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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 559 / 18.3.2011

Es ist der Beginn einer Revolution

Hassan Saber über die Perspektiven der ägyptischen Protestbewegung

Wie geht es weiter in Ägypten? Was folgt auf den Sturz Hosni Mubaraks? Hassan Saber arbeitet als Zahnarzt in Kairo, ist Aktivist der linken Opposition im Bündnis Kifaja ("Es reicht! "), das in den vergangenen Jahren Proteste gegen das Regime organisierte. Mit ihm sprach Jan Ole Arps über Arbeitskämpfe in Ägypten, die Perspektiven der Opposition und über die Bedeutung von Facebook und Fußball für die Protestbewegung. Hassan Saber war Ende Februar eine Woche in Deutschland; das Interview fand am 1. März in Berlin statt.

ak: Haben wir es bei den Protesten in Ägypten mit einer Revolution zu tun?

Hassan Saber: Ich glaube, es ist der Beginn einer Revolution, Teil Eins. Wir haben gewonnen, wir haben wirklich etwas erreicht. Aber wir haben noch nicht alles erreicht. Wir müssen weiter kämpfen, eine Revolution gibt es nicht geschenkt.

Könntest du etwas über die Vorgeschichte der Proteste sagen?

Im letzten Jahr fanden in Ägypten über 1.000 Streiks statt, es gab Demonstrationen für höhere Löhne. Im September 2010 protestierten in Kairo einige hundert, vielleicht tausend Menschen gegen die Pläne Mubaraks, die Macht auf seinen Sohn Gamal zu übertragen. Der Aufstand vom 25. Januar kam nicht aus dem Nichts. Es gab auch zuvor eine Opposition, nur war sie klein.

Wer ist in dieser Opposition aktiv?

Aktivisten, die in den offiziellen Gewerkschaften gearbeitet haben oder in der Studentenbewegung, aber auch Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen. Unter Mubarak hatte es diese Opposition sehr schwer, sie wurde verfolgt und unterdrückt. Trotzdem gab es sie.

Im Wall Street Journal war zu lesen, eine Handvoll junger Oppositioneller habe die Proteste am 25. Januar heimlich vorbereitet.

Das ist Unsinn. Für diesen Tag haben dutzende Gruppen mobilisiert. Eine andere beliebte Geschichte behauptet, die serbische Organisation Otpor habe die ägyptischen Aktivisten geschult. Auch das ist Quatsch, ich weiß nicht, wer dieses Märchen in die Welt setzt. Die ägyptische Revolution gehört nicht zu den US-hörigen Bewegungen wie der "orangenen Revolution" in der Ukraine oder der "Tulpenrevolution" in Kyrgisien.

Und Facebook?

Facebook spielte ebenfalls eine wichtige Rolle, die viel damit zu tun hat, dass politische Organisierung verboten war. Es gab keine Orte, an denen Unzufriedene sich treffen konnten. Also trafen sie sich bei Facebook. Während der Tage des Aufstands wurden bestehende Treffpunkte zur Infrastruktur der Opposition.

Zum Beispiel die Moscheen.

Zum Beispiel die Moscheen, aber auch die Organisationen der Fußballfans. Es gibt in Ägypten einige sehr aktive Fanclubs. Viele haben sich am Aufstand gegen Mubarak beteiligt. Ihre Organisationsstruktur und ihre Erfahrungen mit Straßenaktionen waren sehr nützlich!

Wie wichtig waren soziale Fragen?

In den ersten Tagen war die zentrale Parole "Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit". Durch die Fokussierung auf Mubarak geriet die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in den Hintergrund. Aber sie wird wiederkehren, denn die räuberische Politik der herrschenden Klasse ist ein großes Problem. Ägypten könnte ein wohlhabendes Land sein. Es hat den Suezkanal, Erdöl und Erdgas, den Tourismus - alles Quellen des Wohlstands. Mit dem Geld könnte man die soziale Ungerechtigkeit mindern, das Gesundheits- oder das Bildungssystem ausbauen. Eine bessere Regierung könnte auch zur effizienteren Nutzung der Ressourcen des Landes beitragen. So sehen es viele Ägypterinnen und Ägypter. Das sind natürlich keine sozialistischen Vorstellungen, die Idee von Arbeiterselbstverwaltung und Kontrolle der Produktionsmittel spielt bislang keine Rolle.

In den vergangenen Wochen gab es auch zahlreiche Arbeiterproteste.

