliche neue Bundesregierung verwiesen. "Hinter ihr klares Bekenntnis zur Anti-Atom-Bewegung wird die Opposition später nicht mehr zurückfallen können", hatte Ex-attac-Mann Malte Kreutzfeldt schon die massenhafte "Flutung" des Regierungsviertels durch 100.000 AtomkraftgegnerInnen kommentiert. Auch nach der Stuttgarter Schlichtung, die von Heiner Geißler ganz treffend als "eine große Befriedung" bezeichnet worden ist, beschränken viele ihre verbliebenen Hoffnungen auf die Zeit nach der Landtagswahl im März 2011, in der vagen Erwartung, dann könne das Milliardenprojekt unter einen andersfarbigen Regierung und mit einem Volksentscheid doch noch verhindert werden.
Und die Sozialproteste? Die Option einer parlamentarischen Kursänderung weg von Umverteilungspolitik, Sparzwang und sozialer Segmentierung ist noch viel weniger wahrscheinlich als ein neuer Atomausstieg oder ein alternativer Kopfbahnhof. Und einen außerparlamentarischen Erfolg gegen Gesundheitsreform oder Hartz-Reform konnten weder Krisenbündnis noch Gewerkschaften erzielen. Auch wenn ein paar Tausend Menschen an einem graukalten Wochentag besser als nichts sind, muss der Versuch, in einem übergreifenden Bündnis zum Widerstand und für eine weitergehende Alternative zu mobilisieren, als gescheitert betrachtet werden.
Bei der Suche nach Gründen stößt man zuerst auf den ganz anderen Rahmen, in dem sich sozialpolitischer Widerstand bewegt. Das geht schon bei den eher bürokratischen Fragen los. Es gab kaum große Organisationen, die ihr Potenzial (Öffentlichkeitsarbeit, Anreisemanagement etc.) in den Dienst der geplanten Bundestagsbelagerung stellten. Die in diesem Zusammenhang bisher wichtigen Gewerkschaften mobilisierten zu eigenen Veranstaltungen, bei denen die unterschiedlichen Interessenlagen im DGB unübersehbar waren. Regionale Kundgebungen erschienen wie Pflichtveranstaltungen, das "getrennte Marschieren" nannten KollegInnen "gewollt".
Es gab in den vergangenen Wochen auch keine besondere mediale Dynamik bei explizit sozialpolitischen Themen. Hartz IV, Rente mit 67 und Klassenmedizin spielten zwar in der Berichterstattung eine Rolle - aber nicht in der "verdichtenden" Weise wie beim Atomkonflikt (GegnerInnen versus BefürworterInnen) beziehungsweise bei Stuttgart 21 ("Wir hier unten gegen die da oben").
In den Zeitungen konnte man stattdessen schon vorher lesen, dass die sozialen Proteste vergleichsweise klein ausfallen würden. Oder es wurde Frank Bsirskes Mittelfinger-Pose skandalisiert - und damit der Gewerkschaftsvorsitzende als "unseriös" und "pöbelnd" hingestellt, der noch am vehementesten aufgetreten war und dessen Plädoyer für ein politisches Streikrecht sogar die Kanzlerin zu einer Reaktion nötigte. Und schließlich der "Terror"-Hype: Merkels "Herbst der Entscheidungen" verschwand just zu jenem Zeitpunkt hinter allgegenwärtigen Rucksackwarnungen, als die Bundestagsbelagerung dagegen ein Zeichen setzen wollte.
Breite Bündnisse gegen Sparpakete sind gescheitert
Vor allem aber haben die Linken mit der "Klassenspaltung im Protestverhalten" zu kämpfen, wie es Wolfgang Kraushaar genannt hat: "Während die Exponenten der Mittelschichten ihre Anliegen immer effektiver einbringen, misslingt das den Unterschichten." Es wurde keine praktische Antwort auf die für Mobilisierungen mit entscheidende Tatsache gefunden, dass Armut zu Vereinzelung und Resignation führt. Über die oft formulierte Forderung hinaus, es müsse eine dezentrale Kultur der erlebten Solidarität, des Lernens im gemeinsamen Protest und so weiter geben, ist bisher nicht allzu viel passiert. Die am stärksten von der Krisenpolitik Betroffenen blieben zu Hause.
Die Anti-AKW-Bewegung und die Proteste gegen Stuttgart 21 haben dagegen zu einem überwiegenden Teil gebildete und sozial besser gestellte Mittelschichten mobilisieren können. Die Stoßrichtung war auch nicht vordergründig sozial begründet, es ging in erster Linie um einen alten Bahnhof und eine drohende Dauerbaustelle, um die Gefahr durch Atomkraftwerke und strahlenden Müll. Den linken Protestfraktionen ist es nur zum Teil gelungen, die klassenpolitische Dimension der Konflikte kenntlich zu machen und auf diese Weise zu einer hegemonialen Verschiebung beizutragen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn ein höherer Stuttgarter Beamter zum ersten Mal in seinem Leben zu einer Demo geht, weil er für den Erhalt von Bäumen ist. Ein Problem ist es, wenn es bei diesem begrenzten Motiv bleibt.
