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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 558 / 18.2.2011

Killing in the name of

Bini Adamczak über linke Verantwortung für den Stalinismus und die Zukunft des Kommunismus

"Wir müssen aber auch sagen, dass die Idee des Kommunismus nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun hat, was Stalin, Mao oder Pol Pot darunter verstanden haben." So hört sich die Abbitte der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Gesine Lötzsch, an. (taz. 8.2.11) Ihre Wortmeldung über "Wege zum Kommunismus" hatte für Aufregung gesorgt. Die linken Reaktionen kamen selten über Bekenntnisrituale oder den Versuch hinaus, die Idee vor seiner hässlichen Geschichte zu retten - leider. Über den herrschenden Diskurs und die mögliche und nötige Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kommunismus sprach ak mit Bini Adamczak.

ak: Wie passt es zusammen, dass u.a. Robert Misik "Kommunismus" als entleerten Begriff bezeichnen kann und gleichzeitig das politische Establishment an die Decke geht und zum Kalten Krieg bläst?

Bini Adamczak: Die Debatte um den Begriff des Kommunismus aktualisiert eine Reihe bekannter diskursiver Figuren. Manche Teilnehmenden graben die Kalte-Kriegs-Vokabel vom "roten Faschismus" aus, als misstrauten sie selbst dem "Stalinismus", als fähiges Schimpfwort zu taugen. Andere holen Karl Popper hervor, um einmal mehr zu behaupten, Utopie müsse notwendig in Totalitarismus umschlagen. Das Spiegelbild bilden Positionen, die den Revisionismus mit dem XX. Parteitag beginnen lassen, also die Identität von Stalinismus und Kommunismus gewissermaßen von links bestätigen. Dazwischen liegt der klassische Versuch, die gute Idee vor der beschädigten Geschichte zu retten, die Marx'sche Theorie von ihrer Leninschen Umsetzung komplett abzukoppeln. Es wird aber auch gefordert, zwischen verschiedenen kommunistischen Bewegungen zu differenzieren, zwischen autoritären und libertären.

Welche linke Strategie gibt derzeit den Ton an?

Eine relativ dominante Rolle spielt die Defensivstrategie, den Kommunismus aus dem 20. Jahrhundert zu lösen und ihn in eine ferne Zukunft - der Enkel - oder in eine frühe Vergangenheit - etwa der Bergpredigt - auszudehnen. Letzteres geschah in der aktuellen Stunde des Bundestags, als Ulrich Maurer für die Partei DIE LINKE das frühe Christentum als kommunistisch bezeichnete. Eine Vergangenheit also, die weit vor der Konstitution eines bürgerlichen Klasseninteresses liegt, das sich bedroht fühlen könnte. Dieses Bedrohungsgefühl existiere laut Robert Misik derzeit gar nicht. Die Herrschenden würden heute angesichts des kommunistischen Gespenstes nicht mehr erzittern, sondern sich kichernd auf die Schenkel klopfen.

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch ein Kommentator der Financial Times Deutschland, allerdings mit anderer Bewertung. Sein Maßstab ist der fiktive Skandal, den ein Text mit dem Titel "Wege zum Faschismus" ausgelöst hätte. Auch wenn die CDU-Forderung nach einem Verbot oder einer flächendeckenden Überwachung der Partei DIE LINKE durch den Verfassungsschutz nicht ganz nach Schenkelklopfen klingt, lassen viele Zeitungsbeiträge doch einen ironischen Unterton durchklingen. Dieser kommt aber vor allem daher, dass der Partei DIE LINKE der Kommunismus-Bluff nicht abgekauft wird, meist mit Verweis darauf, dass deren anderer Vorsitzender einen Porsche fährt.

Hat Misik recht mit seiner Einschätzung, dass der Diskurs um den Kommunismus ein verbalradikaler Sturm im Wasserglas ist?

