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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 559 / 18.3.2011

Aufgeblättert

Plädoyers eines Linksanwalts

Der nigerianische Student Obi Ifeobu wurde im Februar 1967 von der Polizei im Hamburger Studentenwohnheim verhaftet, sofort zum Flughafen gefahren und in seine Heimat abgeschoben, weil er an studentischen Demonstrationen, unter anderem gegen den Besuch von afrikanischen Potentaten, beteiligt war. An sein Schicksal erinnerte der Rechtsanwalt Heinrich Hannover in seinem Buch "Reden vor Gericht". Es beginnt mit dem Fall des NS-Widerstandskämpfers Willy Meyer-Buer, der wegen der Fortsetzung der Aktivitäten der verbotenen KPD angeklagt wurde, weil er 1961 als Parteiloser zur Bundestagswahl kandidierte. Als Verteidiger des Antimilitaristen Lorenz Knorr, der Hitler-Generäle Massenmörder genannt hatte, ging Hannover durch mehrere Instanzen, bis das Verfahren 1972 eingestellt wurde. Später verteidigte er Karl Heinz Roth, der 1975 auf einen Kölner Parkplatz bei einer Polizeikontrolle schwer verletzt und als Terrorist vorverurteilt wurde. Schließlich musste er freigesprochen werden. Auch die RAF-Aussteiger Astrid Proll und Peter-Jürgen Boock hat Hannover verteidigt. Über Boocks Lügen war der Anwalt so enttäuscht, dass er das vorbereitete Plädoyer nicht verlas, sondern zu den Akten legte. Seine prominentesten Fälle waren die Nebenklage im Prozess gegen den Mörder des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann und die Verteidigung von Hans Modrow im Verfahren wegen Wahlmanipulationen in der DDR. Auch einige Plädoyers in "unpolitischen" Fällen sind in dem Buch dokumentiert. Insgesamt bieten die Texte einen guten Einblick in die politische Verfasstheit dieser Gesellschaft jenseits der Sonntagsreden. Der größte Teil der Plädoyers ist auch auf einer dem Buch beigelegten CD zu hören.

Peter Nowak

Heinrich Hannover: Reden vor Gericht. Plädoyers in Text und Ton. Mit einer Audio-CD. Papyrossa-Verlag, Köln 2010. 276 Seiten, 22 EUR

Kraushaars Welt der Geheimdienste

"Wolfgang Kraushaar hält es für leichtfertig, sich damit zu beruhigen, dass nicht sein könne, was nicht sein dürfe". So heißt es im Rückentext seines neuen Buches "Verena Becker und der Verfassungsschutz". Seit September 2010 wird in Stuttgart-Stammheim gegen die ehemalige Militante der Bewegung 2. Juni und später der RAF verhandelt. Es geht um ihre Beteiligung am Anschlag auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1977. Das Buch erschien einen Monat nach Prozessbeginn. Darin zusammengetragen sind vor allem jene Erkenntnisse, die im Laufe der von Michael Buback losgetretenen Diskussion bekannt geworden sind: Er will endlich wissen, wer auf seinen Vater geschossen hat. Die Folie, die Kraushaars Vermutungen plausibel machen soll, ist aber der "Fall Schmücker". Offenbarten die Prozesse um die Aufklärung des Mordes an dem Mitglied der Bewegung 2. Juni und V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes doch die Verquickungen zwischen bewaffneter Linken und Geheimdiensten. Das ist durchaus lesenswert - auch wenn Kraushaar eingestehen muss, dass er "keine Beweise" für eine Steuerung Beckers durch den VS hat. Stattdessen spricht er von "einer begründeten Vermutung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger". Kraushaar diskreditiert seit Jahren linke Radikalität und Militanz mit der Begründung, dass sie zwangsläufig im Terrorismus enden würden. Auch sein neues Buch liegt auf dieser Linie, dieses Mal mit dem leicht variierten Motiv einer militanten Linken, die nur geheimdienstgesteuert vorstellbar sei.

mb.

