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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 556 / 17.12.2010

Vernebelte Sicht

In Südafrika fühlen sich viele Arme der Mittelklasse zugehörig

Kein anderes Land der G20 mit Ausnahme der USA, wo die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 ihren Ausgang nahm, wurde so hart von der Krise getroffen wie Südafrika. Doch obwohl die Arbeitslosigkeit steigt und steigt, zeigt eine neue Studie, dass die Armen weit davon entfernt sind, gegen die Zustände zu revoltieren. Stattdessen hat sich der Glaube an die eigene Leistungsfähigkeit weit verbreitet.

Im Land der Fußballweltmeisterschaft gingen seit Ende 2008 über eine Million Arbeitsplätze verloren und noch immer werden Jobs abgebaut. Im dritten Quartal 2010 nahm die Zahl der Arbeitsplätze im formellen Sektor um 45.000 und im informellen Sektor um 14.000 ab. Südafrikas offizielle Arbeitslosenquote stieg im Zuge der Krise auf zuletzt 25,3 Prozent, nicht darin enthalten sind die Hunderttausende, die aufgegeben haben, nach Arbeit zu suchen. In einigen ländlichen Regionen Südafrikas erreicht die Arbeitslosigkeit 60 Prozent und mehr.

Vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise erlebte Südafrika eine Phase des leichten Beschäftigungsaufbaus. Die Arbeitslosigkeit nahm zum ersten Mal seit den 1980er Jahren ab. In den 1980er Jahren war wegen weltwirtschaftlicher Veränderungen und dem System der Apartheid Südafrikas Arbeitsmarkt in die Krise geraten. Bis dahin war Arbeitslosigkeit in Südafrika weitgehend unbekannt. Seit dem Zweiten Weltkrieg boomte die Wirtschaft und Südafrika war, ähnlich wie Australien, Auswanderungsziel vieler EuropäerInnen auf der Suche nach Einkommen und Arbeit.

Hauptsache es geht einem besser als dem Nachbar

Die Gründe für den leichten Beschäftigungsaufbau ab 2002 waren eine wachsende Weltwirtschaft, kauffreudige einheimische KonsumentInnen, die sich für ihre Ausgaben stark verschuldeten und jetzt sparen müssen, und steigende staatliche Ausgaben für Sozialleistungen (Kindergeld, Rente) und Infrastruktur.

Die schon seit mehr als 25 Jahren anhaltende Krise der Arbeit hat Südafrikas Gesellschaft verändert. Proteste und Streiks, wie der dreiwöchige Ausstand der LehrerInnen und des Krankenhauspersonals im August dieses Jahr, der das Land zum Teil paralysiert hat, sind ebenso Zeichen der Krise, wie die heftige Konfrontation innerhalb der Linksregierung aus ANC, kommunistischer Partei und Gewerkschaftsdachverband COSATU. Sie streiten über den richtigen Kurs in der Wirtschafts- und Sozialpolitik für mehr Wachstum und Beschäftigung und darüber, was man gegen die hohe Kriminalität und Gewalt tun kann.

Einen Einblick in die die Gesellschaft verändernden Wirkungen der Krise der Arbeit in Südafrika gibt eine aktuelle Studie an der Universität von Johannesburg. WissenschaftlerInnen um den Soziologen Professor Peter Alexander haben am Center of Sociological Research den Wandel der sozioökonomischen Lebenslagen im größten südafrikanischen Township Soweto untersucht, wo etwa 2,5 bis drei Millionen Menschen leben.

Nach der Studie können lediglich 1,1 Prozent der EinwohnerInnen Sowetos zur Gruppe der GutverdienerInnen (Rechtsanwälte, Ärzte oder UnternehmerInnen) gezählt werden. Die Gruppe der KleinunternehmerInnen mit mittelhohen Einkommen umfasst 5,7 Prozent. Die größte Gruppe sind die Arbeitslosen mit 25,5 Prozent, knapp gefolgt von jenen, die als deklassiert oder abgehängt beschrieben werden können (21,7 Prozent). Fast die Hälfte der EinwohnerInnen Sowetos ist also arbeitslos und arm und dennoch, so die Studie, beschreiben sich überraschenderweise zwei von drei EinwohnerInnen Sowetos als zur Mittelklasse zugehörig.

Ein Touristenführer erklärt in einem Dokumentarfilm des Forschungsprojekts, warum er sich zur Mittelklasse gehörig fühlt: Weil er aus seiner Armensiedlung in eine bessere Unterkunft umgezogen ist. Zur Mittelklasse zählt sich auch ein Grafikdesigner mit seinem kleinen Unternehmen, weil er energisch sein nächstes Ziel anpeilt, einen Mercedes-Benz.

Neben diesen zur emerging middle class zu zählenden Haushalten will aber auch eine arbeitslose Frau in ihrer einfachen Wellblechhütte zur Mitte der Gesellschaft zählen. Warum sie dazu gehört? Weil sie im Gegensatz zu vielen ihrer NachbarInnen selber in der Lage ist, jeden Tag für Essen auf dem Tisch zu sorgen. Genau wie jener einfache Arbeiter aus dem Dokumentarfilm, der alte Kühlschränke repariert. Er rechnet sich voller Stolz zur Mittelklasse, da er niemanden um Essen anbetteln muss.

Viele wollen trotz Armut kein anderes System

Die Studie zeigt, dass die Menschen sich in einer so ungleichen Gesellschaft wie der Südafrikas nicht mit den Reichen, die weit weg hinter ihren hohen Mauern mit Elektrozaun leben, vergleichen, sondern mit ihren NachbarInnen und FreundInnen, die weniger haben oder die, wie sie selbst, langsam ihre Lebenssituation verbessern. Und umgeben von Arbeitslosigkeit und Armut ist der Ausdruck "Mittelklasse", so interpretiert Jonny Steinberg von der Universität Kapstadt die Ergebnisse der Studie, zum Synonym für die eigene Leistungsfähigkeit geworden, für den Willen, nicht aufgeben zu wollen, an die Zukunft zu glauben.

Viele von Südafrikas armen und arbeitslosen TownshipbewohnerInnen vertrauen, so kann man die Studie interpretieren, trotz eines Lebens in einem Meer von Armut und Arbeitslosigkeit auf ihre eigene Leistungsfähigkeit. Sie sind (noch) weit davon entfernt, sich mit anderen zusammenzuschließen, um auf den Straßen gegen den Kapitalismus zu revoltieren. Sie wollen kein anderes System, sie wollen aus dem System, so wie es ist, für sich das Beste herauszuholen. Um besser als ihre NachbarInnen zu leben oder zu den Nachbarn aufzuschließen, die es schon geschafft haben.

Armin Osmanovic