Ja, aber in Ägypten gibt es keine organisierte unabhängige Arbeiterbewegung. Die offiziellen Gewerkschaften stehen im Dienst der herrschenden Klasse und werden vom Staat kontrolliert. Viele Arbeiter haben individuell an den Protesten teilgenommen, aber als organisierte Arbeiterbewegung haben sie keine zentrale Rolle gespielt. Trotzdem gab es Streiks und Arbeiterproteste, vor allem in den Textilfabriken in Mahalla al-Kubra und den Stahl- und Zementfabriken in Suez, weniger in Kairo und Alexandria. Zwei Tage vor dem Rücktritt Mubaraks nahmen die Streiks zu, Eisenbahnarbeiter traten in den Streik, die Bewegung wuchs. In diesem Moment ist Mubarak zurückgetreten! Die Arbeiterkämpfe haben die herrschende Klasse in Alarmstimmung versetzt, sie wollten unbedingt verhindern, dass sich die Arbeiter in Massen den Protesten anschließen.

Das hat den Rücktritt ausgelöst?

Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Für das Regime sah es auch so aus, dass die Bewegung aus dem Nichts kam. "Diese Leute werden schon wieder verschwinden." Doch in den Tagen vor Mubaraks Rücktritt geschahen zwei Dinge. Zum einen sind wir nicht mehr individuell, sondern in Massen zum Tahrir-Platz gezogen. Zehntausende kamen von der Universität, Zehntausende von der Ingenieursgewerkschaft, Zehntausende aus diesem und jenem Viertel Kairos. Der Regierung wurde klar, dass große Gruppen der Gesellschaft hinter dem Aufstand stehen. Zugleich häuften sich die Streiks. Diese zwei Momente haben die Armee überzeugt, dass Mubarak nicht mehr zu halten ist. Die herrschende Klasse brauchte einen neuen Repräsentanten.

Wenn du von der "herrschenden Klasse" sprichst, gehört das Militär dazu?

Es gibt die einfachen Soldaten und es gibt die Generäle, die militärische Elite. Die Armee ist nicht homogen, aber als Ganzes ist sie ein Organ des Staates. Und die militärische Elite ist Teil der herrschenden Klasse, viele ihrer Angehörigen leiten große Unternehmen.

Aber die Armee hat auch eine entscheidende Rolle in den Protesten gespielt. Sie hat nicht geschossen. Auch deshalb sind Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Stell dir vor, die Armee hätte auf uns geschossen. Eine Katastrophe! Vielleicht wäre der Aufstand weiter gegangen, aber das kann niemand sagen. Viele Menschen waren bereit zu sterben. Ich möchte nicht falsch verstanden werden, mir gefällt der Gedanke zu sterben nicht. Ich habe Kinder und möchte mit ihnen leben; ich bin kein Islamist, der sich den Märtyrertod wünscht. Aber in den Tagen, als die Regierung Kriminelle anheuerte, um uns anzugreifen, haben wir über den Tod gesprochen und wir waren bereit dafür. Wir wussten auch nicht, wie sich die Armee verhalten würde. Bis zum 2. Februar, als sie eine Massen-SMS verschickte. Ich habe die Nachricht aufbewahrt. Darin schreibt die Armee, sie werde nicht gegen "das große ägyptische Volk" kämpfen.

Kann man sagen, das Militär hat hinter den Kulissen die Fäden gezogen?

Nein, ich würde eher sagen, das Militär hat sich entschieden, die Interessen der herrschenden Klasse, nicht aber der herrschenden Elite zu wahren. Außerdem hat ihnen, denke ich, der Gedanke nicht gefallen, dass Mubaraks Sohn der nächste Präsident sein könnte. Viel wird nun von den Wahlen im Herbst abhängen.

Ist die Muslimbruderschaft eine Gefahr für die Protestbewegung?

Die Muslimbruderschaft hat erklärt, den "zivilen Staat" zu unterstützen und eine demokratische Partei zu gründen, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit. Sie wird an den Wahlen teilnehmen. Ich glaube, es ist immer gefährlich, wenn Religion und Politik vermischt werden. Wir haben das im Iran gesehen. Dort gab es 1979 nach der Revolution sehr viele progressive Kräfte, auch religiöse. Sie wurden von den fundamentalistischen Kräften mit der Zeit an den Rand gedrängt und ausgeschaltet. Wenn es zum Richtungsstreit innerhalb der Muslimbruderschaft kommt, rechne ich damit, dass die fundamentalistische Strömung gewinnt. Die Organisation folgt einer religiösen Logik, das verschafft den religiöseren Kräften einen Vorteil.

Hängt das nicht vom politischen Umfeld ab, in dem sich die Organisation bewegen muss? Religiöse Fragen haben in den Protesten bisher keine Rolle gespielt.

Deshalb müssen wir die Organisation auf eine politische Logik festnageln und dürfen uns nicht auf ihr Terrain, das religiöse Terrain ziehen lassen. Wir müssen mit der Muslimbruderschaft zusammenarbeiten; sie repräsentieren 20 Prozent der Bevölkerung, vielleicht mehr. Aber wir müssen sie anhand ihres politischen Programms beurteilen. Was denken sie über Frauen? Was über die koptischen Christen? Könnten sie z.B. einen Präsidentschaftskandidaten akzeptieren, der aus der koptischen Gemeinde kommt? Sie versuchen, unklar zu bleiben, damit sie jederzeit ihren Kurs ändern können. Genau das müssen wir verhindern.