Wolfgang Kraushaar: Verena Becker und der Verfassungsschutz. Hamburger Edition, Hamburg 2010. 202 Seiten, 16 EUR

Es gilt das gebrochene Wort

"Die Politiker machen doch eh, was sie wollen." Die JournalistInnen Pascal Beucker und Anja Krüger stellen das weit verbreitete Ressentiment vom Kopf auf die Füße. In ihrem materialreichen und sehr gut recherchierten Buch spüren sie den Interessen hinter politischen Entscheidungen und Projekten nach und fragen nach dem Cui bono ("Wem zum Vorteil?"). Hinter Sachentscheidungen steckt all zu oft die geballte Macht von Lobbygruppen, und "Reformen" bedeuten für gewöhnlich eine weitere Umverteilung von unten nach oben. Für Beucker/Krüger ist "verlogene Politik" vor allem die bewusste Einschränkung des Denkhorizonts und die politische Herstellung von scheinbarer Alternativlosigkeit - zugunsten bestimmter Interessen. Anhand mehrerer Politikfelder (u.a. Steuern, Arbeitsmarkt, Rente, Bildung, Gesundheit) nehmen sie die neoliberalen Lügen kenntnisreich auseinander. Auch gehen sie dem Mythos der uneigennützigen Politik nach. Dieser verblasst bei genauerer Betrachtung etwa der Parteienfinanzierung durch die Privatindustrie oder des als Drehtüreffekt bezeichneten Umstands, dass PolitikerInnen nach ihrer "aufopferungsvollen" Tätigkeit meist schnell einen gut bezahlen Platz in Unternehmen finden. "Die verlogene Politik" ist eine verdienstvolle Fleißarbeit, ein kleines Gegenwissen-Lexikon für die täglichen Talkshowrunden im Fernsehen und im Parlament. Es arbeitet aber auch dem Ressentiment gegenüber der Politik entgegen, das immer mit einer autoritären Gefahr einhergeht: der Bewunderung für eine charismatische Figur, die mit der verlogenen Politik zu brechen und "aufzuräumen" verspricht. Auch in diesem Sinne ist das Buch ein wichtiges Stück Aufklärung.

Ingo Stützle

Pascal Beucker, Anja Krüger: Die verlogene Politik. Macht um jeden Preis. Knaur-Verlag, München 2010. 301 Seiten, 8,99 EUR

Erzählung eines Toten

"Also, mein Ausgangspunkt ist, wie ich hier liege. Ein Fleck, um genau zu sein. Ein Fleck, umgeben von anderen Flecken, nämlich den verstreuten Ruinen der alten Fabrik. Das ist von mir übrig geblieben" - so beschreibt sich Branko, der Ungar, der tot in einer Pfütze liegt. Aber bevor er ganz entschwindet, will er alles aufklären. Und so kommentiert der Tote, was passiert: vom Auffinden seiner Leiche bis zum Eintreffen der verhassten Polizei, dem Abtransport im dunklen Metallsarg. Branko versucht sich zu erinnern "an das, was unser Leben gewesen sein muss. Damals, als wir noch Nomaden waren." Ein wunderbarer Roman, gleichzeitig empörend aktuell angesichts der Verweigerung des Bleiberechts für Flüchtlinge, insbesondere der Roma. Milena Magnani schildert fast brutal, aber keinesfalls zynisch die Lebensumstände einer Gruppe von Roma in einem offiziellen Lager. Sozialarbeiter, Armut, Polizei, Drogen, (häusliche) Gewalt, Verwahrlosung, Dreck - das ist der Alltag. Branko, der gerade ermordet wurde, ist ihre Hauptperson. Er, dem als Staatenlosem ein Platz in dem heruntergekommenem Romalager am Stadtrand zugewiesen wurde, wird dort keineswegs mit offenen Armen empfange. Hier gelten eigene Regeln und Autoritäten. Am schlammigen Lagerrand darf er sich niederlassen, allerdings ohne sein Gepäck, bestehend aus mehreren Kisten, die die Neugier der Kinder des Camps herausfordern. Branko muss sich ihnen erklären. Er erzählt von seinem Großvater, der vor dem Zweiten Weltkrieg einen Wanderzirkus gründet. Ein vermeintlicher Freund begeht Verrat, die Zirkusleute werden in einem KZ der Nazis ermordet, nur einer überlebt: Brankos Vater. Der allerdings versucht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, verleugnet seine Identität und beginnt ein sesshaftes bürgerliches Leben. Branko gelingt es in seiner kurzen Zeit im Camp, den Zirkus zum Leben zu erwecken, die Versprechungen, die Hoffnung, die übersprudelnde Lebensfreude und den Willen zum Unmöglichen.

Raphaela Kula

Milena Magnani: Der gerettete Zirkus. Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug. Edition Nautilus, Hamburg, 2011. 189 Seiten, 18,90 EUR