Was Misik, glaube ich, übersieht, ist, dass die Debatte, an der er teilnimmt, selbst bereits Teileffekt jenes Signifikanten ist, um den herum diese sich strukturiert: Kommunismus. Ohne dieses Reizwort hätte es keine Diskussion gegeben, auch keine über machbare - linke - Reformen. Die Logik der Provokation, des Tabubruchs, ist, nachdem sie in den 1970er Jahren von links besetzt war, in Deutschland spätestens seit 1990 eine der entscheidenden Formen, in denen die Politik sich nach rechts bewegt. Mit der gegenwärtigen Debatte wird diese Logik - wenn auch vermutlich eher unbeabsichtigt - mal wieder von links in den Dienst genommen. Dass es auf einmal Linke sind, die von "Denkverboten" reden, wirkt dementsprechend unzeitgemäß. Es ist ein Test der diskursiven Kräfteverhältnisse. Gelingt er, verschiebt er zugleich die Grenze dessen, was sagbar ist. Ralf Hutter hat das in der taz sehr treffend ausgedrückt, als er die reaktionäre Figur des "man wird ja wohl noch sagen dürfen" für die Debatte um den Begriff des Kommunismus ironisch enteignete.

Misik behauptet sogar, der Begriff Kommunismus verhindere gesellschaftliche Veränderungen.

Laut Misik ist Kommunismus eine leere Marke und transportiert lediglich noch radical chic. Als solcher hätte er den negativen Effekt, den Blick auf die tatsächlichen Möglichkeiten von Veränderungen durch ausschließliche Fokussierung auf das ganz Andere zu verstellen. Diese Gefahr gibt es. Aber so berechtigt diese Kritik gegenüber etwa einer "adornitischen Wertkritikerin" oder einem "Wertkritiker" sein mag, wonach jede Form von Praxis der Komplizenschaft mit dem totalen Verblendungszusammenhang verdächtigt ist, so lustig ist sie in Anbetracht der Partei DIE LINKE. Denn diese ist ja bisher wenig durch Fundamentalkritik oder revolutionaristischen Maximalismus aufgefallen.

Unter diesen Bedingungen eines von früheren Formen gänzlich verschiedenen Zweck-Mittel-Verhältnisses gestaltet es sich eher andersrum. Die stalinistische Parole vom Mittel legitimierenden Zweck hatte tatsächlich den gegenteiligen Effekt: den Zweck zu delegitimieren. Aber der Verzicht auf einen die herrschenden Bedingungen, das gegenwärtig Machbare, überschreitenden Zweck führt andersrum zu einem Mittelfetischismus, einer Verkehrung von Mittel und Zweck. So kann eine Regierungsmacht erobert oder eine Wahl gewonnen werden, ohne dass sich wirklich etwas ändert, weil der strategische Grund für diese Bemühung unterwegs verloren gegangen ist - das Mittel ist zwecklos geworden. Demgegenüber besteht die Differenz revolutionärer Politik darin, dass sie nicht nur Politik unter gegebenen Bedingungen macht, sondern diese Bedingungen zugleich politisiert - also entnaturalisiert, sie infrage und zur Disposition stellt. Bereits in dieser Politisierung hat der Signifikant Kommunismus einen seiner aktuellen Gebrauchswerte.

Einen Gebrauchswert ohne sozialen Träger ...

Ja, die ganze Debatte ist vor allem durch ihre Virtualität gekennzeichnet. Daraus rührt vermutlich der von dir angesprochene Widerspruch zwischen Aufregung und Entspanntheit. Dem Gespenst mangelt es - zumindest in Deutschland - an der Materialität einer Bewegung, die es zum Spuken bräuchte.

Gleichzeitig ist die Debatte aber auf einer anderen Ebene angesiedelt als die Diskurse der letzten Jahre, in denen der Begriff Kommunismus seinen eingehegten Spielplatz in der Sphäre der Kultur hatte. Ist es denn nicht erstaunlich, dass niemand eine Verbindung zu der wohlgesonnenen Feuilletondebatte um das Buch "Der kommenden Aufstand" gezogen hat? Ulf Poschardt hat in der Welt zumindest versucht, diese Grenzziehung aufrechtzuhalten. Die Rückkehr des Kommunismus, hieß es da, sei das Hobby einiger verwöhnter Philosophinnen oder Philosophen und Künstlerinnen oder Künstler, habe aber in der "Realität" nichts verloren.

Vielleicht besteht nachträglich betrachtet in der Aufweichung oder Überschreitung dieser Grenze die Bedeutung der Debatte. Oder, wie es der Financial-Times-Deutschland-Kommentator Horst von Buttlar aus Perspektive des Kapitals beschrieb: "Ein Weg zum Kommunismus kann auch in unmerklichen Trippelschritten beschritten werden. Erst geht es um Deutungshoheit, dann um Gestaltungshoheit. Ein Stück geistiger Raum wurde gerade wieder verloren."

