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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 558 / 18.2.2011

Das Internet ist ein vermachteter Raum

Leitbilder, Infrastruktur und die Institutionen einer politischen Technologie

Das Internet ist nicht nur eine technologische Infrastruktur und soziale Plattform - es ist auch Terrain und Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Deutlich wird das am Beispiel WikiLeaks. Die Veröffentlichung diplomatischer Depeschen war ein Frontalangriff auf die Außenpolitik der USA und der Versuch, über "virtuelle Diplomatie" weltweit politisch Einfluss zu nehmen. Dies ist nicht der einzige Konflikt um die Macht über das Netz. Wer das Internet als vermachteten Raum verstehen will, muss die Leitbilder, Ressourcen und Institutionen in den Blick nehmen.

Die USA hatten die Hoffnung, mit dem Internet Rivalen wie China zu schwächen. Die chinesische Mittelschicht sollte über das Internet den Geist des Liberalismus aufnehmen. Diese Überlegungen scheinen ad absurdum geführt: Mit WikiLeaks nutzt eine kleine Gruppe von "super-empowered individuals" (John Robb) das Internet gegen die außenpolitischen Interessen der USA. Und es sind die autokratischen Verbündeten wie Ägypten, nicht die Rivalen der USA, die die liberalisierenden Wirkungen des Netzes zu spüren bekommen.

Das Internet kann als geographischer Raum verstanden werden - mit topographischen Verbindungen, Grenzen und Zentren. Im Anschluss an sozialwissenschaftliche Diskussionen kann dieser Raum aber auch als Ordnungsfaktor und soziales Verhältnis verstanden werden - als Machtverhältnis. Frühere Internetdiskurse betonten vor allem die Offenheit und die Möglichkeiten des Netzwerkes - die Egalität. Die soziale Realität sieht jedoch anders aus.

Das liegt vor allem an der "Knappheit" der technologischen Komponenten, die für die Funktionsfähigkeit des Internets unerlässlich sind: die Vergabe von IP-Adressen, die Zuordnung von Domainnamen und IP-Adressen, die Entwicklung technischer Standards und Protokolle. (1) Die "Knappheit" und die technische Notwendigkeit der Ressourcen ermöglichen erst die Macht- und Verfügungsverhältnisse im bzw. über das Internet.

Konflikte mit dem Potenzial, das Internet zu verändern

Aber was heißt Macht im Internet eigentlich? Laut der klassischen Definition von Max Weber ist Macht die Fähigkeit, seinen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen. Weber geht bei stabilen Formen von Macht von einer gewissen Folgebereitschaft der Beherrschten aus. Diese Bereitschaft spielt auch in Antonio Gramscis Überlegungen zur Hegemonie eine zentrale Rolle.

Gramsci verstand darunter zum einen die Zustimmung der Beherrschten zu ihrer eigenen Unterordnung. Gleichzeitig stellt Hegemonie eine sozial-politische Konstellation dar, in der Vorstellungen über Gesellschaft (Ideen) und Politik mit den politischen und gesellschaftlichen Institutionen im Einklang sind - und damit auch mit der Art und Weise, wie gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Ressourcen eingesetzt werden. Hegemonie als "Gleichgewicht" zwischen Ressourcen, Ideen und Institutionen lässt sich als Analysefolie auch auf das Internet anwenden.

Ideen. Die Entwicklung des Internets wurde wesentlich von technischen Communities vorangetrieben, die bestimmte Vorstellungen teilen. John Perry Barlows Unabhängigkeitserklärung des Internets, geschrieben in den Schweizer Bergen während des Davoser Weltwirtschaftsforums 1996, ist so legendär wie charakteristisch. Dort heißt es: "Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl ... Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe!"

Nicht minder eindeutig waren die Vorstellungen von David Clark. Zu der Art und Weise, wie sich die technischen Communities auf gemeinsame Standards einigen sollten, sagte der Architekt grundlegender Internetprotokolle: "Wir lehnen ab: Könige, Präsidenten und Abstimmungen. Wir glauben an: groben Konsens und lauffähigen Code."

Das Selbstverständnis der frühen InternetprotagonistInnen setzte auf: Regierungsferne, Staats- und Machtskepsis, Konzernkritik, freie Märkte, Selbstregulierung, egalitären Zugang zu Technologie, freie Verfügbarkeit von Informationen etc. Diese Vorstellungen werden auch heute noch von Teilen meinungsbildender InternetnutzerInnen geteilt, stehen aber im Widerspruch zu verbreiteten Ansichten darüber, welche Rolle Staaten bei der Findung und Durchsetzung von Normen im Internet spielen sollten. Die Art und Weise, wie wir über diese Dinge denken, prägt das Maß unserer Akzeptanz gegenüber Institutionen und wie Ressourcen eingesetzt werden. Daher sind Leitbilder, die in öffentlichen Diskussionen vermittelt werden, politisch so relevant.

