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WikiLeaks und die neue Arbeitsteilung in der Nachrichtenproduktion
Wie konnte WikiLeaks so erfolgreich werden? Felix Stalder sieht die Gründe dafür nicht nur in den neuen technisch-organisatorischen Möglichkeiten durch das Internet und der veränderten Arbeitsteilung in der Medienlandschaft. Er fragt auch nach den Voraussetzungen für das "Whistle-Blowing", den Geheimnisverrat. Dabei spielen, so seine These, vor allem zwei Widersprüche eine Rolle: der zwischen freiem Datenfluss und Geheimhaltung in vernetzten Organisationen und der zwischen dem neoliberalen Aufruf zur Identifikation und den mangelnden Identifikationsmöglichkeiten. Eine Langfassung des Textes wird gerade vom Suhrkamp Verlag übersetzt.
Stellen Sie sich vor, Sie sollten 400.000 Papierdokumente in einem unauffällig am Straßenrand platzierten toten Briefkasten abladen. Unmöglich. Nun stellen Sie sich vor, Sie müssten dasselbe mit einem USB-Stick voller Daten tun, oder Sie sollten die Daten von irgendeinem internetfähigen Rechner hochladen. Überhaupt kein Problem. Der materielle Unterschied zwischen Papier und digitalen Daten erschöpft sich jedoch nicht in der Frage der schieren Masse. Er reicht sehr viel weiter.
Paradox der Datensicherheit in vernetzten Organisationen
Digitale Daten sind die Reize im Nervenzentrum dynamischer, dezentraler Organisationen. Sie sind dazu bestimmt zu zirkulieren - und zwar von Anfang an. Je flexibler eine Organisation wird und je mehr Orte sie miteinander verknüpft, umso mehr Daten muss sie produzieren und umso schneller müssen diese Daten zirkulieren. Dezentralität und Organisationen-übergreifende Kooperation machen es ausgesprochen schwierig, den Datenfluss auf eine bestimmte Organisation zu begrenzen. Die Außengrenzen der Organisationen verschwimmen.
Lecks und undichte Stellen in Institutionen, die mit sensiblen Daten operieren, gehen oft auf kommerzielle Motive zurück (etwa wenn personenbezogene Daten verkauft werden), aber sie entstehen genauso durch Imkompetenz (zum Beispiel mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen) oder weil MitarbeiterInnen die Regeln ihrer Organisation bewusst verletzen. Vielleicht sind sie "Whistle-Blower" aus Überzeugung, wie im Fall von WikiLeaks, vielleicht handeln sie aus kommerziellen Motiven, wie die Angestellten Schweizer Banken, die kürzlich Kontodaten von Privatkunden kopierten und an die Steuerbehörden verschiedener europäischer Länder verkauften. In manchen Organisationen, zum Beispiel in Banken oder militärischen Einrichtungen, ist fast jede Information als geheim eingestuft. Trotzdem haben zahlreiche Leute Zugang zu ihnen, nicht zuletzt die vielen MitarbeiterInnen mittleren Rangs, die die Datenmassen, die in den täglichen Arbeitsroutinen anfallen, bearbeiten.
Diese tägliche Datenverarbeitung muss effizient funktionieren. Sie darf weder durch überbordende Bürokratie beschränkt sein, noch durch allzu strenge Verhaltensregeln für GeheimnisträgerInnen oder durch Abschottung der Daten in Gruppen, die nicht oder nur schwer miteinander vernetzt werden können. Die Sache ist in sich paradox. Große Mengen geheimer Daten müssen ungehindert fließen, um komplexe, zeitgebundene und über den Raum verstreute Prozesse am Laufen zu halten. Doch eben weil es sich um geheime Informationen handelt, dürfen sie nur innerhalb strenger Begrenzungen fließen, die wiederum kaum durch allgemeine Bestimmung zu regeln sind. Sie gehen unvermeidbar durch viele Hände. So entsteht die technisch-organisatorische Voraussetzung dafür, dass große Mengen dieser Informationen "aussickern".
Am anderen Ende der Gleichung steht WikiLeaks. Die Infrastruktur von WikiLeaks ist maßgeschneidert dafür, solche Datenfluten zu erhalten. Mehr als ein Jahrzehnt nach den berauschten Diskussionen der Cypherpunks, die von totaler Anonymität durch Verschlüsselung träumten, hat WikiLeaks es geschafft, eine wirksame Infrastruktur für anonyme Kommunikation auf die Beine zu stellen. Anstatt allein auf technische Lösungen zu setzen, hat WikiLeaks Aspekte "sozialer Intelligenz" (Filter und redaktionelle Kontrolle) in sein System integriert. So soll eine ganz bestimmte Form anonymisierter Kommunikation - der Geheimnisverrat - angeregt werden, während sich die Plattform zugleich gegen die übliche Kritik an anonymer Kommunikation (sie erleichtere Kinderpornografie und dergleichen) schützt. Allerdings eröffnen die veränderte Beschaffenheit der Daten und die hierzu passende Infrastruktur nur Möglichkeiten. Das erklärt aber noch nicht, weshalb bestimmte "Daten-Behälter" anfälliger für Lecks sind als andere.