Was vermutest du, wie wird sich die Situation in Ägypten in den nächsten Monaten entwickeln?

Ich bin Aktivist, deshalb ist es meine Aufgabe, Einfluss auf die Entwicklung zu nehmen und nicht Vermutungen anzustellen. Ich habe politische Ziele, und für die werde ich kämpfen.

Welche sind das?

Wir müssen jetzt echten demokratischen Wandel erreichen, mehr soziale Gerechtigkeit, Redefreiheit und allgemeine Menschenrechte für alle: für Muslime, Christen, Frauen, Homosexuelle. Keines dieser Ziele ist bisher erreicht.

Mit welchen Widerständen rechnest du?

Darüber denke ich nicht viel nach. Es gibt ein arabisches Sprichwort, das besagt: "Wenn du geradeaus vorwärts stürmst, wirst du deinen Gegner verwirren." Der Gegner erwartet, dass du abwartest, dich vorsichtig bewegst. Wir dürfen den Gegnern echter demokratischer Veränderungen diesen Gefallen nicht tun. Eine Lehre aus der iranischen Revolution besteht darin, dass die Linke nicht zulassen darf, dass die religiösen Kräfte die Agenda bestimmen. Wir müssen die Richtung vorgeben. Dann müssen die Religiösen sich entscheiden, ob sie mit uns kommen oder sich gegen uns stellen. Wir müssen die Chance, die sich momentan bietet, ergreifen, bevor sich die Gegenkräfte wieder sammeln können.

Wenn du wieder in Ägypten bist, was wirst du tun?

In Ägypten fehlt eine linke Partei. Es gibt zwar die Tagammu Partei, in der sich früher Sozialisten, Nationalisten und Pan-Arabisten sammelten. Doch sie ist inzwischen mit dem Regime verbandelt und für die Linke verloren. Es wäre wichtig, dass sich Linke und Unabhängige in einer oder mehreren Parteien sammeln. Außerdem müssen wir in den Gewerkschaften arbeiten. Ich bin als Zahnarzt und Tour-Guide Mitglied in zwei Gewerkschaften und versuche, mit Hilfe einer Facebook-Seite Leute zu sammeln, damit wir uns gemeinsam organisieren können, eventuell unabhängige Gewerkschaften gründen. Wir müssen aber auch in den offiziellen Gewerkschaften den Einfluss von Mubaraks Leuten zurückdrängen. Die wichtigste Aufgabe besteht zur Zeit darin, den demokratischen Prozess voranzutreiben und zu organisieren.

Ich würde gern noch einmal auf die Organisation der Proteste zurückkommen. Du sagtest, Facebook spielte eine wichtige Rolle, weil kaum andere Foren zur Kommunikation zur Verfügung standen. Wäre es möglich, dass sich in der dezentralen Organisation auch das Bedürfnis vieler Leute widerspiegelt, sich nicht durch Organisationen vertreten zu lassen, sondern ihre Interessen in die eigenen Hände zu nehmen?

Das sollten sie tun! Allerdings geht das nicht allein mit Facebook. Dass man ein Anliegen auf Facebook unterstützt, heißt nicht, dass man dafür auch auf die Straße geht. Facebook ist wichtig zur Diskussion und für den Informationsaustausch. Ein Beispiel: Der Polizeichef einer ägyptischen Region hat sich vor kurzem sehr negativ über die Proteste geäußert und die Demonstranten beleidigt. Das Video mit seiner Rede verbreitete sich dank Facebook und Email in Windeseile, und schließlich musste die Regierung ihn absetzen. Das zeigt, was Facebook bewirken kann.

Aber für dauerhafte Organisierung brauchen wir feste Organisationen, Parteien. Wer von einer Facebook-Revolution spricht, vergisst, dass nicht Facebook die Revolution gemacht hat, sondern die Leute, die Facebook nutzen. Sie protestierten weiter, als die Regierung das Internet abgeschaltet hat.

Dennoch: Wäre diese Revolution ohne Facebook möglich gewesen?

Viele Revolutionen fanden ohne Facebook statt. Aber neue Kommunikationsmittel beschleunigen gesellschaftliche Entwicklungen. Der Buchdruck hat die bürgerlichen Revolutionen in Europa beflügelt, das Fernsehen die internationale Bewegung in den 1960er Jahren. Heute spielen Bilder und Symbole eine wichtige Rolle. Facebook und YouTube sind starke Instrumente, weil man mit ihnen Bilder, Filme und Symbole teilen kann. Und sie erhöhen die Kommunikation. Das ist gut, denn wenn die Leute kommunizieren, starten sie Revolutionen.

Interview und Übersetzung: Jan Ole Arps