Was legitim ist, darüber gibt es jedoch unterschiedliche Vorstellungen. Wirkungsmächtig für die Legitimität von Internetpolitiken ist gerade in Deutschland die über das gesamte politische Spektrum hinweg geteilte Auffassung, dass es eine Kategorie schädlicher Informationen gebe (etwa NS-Symbole), vor der sich die Gesellschaft schützen müsse, in dem sie strafrechtlich sanktioniert. Im Gegensatz dazu steht die US-Sicht, dass nichts und niemand einer Person die Freiheit zur Meinungsäußerung nehmen dürfe. Solche Mentalitäten beeinflussen etwa die Legitimität von Technologien, die Inhalte im Internet filtern.

Ressourcen. Das Ende-zu-Ende-Prinzip beschreibt das grundlegende architektonische Merkmal des Internets, "technische Intelligenz" so weit wie möglich bei den Endknotenpunkten zu belassen und nicht ins Netzwerk zu verlegen. Aktivitäten sollen von den "Enden", d.h. von den Computern der NutzerInnen ausgeführt werden. Das Netz dazwischen soll nur für die Weiterleitung der Datenpakete zuständig sein.

Nichtsdestotrotz gibt es einige zentrale Dienste, die technisch nur einmal vorhanden sein dürfen und können - etwa Domainnamen oder öffentliche IP-Adressen. Dies erfordert eine organisatorisch-technische Infrastruktur. Zwar bedeutet dies vor allem administrativ-technische Arbeiten, ermöglicht aber zugleich, bestimmte politische Ziele durchzusetzen.

Ein Beispiel dafür sind Domainnamen. In der öffentlichen Wirkung haben sie die Wirkung von Markennamen erlangt. Ein hoher Wiedererkennungswert erzeugt höhere Klickraten und ermöglicht dadurch ökonomische Verwertung und politische Macht. Zudem gibt es nur wenige attraktive Top-Level-Domains (TLDs) wie .com, .gov, .net und einige Länder-Codes (.uk, .ch oder .de). Den MarkeninhaberInnen ist es gelungen, Vorrang gegenüber Privatpersonen bei der Domainnamenvergabe durchzusetzen und die Einführung weiterer TLDs zu verzögern. (2)

Schon jetzt herrschen Asymmetrien im Internet

Ein weiteres Beispiel für kritische Ressourcen ist der "root zone file", dessen Kontrolle einen der Kernkonflikte in der globalen Internetpolitik ausmacht. Die Root-Datei ist eine Art zentrales Adressbuch, in dem beschrieben ist, wo die sogenannten Namensserver der TLDs liegen. Die Root-Datei selbst liegt auf 13 Root-Servern, die hauptsächlich in den USA stehen, mittlerweile aber auch als Netzwerke weltweit verteilt sind.

Regierungen und InternetnutzerInnen haben seit jeher Kritik daran geübt, dass das US-Wirtschaftsministerium die Root-Datei kontrolliert und die US-Regierung damit in der Lage wäre, TLDs aus dem Root-File zu löschen, um etwa politische, ökonomische oder militärische Ziele durchzusetzen. Aufgrund gelöschter Daten wären TLDs dann nicht mehr über ihre Domainnamen erreichbar. Eine Art Kill-Switch, ein Not-Ausschalter von "außen". Allerdings wäre in einem solchen Falle eher eine Fragmentierung des Internets zu erwarten.

Nichtsdestotrotz verdeutlichen diese Beispiele, wie technische Ressourcen zu Machtfaktoren werden können. Daher zieht jede technische Innovation, jedes architektonische Redesign des Internets sofort die Frage nach sich, welche neuen Möglichkeiten zur Einflussnahme durch die Kontrolle solcher Ressourcen entstehen.

Institutionen stellen einen sedimentierten Konsens, materialisierte Hegemonie dar und gehen meist mit der Kontrolle bestimmter Ressourcen einher. Auch zur Regulierung und Bearbeitung der oben beschriebenen knappen technischen Internetressourcen haben sich Institutionen und Organisationen herausgebildet. (3)

Zur globalen Koordinierung von Fragen der Internetregulierung wurde unter dem Dach der UN mit dem Internet Governance Forum (IGF) ein Konsultationszirkel ohne Entscheidungsbefugnis installiert. Gleichwohl haben die Debatten dazu beigetragen, den Stimmen der nicht-westlichen und zivilgesellschaftlichen Welt stärker Gehör zu verschaffen. Zudem spiegelt die Offenheit des IGF die erwähnten Ideale früher Internetgremien wider: Alle von der Internetregulation Betroffenen sollen partizipieren können. Autokratische Länder standen diesem Ansatz, der Bürgerbewegungen und AktivistInnen ein Podium bietet, von Beginn an kritisch bis ablehnend gegenüber.