Ist es ein Zufall, dass bisher die überwiegende Zahl der WikiLeaks-Dokumente aus Institutionen in Demokratien kam? Ich glaube nicht. Die westliche politische Rhetorik wird immer moralischer. Man denke an die Argumente, die zur Rechtfertigung der Militäreinsätze in Afghanistan oder Irak vorgebracht wurden. Afghanistan sollte nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs und der Vernachlässigung unter der warmherzigen Aufmerksamkeit der alliierten Truppen erblühen. Der Militäreinsatz sollte das Land entwickeln, die Infrastruktur wieder aufbauen, Frauen befreien, Kindern Hoffnung geben und vieles mehr. Es besteht immer eine Kluft zwischen politischer Rhetorik und Praxis, vor allem in Kriegszeiten. Doch nun gibt es einen qualitativen Unterschied.
Die westlichen politischen Systeme scheinen ihre Fähigkeit verloren zu haben, übergreifende historische Narrative zu schaffen, die ihre Handlungen rechtfertigen und den hässlichen Seiten eines jeden Krieges einen Sinn geben. Seit dem Ende des Kalten Krieges verfolgt die Politik kein historisches Projekt mehr. Die entstandene Lücke wird mit moralischen Phrasen überdeckt.
Die neoliberale Rhetorik untergräbt die Identifikation
Wenn aber eine oberflächliche Moralität alles ist, was übrig bleibt, ist die Begegnung mit der brutalen Realität auf dem Schlachtfeld unvermittelt und verstörend. Die moralische Begründung für das Kriegführen fällt schnell in sich zusammen angesichts der tatsächlichen Kriegserfahrung. Übrig bleibt eine zynische Maschinerie, die außer Kontrolle geraten ist. Es gelingt ihr nicht länger, eine nachhaltige und positive Identifikation der ProtagonistInnen zu erzeugen. Einen ähnlichen Mangel an Identifikation kann man in manchen Unternehmen beobachten, wie die undichten Stellen bei Schweizer Banken zeigen.
Die herrschende neoliberale Ideologie trichtert den Beschäftigen immer wieder ein, dass sie nichts von der Firma erwarten sollen, dass ihr Job ständig in Gefahr ist und dass sie jederzeit von heute auf morgen ersetzt werden können, wenn sie ihre Zielvorgaben nicht erfüllen. Es gibt kein größeres Narrativ als das nächste Quartal und eine allgemeine Unsicherheit.
Diese Aushöhlung der Institutionen vollzieht sich im Kontext einer allgemeinen Transformation der Arbeit: weg von strikten Hierarchien und unhinterfragbaren Befehlen hin zu komplizierten und stärker vereinnahmenden Formen kognitiver Arbeit. Die Menschen sollen sich auf ihre Arbeit einlassen, kreativer, selbstständiger und unternehmerischer werden. Einfach Befehle auszuführen, ohne die eigene Kreativität und Persönlichkeit einzubringen, reicht nicht mehr aus.
Deswegen ist ein zweiter innerer Widerspruch entstanden. Es wird von den Leuten gefordert, sich mit Organisationen zu identifizieren, die kein historisches Projekt mehr verfolgen, das große Opfer wert wäre, oder die ihre Angestellten bestenfalls (und ausdrücklich) als entbehrliche Kurzzeitressourcen betrachten. Ich glaube, dieser Widerspruch erzeugt eine kognitive Dissonanz, die es einem "Maulwurf" gerechtfertigt oder sogar geboten erscheinen lässt, gegen die Dienstanweisung zu verstoßen und eben die Organisation aktiv zu schädigen, deren gut integriertes Mitglied er früher einmal war.
Ob Transportmittel, Kommunikation, Kreditwesen, Produktionsmittel - ein Großteil der Infrastruktur, die bis vor kurzem nur großen Organisationen zugänglich war, ist heute offen und frei verfügbar. Mit wenig Aufwand - einigen engagierten, sachkundigen Leuten - lässt sich aus diesen Einzelteilen eine mächtige Plattform aufbauen, von der aus man operieren kann. Individuen können nun, unterstützt von kleinen, vernetzten Organisationen, auf einer systemischen Ebene in soziale Dynamiken intervenieren - zum Guten wie zum Schlechten.
