Organisieren statt jammern
Die Erwerbslosenbewegung muss sich neu ausrichten
Der Hartz-IV-Kompromiss ist ein Schlag ins Gesicht für Erwerbslose. Doch Proteste gegen die Entscheidungen fanden nicht statt. Dafür sind auch politische Fehler der Erwerbslosenbewegung verantwortlich, meint Anne Seeck. Anstatt die Betroffenen zu organisieren und kollektive Strategien für den Alltag zu erarbeiten, habe sich die Bewegung mit Appellen an Bundestag und Regierung aufgehalten. Drei Vorschläge für die Neuausrichtung der Erwerbslosenproteste.
Wie viel Hoffnung hatten KritikerInnen von Hartz IV in das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010 gesetzt. Peter Grottian schrieb einen Tag vor der Urteilsverkündung in der jungen Welt: "Die Karlsruher Richter laden die Bevölkerung nachdrücklich zum gesellschaftspolitischen Konflikt ein." DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sagte nach der Verkündung gar: "Dies ist ein guter Tag für die Kinder und Familien in Deutschland." (DGB-Pressemitteilung, 9.2.2010) Dabei hatten die Karlsruher RichterInnen gar nicht festgestellt, dass die Regelsätze zu niedrig sind, sie wollten nur ein anderes Berechnungsverfahren.
Fatale Staatsgläubigkeit in der Erwerbslosenbewegung
Seitdem wurde gerechnet. CDU und FDP kamen auf 5 Euro Regelsatzerhöhung. Sie mogelten bei der Referenzgruppe, rechneten Tabak und Alkohol raus und machten ihr Rechenverfahren nicht transparent. SPD und Grüne forderten mehr. Sie dachten wohl, die Erwerbslosen hätten vergessen, dass sie Hartz IV eingeführt hatten. Das grandiose Ergebnis des Kuhhandels sind nun fünf Euro mehr ab dem 1. Januar 2011 und drei Euro mehr ab dem 1. Januar 2012. Die Erwerbslosenbewegung sollte sich das Jammern darüber verkneifen, denn auch Teile dieser "Bewegung" (es bewegt sich ja nichts) rechneten mit.
Welche Alternativen wurden in der Erwerbslosenbewegung diskutiert? Es sind vor allem Forderungen an den Staat. Während der Debatte um die Regelsatzerhöhung gründete sich das "Krach schlagen"-Bündnis, das 80 Euro mehr für Lebensmittel forderte. Um das Anliegen zu unterstreichen, organisierte es eine bundesweite Demonstration in Oldenburg (siehe ak 555). Obwohl sich nur 3.000 Menschen beteiligten, wertete das Bündnis die Veranstaltung als Erfolg.
Zuvor hatten vor allem zwei Forderungen die Erwerbslosenbewegung geprägt: Die als "Triade 500-30-10" bekannte Forderung nach 500 Euro Eckregelsatz, Einführung der 30-Stunden-Woche und 10 Euro Mindestlohn sowie die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Auch wenn das BGE mittlerweile zweifelhafte BefürworterInnen hat (den Unternehmer Götz Werner, den Ökonom Thomas Straubhaar und den CDU-Politiker und Skifahrer Dieter Althaus), ist die mit ihr verbundene kritische Diskussion der Arbeit und des Arbeitsbegriffs eigentlich wichtig. Leider verlangt die Finanzierung des Grundeinkommens, dass die kapitalistische Wirtschaft weiter brummt, was ökologisch eine Katastrophe ist. Zudem ist die Forderung meistens nationalstaatlich gedacht. Ein gutes Leben hier auf Kosten des Klimas und der Länder der Peripherie?
Immer wieder setzen die ErwerbslosenaktivistInnen Hoffnungen in den Staat und das Parlament. Auf dem Höhepunkt der Hartz IV-Proteste 2004 entstand die WASG, die schließlich mit der Linkspartei fusionierte. Die LINKE regiert nun mit der SPD Berlin, die Hauptstadt der Erwerbslosen. Und das Berliner Bündnis "Regelsatz erhöhen jetzt!" schrieb Briefe an alle Bundestagsabgeordneten. Die zynische Rechnung bekamen sie mit der Bundestagsentscheidung zum Regelsatz präsentiert.