Zur institutionellen Ebene gehört auch die Frage, welche Funktionen und Aufgaben einzelne Akteure wahrnehmen. Dies trifft vor allem die Internet Service Provider (ISP), also die Anbieter von Internetzugängen, bei denen sich die NutzerInnen des Internets einwählen. Die ISPs sind die Scharnierstelle zwischen individuellen NutzerInnen und dem Internet, sie sind geographisch verankert, operieren mit physikalischer Hardware, mit Servern und Leitungen, sie kennen die AnwenderInnen und ihre Aktivitäten im Netz - zumindest theoretisch. So ist es kaum verwunderlich, dass alle, die auf InternetanwenderInnen Einfluss nehmen wollen, versuchen, auf die ISPs Einfluss zu nehmen.

Inhalte-Industrie propagiert restriktive Vorstellungen

Wie kaum ein zweiter Akteur unternimmt die "Inhalte-Industrie" genau dies seit Jahren, um ihre Vorstellungen eines restriktiven Urheberrechts durchzusetzen. Die "Inhalte-Industrie" arbeitet über politische Einflussnahme, über nationale und internationale Rechtsetzung und -sprechung auf das Ziel hin, ISPs zur Mitarbeit bei der Identifizierung der Personen hinter mutmaßlich in Urheberrechtsvergehen involvierte IP-Adresse sowie bei der Kontrolle der Urheberrechtskonformität der Daten zu drängen, die durch ihre Leitungen gehen.

Konflikte. Die diskutierten drei Dimensionen würden, wenn sie über eine Zeit eine gewisse Stabilität aufweisen, eine hegemoniale Konzeption des Internets ergeben. In diesem Dreieck bewegen sich auch die üblichen politischen Akteure der Politik: Staaten, Regierungen, Parteien, ProtagonistInnen der Linken wie Rechten, die Medien, "Inhalte-AnbieterInnen" und sonstige Unternehmen, NGOs sowie Geheimdienste und Kriminelle.

Einen Einklang zwischen dem, was das Internet ist oder sein soll, Ressourcen und Institutionen gibt es derzeit nicht. Diesen gab es vielleicht für die kurze Zeit, in der es vor allem im akademischen Bereich genutzt wurde, ehe es allgemeine Verwendung fand. Die Konflikte um das Internet werden auf allen drei Ebenen ausgetragen - einige von ihnen haben das Potenzial, den Charakter des Internets nachhaltig zu verändern. Netzneutralität, Zensurinfrastrukturen, transatlantischer Datentausch, disruptive Publikationsmodelle und Inhaltskontrolle sind derzeit die Themen, die Vor- und Nachteile für Akteure in diese oder jene Richtung zu ändern.

John Perry Barlow schrieb in seiner Unabhängigkeitserklärung den Staaten ins Stammbuch: "Wir haben Euch nicht eingeladen." Die Ideen eines offenen, möglichst gering regulierten Internets, eines Internets, das als Raum für soziale Interaktion begriffen wird, nicht als mediale Abspielzone, scheint vorherrschend zu sein. Der Renaissance-Philosoph und Diplomat Machiavelli warnte seinen Fürsten vor der Eroberung von Räumen, die zuvor ihre eigenen Gesetzte hatten: "Die Erinnerung an die alte Freiheit verlässt die Bürger nie und kann sie nie ruhen lassen."

Andreas Schmidt

Anmerkungen

1) IP-Adressen ermöglichen den Transport von Datenpaketen zwischen Sender und Empfänger. Hinter einem Domainnamen, über den in einem Internetbrowser Webseiten aufgerufen werden, steckt immer eine bestimmte IP-Adresse. Auf einem Namensserver ist hinterlegt, welche IP-Adresse sich hinter welcher Domain verbirgt. Internetprotokolle (IPs) ermöglichen u.a., mit IP-Adressen Computer in einem Netzwerk miteinander zu verknüpfen - so auch im Internet.

2) Auf dem Root-Server liegt die Datei, die die Namen und IP-Adressen für die Top-Level-Domains (TLDs) und den zuständigen Nameserver gespeichert hat.

3) Die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) entscheidet über die Grundlagen der Verwaltung der Top-Level-Domains und auf diese Weise koordiniert es technische Aspekte des Internets, ohne jedoch verbindliches Recht setzen zu können - es ist eine privatrechtliche Non-Profit-Organisation nach US-Recht. Die Internet Assigned Numbers Authority (IANA) regelt u.a. die Vergabe von IP-Adressen und TLDs.