Die Revolte erschüttert die Geschlechterordnung
Die Feministin Hoda Salah über die Rolle der Frauen im ägyptischen Aufstand
Auf dem Tahrir-Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo wird nicht nur protestiert, sondern diskutiert, gefeiert und ein neues Ägypten eingeübt. Die Revolte stellt nicht nur die politische Herrschaft, sondern auch die Geschlechterordnung in Frage. Über den subversiven Alltag ägyptischer Jugendlicher, die Relevanz der Geschlechterfrage und ein anderes Ägypten sprach ak mit Hoda Salah, Politikwissenschaftlerin an der Universität Frankfurt am Main.
ak: Hast du angesichts der turbulenten Zeiten und den tiefgreifenden Veränderungen überhaupt Lust, über Geschlechterverhältnisse in Ägypten zu sprechen?
Hoda Salah: Die Geschlechterfrage ist sehr wichtig. Die Geschichte zeigt: Frauen sind immer in sozialen Bewegungen, Widerstand und Revolutionen aktiv. Das war im Kampf gegen Kolonialherrschaft so - auch in Ägypten. Auch bei der Unabhängigkeitsbewegung Algeriens nahmen Frauen eine tragende Rolle ein. Gleiches gilt für die Revolten von 1968 und die Umbrüche 1989. Nur: Wo waren die Frauen danach? Warum sind sie von wichtigen und wirkungsvollen Positionen ausgeschlossen?
Ähnlich sieht es jetzt in Ägypten aus. Derzeit ist die Stimmung sehr euphorisch. Männer und Frauen kämpfen gemeinsam gegen ein despotisches Regime. Die wichtige Frage ist aber, was danach passiert. Werden die Frauen verantwortliche Positionen innehaben und weiterkämpfen oder arbeiten sie danach nur als soziale Basis für die Bewegung? Genau das ist in der Geschichte immer wieder passiert. Ich wünsche mir, dass die Frauen sich dessen bewusst sind und auch nach dem Umsturz selbstbewusst auftreten und Widerstand leisten - auch gegen ihre jetzigen Kommilitonen.
Lernen Frauen derzeit, mutig zu sein? Der Aufstand ist ja vor allem ein Lernprozess, die eigene Angst zu überwinden ...
Frauen werden derzeit sehr ermutigt. Bisher ist diese Revolution ja von Erfolg gekennzeichnet. Einem Erfolg, der nicht abzusehen war.
Wie nachhaltig wird diese Veränderung sein?
In Algerien haben Männer und Frauen gemeinsam gegen die Kolonialherrschaft gekämpft. Danach war von dieser Egalität kaum etwas übrig. Ich hoffe, dass die Frauen ihre Emanzipation weiter vorantreiben. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben. Der Diskurs um Frauenrechte und Menscherechte ist global und das ist auch der gegenwärtige Diskurs, der die Revolte trägt. Frauenrechte gehören zur Agenda, zur Forderung nach Demokratie, Gleichberechtigung und Freiheit.
Gibt es schon organisierte Strukturen, auf die Frauen in dieser Frage zurückgreifen können?
Nein. Es gibt spontane Strukturen, aber nichts was über die jetzige Situation hinausweist. Wir reden hier über ein Ereignis, das erst ein paar Wochen alt ist. Was sind drei Wochen für Ägypten, das zudem Jahrzehnte autoritär regiert wurde? Bisher gibt es keine eigenständigen Frauenstrukturen - soweit ich weiß. Im Vordergrund steht der gemeinsame Kampf, das Mubarak-Regierung zu stürzen. In diesem Kampf spielen Geschlechterfragen kaum eine Rolle. Allerdings gibt es in Ägypten eine alte Tradition der Frauenbewegung, die seit 20 Jahren entstanden ist und zahlreiche NGOs hat.
Heißt das, dass sich hinsichtlich der Geschlechterfrage nichts bewegt?
In den letzten Jahren war die Situation für die Frauen schwierig in Ägypten. Die Gesellschaft ist sehr konservativ geworden und von einer Kultur der männlichen Anmache geprägt. Die Straßen gehörten den Männern, und Frauen waren massiver sexueller Belästigung ausgesetzt. Das ändert sich derzeit. Freunde haben mir berichtet, dass es auf dem Tahrir-Platz, wo so viele Menschen gedrängt und dicht über viele Tage zusammen sind, keine sexuelle Belästigung gibt. Das konnte ich kaum glauben. Selbst die Männer scheinen sich in dieser euphorischen Phase zu verändern. Das sagt noch nichts darüber aus, was noch geschehen kann. Aber was derzeit auf dem Tahrir-Platz passiert, ist irre. Dort übernachten Männer und Frauen gemeinsam nebeneinander auf engstem Raum. Hier flackert auch eine tiefgreifende Veränderung in den Geschlechterverhältnissen auf. In einem Land, in dem "Ehre" und "Tugendhaftigkeit" eine sehr große Rolle spielen, Frauen keine Freunde haben sollen, Sexualität tabuisiert ist, übernachten und diskutieren plötzlich junge Menschen gemeinsam auf dem Tahrir-Platz - unter den Augen ihrer Eltern, die das sogar unterstützen. Das ist ein Ereignis, das vor wenigen Wochen noch unvorstellbar war.
