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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 556 / 17.12.2010

Kritik der Sozialstaatsillusion

Enteignung, Vereinzelung, Befriedung: Was gibt es da zu verteidigen?

In Debatten um soziale Kämpfe schwingt stets die Vorstellung mit, der Sozialstaat sei eine in harten Kämpfen erzielte Errungenschaft der Arbeiterbewegung. Das ist nicht nur historisch falsch, sondern lässt auch jede Einordnung der Sozialstaatlichkeit in die kapitalistische Produktionsweise vermissen. Das war nicht immer so. Die Versuche einer systematischen Kritik des Sozialstaats verschwanden aus der linken Diskussion erst seit Anfang der 1980er Jahre. Christian Frings erinnert an die nach wie vor wichtigen Debatten.

Seinen bedeutendsten Entwicklungsschub erfuhr der Sozialstaat - nicht nur in Deutschland - im Zeichen des "Burgfriedens" während des Ersten Weltkriegs. (1) Und trotz der Zerschlagung der Arbeiterbewegung während des Nationalsozialismus geht auch in dieser Zeit der Ausbau sozialstaatlicher Funktionen weiter. (2)

Mit der Entwicklung des Kriegs zum industriell geführten Massenkrieg und mit der zunehmenden Produktionsmacht der ArbeiterInnen wird ihre Integration Ende des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Problem für die imperialistischen Staaten. Vor dem Klassendruck im Inneren flüchten die Staaten in die Außenpolitik. Für die industrielle Kriegsführung waren sie wiederum auf "Ruhe an der Heimatfront" angewiesen. (3)

Als Wilhelm I. in seiner Thronrede von 1881 ein sozialpolitisches Programm ankündigte, stand ihm der enge Zusammenhang von modernem Krieg und Revolution in Gestalt der Pariser Kommune von 1871 noch deutlich vor Augen. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs waren es zur Verwunderung der Gewerkschaften ausgerechnet die Militärs, die teilweise gegen den Widerstand der Schwerindustrie ihre Einbeziehung in die "Menschenökonomie" des Kriegs und die Einführung von betrieblichen Vertretungsstrukturen - die eigentlichen Vorläufer der heutigen Betriebsräte - durchsetzten.

Die Geburt des Sozialstaats aus Krieg und Imperialismus

Um diesen, der Vorstellung einer historischen "Errungenschaft" widersprechenden Befund begrifflich fassen zu können, muss man von zwei Grundproblemen der kapitalistischen Reproduktion ausgehen: der Transformation von Eigentumslosen in LohnarbeiterInnen und der Transformation ihrer Arbeitskraft in Arbeit. Beides ist problematisch und ergibt sich nicht einfach aus dem "stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse".

Das erste Problem hat Marx knapp so gefasst: "Der Eigentumslose ist mehr geneigt, Vagabund und Räuber und Bettler als Arbeiter zu werden." (MEW 42, 631) Gero Lenhardt und Claus Offe betonen, dass es sich hierbei um ein "Dauerproblem" der Integration in das Lohnarbeitsverhältnis handelt, und entwickeln daraus in systematischer Weise Funktionen der Sozialpolitik. (4) Sozialpolitik muss - zusammen mit staatlicher Repression - das Ausweichen in andere Subsistenzweisen wie Betteln, Stehlen oder Gebrauch von Sozialleistungen verhindern.

Das zweite Transformationsproblem liegt im Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft, ihrer Umwandlung in lebendige Arbeit. In "wertkritischen" und anderen Lesarten des Marx'schen Kapitals wird unterstellt, dieses Problem sei mit dem Verkauf der Ware Arbeitskraft schon gelöst. Marx hingegen betont die Permanenz des Konflikts, weil sich aus dem Kaufvertrag Arbeitskraft gegen Lohn nicht die Menge und Art der zu leistenden Arbeit ergibt: "Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt." (MEW 23, 249)

Diesen Dauerkonflikt nehmen Wolfgang Müller und Christel Neusüß sowie Richard Edwards zum Ausgangspunkt, um wesentliche sozialstaatliche Funktionen zu erklären. (5) Durch Arbeitsschutzgesetzgebung moderiert und verrechtlicht der Staat diesen brisanten Konflikt, der zu ständigen Unterbrechungen im unmittelbaren Produktionsprozess führen kann.