Hat die radikale Linke mit bestimmten Interpretationen nicht ihre Verantwortung für den Stalinismus "nach außen" projiziert? Die Sowjetunion ist hier nicht Teil der linken und damit eigenen Geschichte, sondern Teil kapitalistischer Modernisierung - und die kritisiert man ja eh die ganze Zeit ...

Linke Analysen, die den real existierenden Kommunismus als Fortsetzung kapitalistischer Herrschaft, als Staatskapitalismus beschreiben, gibt es schon sehr lange. Gegenüber dem konkurrierenden trotzkistischen Paradigma vom "deformierten Arbeiterstaat" radikalisierten sie die Kritik, indem sie den Fokus von Organisations- und Eigentumsverhältnissen - proletarisches Staatseigentum in bürokratischer Herrschaftsform - auf die Produktionsverhältnisse verlegten, d.h. auf die hierarchische Lohnarbeit in Warenform. Vor allem aber hatte diese Kritik die Funktion, den Staat zu denunzieren, dessen mächtige Institutionen ein definitorisches Monopol auf den Begriff Kommunismus beanspruchten.

Diese Strategie funktioniert heute jedoch nicht mehr ...

Mit dem Ende des kalten Systemkriegs hat sich das diskursive Koordinatensystem verschoben, innerhalb dessen diese Strategie funktionierte. Weder stalinistische Splittergruppen noch China bieten sich als Folie einer solchen immer neu zu re-inszenierenden Spaltung an - schon, weil sie im politischen Diskurs nicht die Position einnehmen können, die die Sowjetunion besetzte. Zwar besteht der analytische Wert der Staatskapitalismustheorien fort. Gleichzeitig verstärkt sich aber, wie du richtig sagst, ihre entlastende Funktion. Dass der Sozialismus eigentlich Kapitalismus ist und wir damit weiterhin die Guten, ist eine von mehreren Abwehrfiguren, mit denen sich Linke die schmerzlichen und dringlichen Probleme vom theoretischen und organisatorisch-praktischen Leib halten, die sich mit dem Scheitern der kommunistischen Revolutionen stellen. Denn auch innerhalb der Prämissen einer Theorie von der nachgeholten Modernisierung stellt sich die Frage, wie sich ein antikapitalistischer Aufbruch in staatskapitalistische Herrschaft transformieren konnte. Schließlich war die Abschaffung von Ware und Geld erklärtes Programm der russischen Revolution - auch wenn der Glaube an einen reinen, unbeschädigten Anfang illusionär ist und die autoritären Linien sich über diesen hinaus verfolgen lassen. Und dass die Revolutionäre oder Revolutionärinnen Marx nicht richtig verstanden haben, wäre eine Antwort auf diese Frage, die Marxistinnen oder Marxisten eher peinlich sein sollte.

Läuft die Linke mit dem Diskurs, wie er derzeit mehr oder weniger dominant herrscht, nicht Gefahr, die eigenen Fragestellungen an die eigene Vergangenheit aus den Augen zu verlieren? Schließlich vollzieht sich "Aufarbeitung" mit einem anderen Ziel, einem anderen Selbstverständnis, aber auch: mit einer anderen Verantwortung.

Die Debatte reinszeniert eine überkommene Aufgabenteilung, an deren Überwindung sämtliche Linke interessiert sein sollten. In ihr sind es die Antikommunistinnen oder Antikommunisten, die den Stalinismus thematisieren, während Kommunistinnen oder Kommunisten, die darüber scheinbar lieber schwiegen, erst darauf reagieren: mit Relativierung, Verteidigung, Gegenangriff - oder Entschuldigung. Einerseits entsteht dieses Bild nur aufgrund eines weitgehend gezielten Ausblendens von linkem Antistalinismus durch die bürgerliche Öffentlichkeit. Andererseits sind Linke nur zu oft bereit, diese politische Arbeitsteilung zu akzeptieren. Die Geschichtspolitik gerinnt so zum Bekenntnisritual, in dem die immer gleichen Marken durch die Reden gereicht werden: "Opfer des Stalinismus", "Verbrechen im Namen des Kommunismus", "Mauer, Lager, Millionen Tote", "demokratischer Sozialismus" usw.