Gibt es denn eine geschlechtliche Arbeitsteilung in der jetzigen Revolte, bei den Demonstrationen und auf dem Tahrir-Platz?
Bei dieser Frage ist auffällig, dass viele einen sehr vorgeprägten Blick haben. Die in den Köpfen vorherrschenden Bilder stimmen nicht mit der Realität in Ägypten überein. Ich habe die Tage einen Anruf von einer Schweizer Journalistin bekommen: Sie habe ein Bild gesehen, auf welchem Frauen die Straße sauber machen. Das war für sie ein Beweis dafür, dass Frauen mal wieder die Basisarbeit machen und Männer die großen Reden schwingen. Ich habe sie dann gebeten, mir das Bild zu zeigen. Und was war zu sehen? Es waren mehr Männer als Frauen auf dem Bild zu sehen, die die Straße sauber gemacht haben. Es herrschen vorgefertigte Bilder in den Köpfen vor - auch und besonders bei Linken, die immer noch die arabische Frau als Opfer ihrer Religion und Tradition sehen. Es ist deshalb wichtig, den eigenen Blick zu reflektieren. Männer machen die Straße sauber und bringen das Essen. Das ist derzeit die Realität auf dem Tahrir-Platz. Das ist ein wunderschöner Moment, und ich hoffe das bleibt so.
Sind gut situierte und gebildete junge Menschen die soziale Basis des Protests?
Am Anfang war der Protest in jedem Fall von der Mittelschicht getragen. Es waren diejenigen, die einen Internetzugang haben, auf Englisch und Arabisch kommunizieren können. Es waren vor allem Studenten, ähnlich wie 1968. Inzwischen sieht es anders aus. Alle Schichten der Gesellschaft bis hin zu den ärmsten Ägyptern, die nicht in Häusern, sondern in Hütten leben, haben sich der Jugendbewegung angeschlossen. Es ist eine Massenbewegung geworden: die ArbeiterInnen drohen mit Generalstreik. Es ist eine Massenbewegung, die alle Gesellschaftsschichten erfasst hat.
Der Jugend kommt vor allem die Aufgabe zu, ein säkulares Ägypten zu etablieren. Sie haben die Nase voll von autoritären Verhältnissen, nicht nur vom Staat, sondern auch von der Familie, bis hin zu den tradierten Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Mann und Frau.
Macht es Sinn, in Analogien zu denken? Tariq Ali verglich den jetzigen Umbruch mit 1848, Linke kommen mit 1968, und konservative Kräfte bemühen 1989.
Natürlich machen Vergleiche Sinn. Sicher gibt es auch andere Referenzen. In Lateinamerika, Südafrika und jetzt Nordafrika gab und gibt es auch einen Demokratisierungsprozess. 1968 gab es in gewisser Weise ja auch in Ägypten - nicht in der Form wie in den USA oder westeuropäischen Ländern, aber als Rebellion gegen den Despoten Nasser. Die Bewegung erfasste auch die Musik- und Kunstszene. Viele ägyptische Filme handeln von der Selbstbestimmung der Frau, die Musik war stark von den Beatles geprägt. Es gab zwar keine sexuelle Revolution, aber zum Beispiel veränderte sich die Kleiderordnung grundlegend. Meine Großmutter und Mutter trugen Männerröcke. Damals sprach man auch nicht von der "Ehre" der Frau. Religiosität war damals nicht mit Kleidern verbunden, wie jetzt. Ägypten ist in den letzten Jahrzehnten viel konservativer geworden als es noch Ende der 1960er war.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der konservativen Entwicklung und dem neoliberalen Weg seit dem Machtantritt Mubaraks?
Ja, ich glaube schon. Mit Mubarak und dem neoliberalen Kurs ab den 1980er Jahren hat sich viel verändert. Nassers Staatssozialismus löste sich auf, Arbeiterrechte wurden abgebaut und Lebensverhältnisse haben sich verschlechtert. Viele Menschen wurden arbeitslos. Gleichzeitig wurde die islamistische Bewegung stärker. Vor allem diese forcierte den Konservatismus. Diese Islamisierung der arabischen Welt wurde auch durch "den Westen" gefördert. Die islamfeindliche Stimmung und die Geste, viele Menschen aus dem arabischen Raum nur als Muslime wahrzunehmen, hat auch dazu geführt, dass viele zu Muslimen geworden sind. Aber auch diese Identitätsbildung wird derzeit erschüttert.
Auch viele Ägypter haben vor dem Erstarken des Islamismus Angst - auch ich. Vor allem deshalb, weil ich ausgewandert bin, weil ich vor den gesellschaftlichen Strukturen und der traditionellen Enge der ägyptischen Gesellschaft geflohen bin. Ich war nicht im engeren Sinne vom Staat verfolgt. Wenn die Muslimbrüder einflussreich werden, wird Ägypten wieder ein unerträglicher Staat werden.