Die Erwerbslosenbewegung muss ihre Strategien überdenken. Der Bremer Erwerbslosenverband spricht von einer "längeren Aufbau- und Neuorientierungsphase". An einer solchen Diskussion sollten sich möglichst viele beteiligen. Jede und jeder sollte Vorschläge einbringen, aus meiner subjektiven Perspektive sind das folgende:
Alternativbewegung: Vorbild für Anti-Hartz-Proteste?
Oft fordern organisierte Erwerbslose, dass sich auch die unorganisierten Betroffenen engagieren sollen. Es werden aber keine Angebote gemacht, die für jene auch attraktiv sind. Die Erwerbslosenbewegung sollte nicht warten, dass die Betroffenen zu ihr kommen, sondern in die Stadtteile und Jobcenter gehen. In Berlin gab es Stadtteil- und Jobcenterversammlungen, in denen gemeinsam über die Probleme der TeilnehmerInnen diskutiert wurde. AktivistInnen organisierten regelmäßig "Zahltage", an denen sie gemeinsam mit Hartz IV-BezieherInnen im Jobcenter das Geld einfordern, das man ihnen versagt. Solche Kämpfe im Alltag sind wichtig. Menschen müssen Erfolge in ihrem Alltag spüren, um Mut für Proteste zu schöpfen. Das kann bereits eine erfolgreiche Begleitung zum Amt sein, in der z.B. Sanktionen zurückgenommen werden.
Auch viele Erwerbslose suchen die Schuld für ihre Lage nicht beim System, sondern bei vermeintlich Schwächeren: bei EinwanderInnen und "SozialschmarotzerInnen". Daher sind Bündnisse von Erwerbslosen, Prekären, MigrantInnen und mit diesen solidarischen Menschen notwendig, außerdem kontinuierliche Aufklärung durch politische Bildung, die die Mechanismen aufzeigt, die zu Rechtspopulismus führen. Aus der Aufklärung sollten allerdings auch eine Aktivierung und Kämpfe folgen.
Außerdem müssen Linke in der Erwerbslosenbewegung politische Alternativen zum kapitalistischen System aufzeigen. Dazu gehört auch eine Aufarbeitung des Realsozialismus, um aus den Fehlern jenes Systems zu lernen. Utopien sind wichtig, im alltäglichen Überlebenskampf aber nur bedingt hilfreich. Viele Erwerbslose wählen individuelle Strategien wie die Selbstständigkeit und Ein-Euro-Jobs. Um sie aus der Vereinzelung herauszuholen und Perspektiven aufzubauen, bedarf es bereits heute einer Gegenstruktur von unten, die ein menschenwürdiges Leben ermöglicht: anders leben - anders arbeiten - anders wirtschaften. Ein Vorbild könnten die selbstverwalteten Alternativbetriebe sein, die es in den 1970er Jahren massenhaft gab.
Sicher ist eine solidarische Alternativökonomie nicht das Allheilmittel gegen Massenerwerbslosigkeit. Aber nur mit kollektiven Organisierungsversuchen kann das individuelle Durchwurschteln überwunden werden. Darüber hinaus sind eine andere Arbeitsmarktpolitik jenseits von Niedriglohn und Beschäftigungsindustrie und jenseits der Ideologie der Vollbeschäftigung sowie eine neue Diskussion zur Kritik und zur Zukunft der Arbeit notwendig. Für die Erwerbslosenbewegung heißt das: Nehmen "wir" unser Schicksal in die eigenen Hände und wagen "wir" den kommenden Aufstand der Armen!
Anne Seeck, aktiv in den Berliner Erwerbslosenprotesten
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts beschäftigte sich Jan Ole Arps in ak 547. In ak 554 setzte sich Heiko Lanig mit der Neuberechnung der Hartz-Regelsätze auseinander und in ak 555 berichtete Albert Barney über die Erwerbslosen-Demonstration in Oldenburg.