Stattdessen vertiefen sich die Risse zwischen den verschiedenen Gruppen abhängig Beschäftigter, Erwerbsloser und Mittelschichten: weniger Solidarität, mehr aggressive Abgrenzung. Franz Walter hat vor ein paar Wochen auf das Phänomen verwiesen, dass in den Klassenlagen, die man die Mittelschicht nennt, der Zuspruch für Mindestlöhne, eine Bürgerversicherung im Gesundheitswesen, ein früheres Renteneintrittsalter etc. zugenommen hat. "Doch deswegen ist die gesellschaftliche Mitte nicht unmittelbar solidarisch oder links", so Walter.
Eher zeige sich eine wachsende Aggression gegen "die da unten" und gegen MigrantInnen, die sich aus Abstiegsängsten jener Milieus speist, die selbst in den 1960er- und 1970er-Jahren in den Genuss sozialen Aufstiegs gekommen waren und nun angesichts von Krisenfolgen und Sparpaketen den Abstieg fürchten. Verkürzt könnte man sagen: Die gewollte und seit den 1970er-Jahren durchgesetzt Spaltung in In- und Outsider am Arbeitsmarkt lässt die einen neidisch auf die ach so hohen Facharbeiterlöhne bei VW werden - und die anderen nach unten treten, weil sie sich kaum einmal vorzustellen wagen, dass höhere Sozialleistungen, neue Teilhabesysteme und durchgreifende Bildungsoffensiven aus umverteilten Profiten und Vermögen bezahlt werden könnten, statt aus den Abgaben der Arbeitnehmer-Mitte, also ihren Geldbörsen.
Die "Klassenspaltung im Protestverhalten" ist also nicht bloß eine Frage der kulturellen Distanz oder ein Ergebnis der Tatsache, dass die einen zu Hause bleiben müssen, weil nur die anderen das Fahrgeld haben, um zum Protest-Event anzureisen, sondern auch ein Beleg dafür, dass die Krise des Kapitalismus keineswegs mit einer durchgreifenden Krise der "neoliberalen" Hegemonie einhergeht.
Die neueste Heitmeyer-Studie über die bundesrepublikanische Vorurteilsgesellschaft ist nicht nur deshalb interessant, weil dadurch ein aktueller Befund bestätigt wird: die zuletzt durch die Sarrazin-Debatte im wahrsten Sinne angefeuerte Islamfeindlichkeit, sondern mehr noch, weil die materielle und kulturelle Dynamik, die sich im Anwachsen rechtspopulistischer, rassistischer Ansichten niederschlägt, auch das soziale Feld vereisen lässt, auf dem die Linke - die parteiförmige wie die außerparlamentarische - sich bewegt.
Dagegen-Republik und aggressive Abgrenzung
Wenn Wilhelm Heitmeyer und seine KollegInnen von einer "zunehmend rohen Bürgerlichkeit" sprechen, von einer "Radikalisierung der Mitte" nach rechts, vom Umsichgreifen einer "Ideologie der Ungleichwertigkeit" und einer massiven Entsolidarisierung, dann ist damit nicht etwa bloß eine Minderheit gemeint, ein paar ausgerastete Reiche. Der Befund versetzt allen Überlegungen zu einer reformistischen Mehrheit für Umverteilungspolitik, zu Anknüpfungen in der "linken Mitte" und zu neuen Bündnissen einen Kälteschock. Und: Die von Heitmeyer und seinen KollegInnen beschriebene Verschärfung des "semantischen Klassenkampfs" liegt in der Zeit nach dem großen Kladderadatsch, als einerseits so viel von der Krise des Kapitalismus die Rede war und sich andererseits weitgehend ohne Widerstand eine neue Variante neoliberaler Reparaturpolitik durchsetzte, deren Folge unter anderem das Sparpaket ist, gegen das sich der "heiße Herbst" richten sollte.
Mit dem Höhepunkt der Krise 2008 hatte die Linke zwei Fragen verbunden: Gelingt es dem neoliberalen Modell, sich selbst zu erneuern und einen vorübergehend brüchig gewordenen Konsens doch noch zu erhalten? Und: Schafft es die gesellschaftliche Linke, eine Dynamik zu entfachen, die zu einer sozial-ökologischen Verschiebung in den Kräfteverhältnissen führen und womöglich sogar über das Bestehende hinausweisen könnte? Der ausgefallene "heiße Herbst" war die sichtbarste Antwort.
Tom Strohschneider