Dieses Bild passt gut auf WikiLeaks, das um ein charismatisches Individuum herum organisiert ist. Das ist sowohl seine Stärke als auch seine Schwäche. Seine Stärke, weil die Organisation in der Lage war, schnell und zu nur geringen Kosten große Ereignisse auszulösen. Wenn WikiLeaks vorab viele Millionen Dollar an Investitionen benötigt hätte, hätte es nicht einfach loslegen können. Doch diese Struktur ist zugleich die zentrale Schwäche der Organisation, denn sie bleibt stark auf eine einzige Person ausgerichtet. Viele der für kleine Gruppen mit charismatischen FührerInnen typischen Probleme scheinen auch WikiLeaks zu betreffen, zum Beispiel Autoritarismus, ein Mangel an geregelten internen Verfahren, die Bedrohung durch Burnout sowie interne und externe Angriffe auf die Glaubwürdigkeit der einen zentralen Person (oder Schlimmeres).
Die Öffentlichkeit als Ort politischer Diskurse und als Gegengewicht zum Staat verliert seit langem an Bedeutung, nicht zuletzt aufgrund von Deregulierung und Fusionen in der Medienbranche. Politischer und ökonomischer Druck haben den Anteil an unterhaltungsorientierten Nachrichtenformaten, Porträts und Kommentaren massiv ansteigen lassen. Diese Entwicklung ging zu Lasten der investigativen journalistischen Recherche. Auch haben die Regierungen gelernt, gezielt mit wohldosierten "Exklusiv"-Informationen zu arbeiten. Die derart mit Insider-Informationen versorgten JournalistInnen sind zunehmend abhängig von guten Kontakten zu den politischen Schaltzentralen. Die Zusammenarbeit zahlt sich für beide Seiten aus: Für die Medien ist sie billiger und schneller als eigene Recherchen, während RegierungsvertreterInnen nicht nur Kontrolle über die Berichterstattung bekommen, sondern kritische JournalistInnen durch den möglichen Entzug des Exklusiv-Zugangs in Schach halten können.
Angesichts der offensichtlichen Krise des Nachrichtenjournalismus keimte die Hoffnung, dass die Blogosphäre und der Bürgerjournalismus im Internet an die Stelle der alten Strukturen treten würden. Im Großen und Ganzen ist dies - wenig überraschend - ausgeblieben. Stattdessen erleben wir einen langsamen Umbau der Öffentlichkeit, bei dem die alten Nachrichtenmedien durch neue Akteure ergänzt werden. Diese versuchen, die Schwächen der Mainstream-Medien auszugleichen, während sie gleichzeitig ihre Stärken nutzen: Nachrichten massenhaft zu verbreiten.
Eine neue Arbeitsteilung in der Nachrichtenproduktion
In dieser Arbeitsteilung bleiben die Nachrichtenmedien der wichtigste Verbreitungskanal. Die mit der Veröffentlichung heikler Informationen verbundenen rechtlichen Risiken werden dagegen ausgelagert; diese Rolle übernehmen Blogs oder andere Akteure ohne Haftungsvermögen, im Extremfall WikiLeaks. Im Zuge dessen sind in den USA wie auch in Großbritannien neue nicht-kommerzielle Institutionen entstanden, die sich auf Recherche und investigativen Journalismus konzentrieren oder diesen mit Stiftungsgeldern finanzieren. Häufig schließen sie sich mit traditionellen Print- und Fernsehmedien zusammen, die für die Verbreitung der recherchierten Storys sorgen. Daneben stellen Dienste wie DocumentCloud Werkzeuge zur Verfügung, mit denen große Mengen von Quellen effizient über einzelne Redaktionen und andere institutionelle Grenzen hinweg verwaltet, verschlagwortet und strukturiert werden können.
Die verschiedenen Schritte investigativer Berichterstattung (Quellenschutz, das zeitaufwändige Sammeln und Auswerten von Informationen, Weitergabe der Materialien und Verbreitung in der Öffentlichkeit) sind nicht mehr in der Hand einer einzigen Organisation, sondern werden von einem Netzwerk ausgeführt, dessen Knoten trotz unterschiedlicher ökonomischer Voraussetzungen zusammenarbeiten, um eine Story an die Öffentlichkeit zu bringen. Bei dieser Arbeitsteilung nimmt WikiLeaks den Großteil des Risikos auf sich, so dass die anderen Beteiligten vergleichsweise unbehelligt arbeiten können.