Die Sprachregelung "im Namen ..." hat sich dabei weitestgehend durchgesetzt und etabliert den Eindruck, es handle sich beim Stalinismus um die Konterrevolution einer Clique gemeiner Gangster, die eine gute und unschuldige Idee bloß für ihre eigenen Machtinteressen instrumentalisierten und deren Parteien sich nur zufällig kommunistisch nannten.

Welche politische Konsequenz hat das?

Damit wird die innere Verbindung zum Kommunismus gekappt und das Verhältnis zum Stalinismus wird im doppelten Sinne zu einem äußerlichen. Wenn Kommunistinnen oder Kommunisten nämlich mit der kommunistischen Geschichte, da, wo sie uns nicht passt, nichts zu tun haben, dann erscheint die Anforderung, sich mit ihr zu beschäftigen, als Zumutung. So berichtet der Vorsitzende der Linksjugend ['solid], in seinem Verband seien es viele leid, sich ständig für die SED-Vergangenheit entschuldigen zu müssen, außerdem müsse über die Verbrechen des Kommunismus nicht weiter diskutiert werden, die würde so keiner mehr wollen: "Wir blicken stattdessen nach vorne."

Ich bezweifle, dass diese Gegenüberstellung von Vergangenheit und Zukunft funktioniert. Denn die Flucht nach vorne führt zu oft nicht weiter. Aus der Vergangenheit schauen uns die Gefahren einer möglichen Zukunft an, die vom bloßen Augenschließen nicht verschwinden. Zugleich ist die stalinistische Herrschaft in Ausmaß und Intensität zu gewaltig, als dass sie es erlauben würde, ihr bloß instrumentell beizukommen zu wollen. Die vom Kommunismus Gequälten und Ermordeten - nicht nur die Kommunistinnen oder Kommunisten! - müssen von Kommunistinnen oder Kommunisten auch dann erinnert werden, wenn ihre entstellten Leichen keine praktische Lehre für Gegenwart oder Zukunft anzubieten haben.

Aus der linken Geschichte des Scheiterns werden oft bestimmte Prinzipien abgeleitet, eine Haltung begründet. Ist aber nicht genau das ein Problem? Ist nicht diese Form der Verarbeitung der Geschichte ein Fallstrick für die Zukunft? Bei den Bolschewiki war es der Versuch, durch organisatorische Kontrolle einen möglichen Verrat an "der Sache" vorwegzunehmen. Stichwort: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" Heute herrscht die Angst vor, Macht überhaupt auszuüben und zu organisieren - John Holloway - oder die softe Variante: Alle sollen mitreden dürfen - André Brie.

Ich denke, du hast recht. Es macht tatsächlich Sinn, der Frage: "Lässt sich aus Geschichte etwas lernen?" die Form zu geben: "Was lässt sich lernen aus den geschichtlichen Versuchen, aus der Geschichte zu lernen?" Die Bolschewiki interpretierten ihre eigene historische Situation in den Begriffen und Bildern der Französischen Revolution - der von verschiedenen Richtungen beschworene oder befürchtete "Thermidor" war eines der häufigsten Begriffe der revolutionären Debatten. (1) Und sie präsentierten ihre autoritäre und militarisierte Parteipolitik als eine Lehre aus der Implosion der sozialdemokratischen Parteien und vor allem der Niederschlagung der Pariser Commune. Auf Grundlage der Erfahrung enttäuschter Liebe - vor 1914 waren Namen wie Bebel oder Kautsky von russischen Marxisten nur ehrfürchtig geflüstert worden - und der militärischen Niederlage organisierte sich der Bolschewismus als präventive Konterkonterrevolution.

Aber die Erwartung einer permanenten Konterrevolution in Form von Putsch, Verschwörung, Verrat brachte tatsächliche Bündnisbeteiligte in Opposition und erhielt virtuell die Notwendigkeit der Diktatur auch dort am Leben, wo der "sozialistischen Ordnung" keine Gefahr drohte. Das Bemühen, aus der Geschichte zu lernen, kann also, ähnlich einer Selffulfilling Prophecy, eine Erwartungshaltung produzieren, in welcher die Geschichte, die unterbrochen werden soll, performativ lebendig gehalten wird.