Diese Grundprobleme der widersprüchlichen kapitalistischen Klassengesellschaft kann staatliche Sozialpolitik nie lösen. Sie "hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können". (MEW 23, 118) Durch die rein quantitative Betrachtung von Sozialleistungen werden oft ihre spezifischen Formen übersehen. Deren Analyse zeigt zum einen den repressiven Charakter des Sozialstaats und erklärt zum anderen auf nicht-funktionalistische Weise, wie diese Formen mit den aus dem Produktions- und Zirkulationsprozess selbst hervorgehenden Mystifikationen zusammenhängen.

Umkämpfte Transformation von Arbeitskraft in Arbeit

Als Bismarck das in der Thronrede Angekündigte umzusetzen begann, schwebte ihm keineswegs eine Sozialversicherung vor. Der "Soldat der Arbeit" sollte durch staatliche Zahlungen im Krankheitsfall, Alter oder bei Invalidität unmittelbar an seine Nation gebunden werden. Die Liberalen widersetzten sich diesem "Staatssozialismus" und plädierten für Sozialversicherungen, wie sie ab 1883 eingeführt wurden. Die Arbeiterbewegung sah darin einen Prozess der Enteignung ihrer eigenen Hilfskassen, die eine Form der autonomen Reproduktionssicherung und einen Organisierungsanreiz darstellten.

Allerdings wurde sie durch die Mitverwaltung der Kassen und die Aussicht auf zahlreiche Jobs in der Versicherungsbürokratie entschädigt - eine wichtige Grundlage für die Hinwendung zum Reformismus. Mit der Darstellung eines Teils des "Konsumtionsfonds" (Marx) der ArbeiterInnen als "Versicherung" knüpft diese Einkommensform am Lohnfetisch an: In der Lohnform erscheint der Wert der Ware Arbeitskraft als "Bezahlung der Arbeit" und die Aneignung der unbezahlten Arbeit wird unsichtbar. Marx führte darauf "alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters ..., alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen" zurück. (MEW 23, 562)

Lohn als "Bezahlung der Arbeit" gibt dem Proletarier das Gefühl der Selbstständigkeit, der Selbstreproduktion aus "ehrlicher Arbeit". Dies verlängert sich im "Versicherungsfetisch": kein Almosen, keine Alimentierung durch den Staat in Zeiten der Nicht-Arbeit, sondern Verbrauch der selbst angesparten Beiträge. Mit dem Versicherungsprinzip ist zudem eine unmittelbare Kontrolle und Durchsetzung des lebenslangen Arbeitszwangs gegeben, da die meisten Leistungen von Anwartschaftszeiten und Beitragsdauer abhängen und an die frühere Lohnhöhe gebunden sind. Als "Durchhalte- und Treueprämie" wurde die Altersrente bezeichnet. (6)

Mit dieser versicherungsrechtlichen "Lösung der sozialen Frage" wurde zugleich eine Klassenspaltung verfestigt, die dem Begriff "Arbeiterklasse" einen neuen Sinn gab. Als Antwort auf die Drohung der "gefährlichen Klassen" wollten SozialreformerInnen schon früh eine Klasse "unabhängiger Arbeit" in Abgrenzung zum Pauperismus oder "Lumpenproletariat" herausbilden. (7) Der Sozialstaat zementierte diese Spaltung durch die Entgegensetzung von Fürsorge als gewährtem Almosen und Versicherungsleistung als Rechtsanspruch - der Arbeiter als Bürger.

Was im Rahmen der politischen und gewerkschaftlichen Repräsentation als "Arbeiterklasse" gilt, ist selbst schon durch sozialstaatliche Politik präformiert. Diese befriedende Spaltung knüpft an die Verkehrung des inneren Zusammenhangs in den Fetischformen des Kapitals an. Auf der Oberfläche erscheint das Klassenverhältnis als Nicht-Verhältnis, als gleichgültiges Nebeneinander der verschiedenen Einkommensquellen Kapital, Arbeit und Boden.

Von der Lohnform zum Versicherungsfetisch

Jede Einkommensform - Profit, Lohn, Bodenrente - ist nur auf sich selbst bezogen, wodurch das wesentliche Verhältnis der Ausbeutung und "Zwangsarbeit" verschwindet, was Marx ironisch als "trinitarische Formel" bezeichnete. (MEW 25, 822ff.) Hierin finden wir die systematische Erklärung für alle Formen von Sozialpartnerschaft und "Burgfrieden", auf die sich die Integration der Gewerkschaften in den Staat, ihre Anerkennung als offizielle und staatlich geförderte Repräsentanz "der Arbeiterklasse" stützt.