Die Muslimbrüder sind derzeit nicht die stärkste Kraft, aber die am besten organisierte. Sie werden vielleicht in der politischen Öffentlichkeit etwas liberaler auftreten, aber nicht im Bereich des Privaten. Oder im Kunst- und Kulturleben. Das wissen wir aus der Vergangenheit. Auf Druck der Muslimbrüderschaft wurden bereits mehrere Bücher verboten.
Es wird also vor allem darauf ankommen, wer und wie die organisatorische Leere gefüllt wird, wenn Mubarak und das Regime abtritt?
Ja. Und bisher gibt es nur spontane Strukturen. Diese sind der jetzigen Situation angepasst. Aber was kommt danach? Die Muslimbrüder haben eine jahrzehntelange Tradition. Gleichzeitig glaube ich, dass eine Gesellschaft, die so für ihre Freiheit kämpft, wie es derzeit passiert, es auch nicht zulassen wird, dass die Muslimbrüder oder eine andere repressive Kraft regieren. Sie werden sicherlich eine Rolle spielen, aber eben nicht den Ton angeben.
Inwieweit spielt hier eine Rolle, dass sich die Jugend nach Freiheit sehnt, die Doppelmoral ablehnt und von einem strengen Moraldiskurs die Nase voll hat? Das dürfte der Muslimbrüderschaft nicht gerade in die Hände spielen ...
Vor etwa 20 Jahren war ein Kopftuch ein Zeichen für "Tugendhaftigkeit". Inzwischen ist dem nicht mehr so. 80 Prozent der Frauen tragen Kopftuch - selbst die Prostituierten auf dem Straßenstrich. Das Kopftuch hat seinen sozialen Sinn verloren. Unter der gesellschaftlichen Oberfläche hat sich viel bewegt und verändert.
Vor ein paar Jahren hatte ich auf den Mokattam, einem Berg in Kairo, eine erhellende Erfahrung. Über den Dächern Kairos schmusten junge Pärchen - mit Kopftuch. Die rigide Sexualmoral wurde in den letzten Jahren systematisch unterlaufen. Die Jugendlichen haben sich Spielräume eröffnet. Das hat auch meine wissenschaftliche Arbeit bestätigt. Jugendliche haben Sex vor der Ehe, auch One-Night-Stands. Und das Interessante ist: Sie begründen es mit dem Islam. Wenn sich zwei Jugendliche lieben wollen, dann heiraten sie für zwei Stunden oder einige Monate. Danach lassen sie sich wieder scheiden und keiner weiß davon. Die derzeitige Revolte ist auch ein Ausdruck dafür, dass die Jugend von dieser Strategie und der Doppelmoral der Gesellschaft mit ihrer Vorstellung über Frauen und Sexualität die Nase voll hat.
Ähnliches war auch 1968 der Fall - vor dem offenen und politischen Ausbruch.
Das ist interessant. Ich habe zwar nicht gewusst, dass 2011 eine derartige Rebellion stattfinden würde, für mich war aber offensichtlich, dass die angesprochene Entfaltung und Veränderung der Sexualität unter Jugendlichen etwas Ungeheuerliches und Subversives darstellt. Mein letztes Forschungsvorhaben hieß: "Islamische Sexualität als Rebellion gegen den Staat und Familienstrukturen".
Wie sieht es mit Homosexualität aus?
Auch hier bewegt sich einiges. Homosexualität ist ein Tabuthema und steht auch unter Strafe. Selbst NGOs und säkulare Kräfte haben von diesem Thema die Finger gelassen - leider. Und jetzt? Eine Freundin berichtete mir vom Tahrir-Platz, dass dort Schwule offen auftreten und Transvestiten mitfeiern.
Welche zivilgesellschaftlichen Kräfte könnten die Demokratisierung langfristig tragen?
Bisher steht nur der Sturz Mubaraks im Vordergrund. Von Gramsci haben wir gelernt, dass Parteien integrierend wirken können. Etablierte oppositionelle Parteien sind derzeit Teil des Herrschaftsapparats. Aus der Jugendbewegung werden hoffentlich neue Parteien hervorgehen. Parteien, die gut organisiert sind und relevant werden. Ähnliches gilt für die säkularen Gruppen, die nicht alles mit den Jugendlichen teilen. Auch NGOs könnten eine Rolle spielen.
Und die Gewerkschaften?
Es gibt Gewerkschaften, die aber wie die bisherigen Parteien sehr staatsnah und regimetreu sind und oft gegen die ArbeiterInnen. In den letzten Jahren gab es einige gut organisierte Streiks. Aus diesen müssten unabhängige Gewerkschaften entstehen etc. Bei den damaligen Streiks ging es allerdings nur um soziale Forderungen und höhere Löhne. Es gab keine politischen Forderungen. Also auch hier muss sich das Politische neu erfinden.
Interview: Ingo Stützle