Also lieber nichts aus der Geschichte lernen?

Lernversuche tendieren zumindest dahin, eine prinzipielle Gleichheit der historischen Bedingungen zu unterstellen. Anders ließe sich nicht voraussagen, dass eine gleiche Politik auch diesmal zu gleichen, eine andere Politik auch wirklich zu anderen Ergebnissen führen wird. Aber wenn die Bedingungen von Paris 1871 nicht jenen von Petrograd 1917 gleichen, dann diejenigen von etwa Athen 2011 noch weniger. Das verkompliziert das Unterfangen, eine Lehre aus einer spezifischen geschichtlichen Situation zu ziehen, und noch mehr, jenes allgemeine Gesetz der Geschichte zu identifizieren.

Marx war in dieser Frage kein marxistischer Dogmatiker. Er erkannte zum Beispiel in den singulären Bedingungen des Gemeindebesitzes der russischen Dorfkommune die Möglichkeit einer sozialistischen Passage - ohne Wiederholung der westlich-bürgerlichen Entwicklung. Gerade im Abweichen der historischen Situation vom "historischen Gesetz" bestand ihm zufolge ein Potenzial der Revolution. Bezogen auf die Gegenwart, in der zwar immer noch die Hälfte der Weltbevölkerung in der Landwirtschaft arbeitet, aber das kollektive Landeigentum wie bei der russischen Mir kaum existiert, liegt die Gefahr einer Wiederholung der Geschichte damit gerade in der Verkennung ihrer Unwiederholbarkeit begründet.

Welche Schlussfolgerung ziehst du daraus?

Eine paradoxe Schlussfolgerung würde lauten, dass die Allgemeinheit einer singulären Situation gerade in ihrer Singularität begründet liegt. Eine Situation, die zugleich singulär, das heißt einzigartig-unwiederbringlich ist, und allgemein, in dem Sinne, dass sie der Anforderung genügt, eine unwahrscheinliche, den Gesetzen der Geschichte entweichende Passage zum Kommunismus zu eröffnen. Diese Begrenzung der Möglichkeit geschichtlicher Resultate ist aber selbst begrenzt. Die Fortschrittsphilosophie ist nach dem 20. Jahrhundert diskreditiert - und das nicht nur zeitlich relativ, sondern absolut. Sie müsste heute die Gulags als einen notwendigen Schritt, als Umweg zum Kommunismus konzipieren. Den Stalinismus als einen ersten Versuch, der scheitern musste, damit nachfolgende Generationen es besser machen und haben können - wer will diesen Zynismus ernsthaft verantworten?

Ich kann also kaum mehr anbieten, als das komplizierte Problem weiter zu verkomplizieren. Ich halte die Angst vor der Machtausübung für historisch sehr gut begründet - ebenso wie die Jahrhunderte lang genährte Angst vor der Ohnmacht. Das lässt sich leider nicht mehr ändern: Seit der Gulags hat es die Linke oder - verzeih die universalistische Geste - die Menschheit mit einer doppelten Gefahr zu tun - Wiederkehr des stalinistischen Terrors oder Fortsetzung des kapitalistischen Horrors.

Interview: Ingo Stützle

Anmerkung:

1) Thermidor war der Monat im Kalender der Französischen Revolution, in dem die Jakobiner, darunter Robespierre, gestürzt und guillotiniert wurden.

Literatur:

André Brie: Kommunismus?, in: Sächsische Zeitung, 26.1.11

John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Münster 2010

Hans Heinz Holz: Dialektik der Vernunft, in: junge welt, 2.2.11

Ralf Hutter: Ja zum Antikapitalismus, in: taz, 25.1.11

Gesine Lötzsch: Fragen muss erlaubt sein, in: taz, 8.2.11

Robert Misik: Verlorenes Paradies, in: taz, 29.1.11

Kurt Pätzold: Unsichere Sieger, in: junge welt, 12.1.11

Ulf Poschardt: Von den neuen Freunden des Gulags und des guten Terrors, in: Die Welt, 7.1.2011

Horst von Buttlar: Ein Gespenst geht um in Deutschland, in: Financial Times Deutschland, 17.1.11