Diese "Integration" ist keine Aufhebung, sondern eine Verlaufsform der wirklichen Widersprüche - und sie gelingt nicht immer. Für die meisten Kapitalfraktionen in Deutschland, England usw. stellte die Anerkennung der Gewerkschaften nur ein vorübergehendes Zugeständnis im Zeichen des Kriegs dar und blieb trotz der revolutionären Drohung von 1917/18 umstritten - bis hin zum Versuch der gewaltsamen Stilllegung des Klassenkonflikts durch Nationalsozialismus und Faschismus. Weltpolitisch setzte erst die neue Führungsrolle der USA einen "globalisierten New Deal" durch, der die Anerkennung der "verantwortungsvollen" Elemente der Arbeiterbewegung nach der Unterdrückung der "unverantwortlichen" Elemente in den Industriestaaten des Nordens verallgemeinerte.

Neben diesem politisch-repressiven Selektionsprozess in der Nachkriegszeit sind die sozialpolitischen Funktionen des Arbeitsschutzes und der Sozialversicherung dauerhaft erforderlich, um die Repräsentanz der Arbeiterklasse auf die Vertretung der mystifizierten Einkommensquelle Arbeit und damit einen reinen Verteilungskonflikt von Kräften, die als Produktionsfaktoren zusammenwirken, darstellen zu können. Denn erst dadurch werden existenzielle und den unmittelbaren Produktionsprozess berührende Probleme der proletarischen Lage so weit verrechtlicht und individualisiert, dass das, was als "Konflikt" übrig bleibt, zur bloßen Frage der Verteilung werden kann.

Der Sozialstaat ist also nicht umkämpft, sondern er spiegelt das für den Kapitalismus konstitutive Kampf- und Klassenverhältnisse schon durch seine Formbestimmungen als verdrehten und mystifizierenden Interessengegensatz wider. Daher lässt sich an ihm auch nicht in revolutionärer Absicht ansetzen - im Gegenteil, die sozialpolitisch erzeugten Prozesse der Atomisierung, Spaltung, Verrechtlichung und permanenten Enteignung der kollektiven Dimensionen von Konflikten müssen durchbrochen werden. (8)

Christian Frings

Anmerkungen:

1) Als Burgfrieden bezeichnet man das Einfrieren innenpolitischer und sozialer Konflikte in Deutschland zugunsten der Kriegsfähigkeit während des Ersten Weltkriegs.

2) Eckart Reidegeld: Krieg und staatliche Sozialpolitik. In: Leviathan 4/1989. Reidegeld greift zurück auf: Paul Lapinski: Der "Sozialstaat". Etappen und Tendenzen seiner Entwicklung. In: Unter dem Banner des Marxismus, 4/1928. Dieser Beitrag wurde in den 1970er-Jahren mehrfach nachgedruckt.

3) Beverly Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin 2005, Kap. 4

4) Gero Lenhardt/Claus Offe: Staatstheorie und Sozialpolitik. In: Christian von Ferber/Franz-Xaver Kaufmann (Hg.): Soziologie und Sozialpolitik. Opladen 1977

5) Wolfgang Müller/Christel Neusüß: Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital. In: Sozialistische Politik 6-7/1970; Richard Edwards: Herrschaft im modernen Produktionsprozess. Frankfurt a.M. 1979

6) Ausführlicher hierzu: Tim Guldimann u.a. (Hg.): Starnberger Studien 2. Sozialpolitik als soziale Kontrolle, Frankfurt a.M. 1978, sowie folgende Beiträge aus der Wildcat: Mit dem Dreirad durch den Sozialstaat. "Existenzgeld" - die neue Tretmühle der Arbeit. In: Karlsruher Stadtzeitung 35/1985; Wie der Sozialstaat den Klassenkampf in Arbeiterbewegung verwandelt. In: Wildcat 61/1993; Existenzgeldforderung und landläufige Vorstellungen. In: Wildcat-Zirkular 46-47/1999; Die Perspektiven des Klassenkampfs liegen jenseits einer Reform des Sozialstaats. In: Wildcat-Zirkular 48-49/1999

7) Karl Polanyi: The Great Transformation, Frankfurt a.M. 1978, S. 143f.

8) Marco Revelli: Der Sozialstaat in den Brennesseln. In: Wildcat 61/1993