Dadurch verändert sich auch der Charakter des Endprodukts, der Story selbst. Traditionelle Berichterstattung, bei der die Quellen normalerweise nicht publiziert werden, und Blog-Beiträge, wo die Quellen in der Regel verlinkt sind, nähern sich einander an. Weil WikiLeaks das Material ohnehin veröffentlicht, tun das auch Zeitungen, die es zuvor bei ein, zwei Zitaten aus den Originaldaten belassen haben. Die Kombination aus hochgradig bearbeiteten Storys und frei verfügbaren Quellen könnte sich als sehr schlagkräftig erweisen.
Welche Folgen WikiLeaks tatsächlich haben wird, lässt sich derzeit nur schwer abschätzen, denn das hängt von vielen Variablen ab. Man braucht kein Prophet zu sein um zu vermuten, dass das "Daten-Leaking" weiter eine wichtige Methode der Informations-Beschaffung sein wird, unabhängig davon, welches Schicksal die Organisation WikiLeaks nimmt. Was sich durch WikiLeaks verändert hat, ist das Ausmaß der Daten-Lecks - und zwar sowohl hinsichtlich der Menge als auch der Brisanz der Daten. Die WikiLeaks-Veröffentlichungen sorgen tatsächlich für Ärger. Die Plattform schafft es, eine eigene Agenda zu setzen, und die Politik kann nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen.
Geheimhaltungskosten schnellen in die Höhe
Doch was lässt sich damit erreichen? Das bescheidenste Ziel, das Julian Assange formuliert hat, ist es, die Geheimhaltungskosten zu erhöhen. Je mehr eine Organisation sich um den Schutz vor undichten Stellen kümmern muss, umso stärker tritt der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, Informationen zu teilen (um effektiv zu funktionieren), und der, den Informationsfluss zu kontrollieren (zwecks Geheimhaltung), hervor und behindert sie in ihrer Arbeit. In dieser Hinsicht dürfte Assange seine Ziele durchaus erreichen. Doch es ist offen, ob die Kosten hoch genug sein werden, um die Macht einer Organisation wie des US Militärs tatsächlich zu beschneiden, oder ob es einfach mehr Ressourcen mobilisieren muss, um so weiter zu machen wie bisher.
Viel wird auch davon abhängen, wie lange WikiLeaks arbeiten kann. Der Druck, der auf der Organisation lastet, ist immens, und ihre Struktur scheint relativ schwach zu sein. Wie weit die Medienpartnerschaften innerhalb der neuen journalistischen Arbeitsteilung tragen werden, bleibt abzuwarten. Die New York Times zum Beispiel hält sich derzeit beide Optionen offen. Sie arbeitet punktuell mit WikiLeaks zusammen, berichtet aber sehr zurückhaltend. Das Wort "Folter" hat sie derart angestrengt vermieden, dass es sich selbst der ansonsten unpolitische Blog BoingBoing nicht verkneifen konnte, einen "NYT-Euphemismus-für-Folter-Generator" zu präsentieren. Gleichzeitig beteiligt sich die New York Times aktiv an der weltweiten Verleumdungskampagne gegen Julian Assange.
Die anderen großen US Medienhäuser agieren sehr viel offener feindselig - bis hin zur Forderung eines Fox News Kommentators, die WikiLeaks AktivistInnen zu "feindlichen Kämpfern" zu erklären und "außer-rechtliche Maßnahmen", sprich: gezielte Tötungsaktionen gegen sie einzuleiten. Solange die (US) Medien so abhängig von "Insider-Informationen" und "Exklusiv-Kontakten" zu den Mächtigen bleiben, wird ihre Bereitschaft, das von WikiLeaks veröffentlichte Material vollständig zu nutzen, begrenzt sein. Ihr Engagement ist aber entscheidend, denn die politischen Folgen der Daten-Veröffentlichung hängen nicht von den Fakten allein ab.
Felix Stalder
Übersetzung: Jan Ole Arps, Christoph Breitsprecher, Philipp Dorestal
Felix Stalder ist Dozent für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Zürcher Hochschule der Kunst und Mitarbeiter am Institut für Neue Kulturtechnologien, t0, in Wien. Eine englische Langfassung des Textes findet sich unter dem Titel "Contain This! Leaks, Whistle-Blowers and the Networked News Ecology" auf seiner Webseite felix.openflows.com sowie auf www.metamute.org. Eine deutsche Langfassung wird 2011 in einem Sammelband im Suhrkamp Verlag erscheinen. Wir bedanken uns herzlich für die Genehmigung zum Nachdruck des Textes.